Emile Zola
Der Zusammenbruch
Emile Zola

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

7

Zu dieser Stunde flutete aus all den verlorenen Stellungen um Sedan herum, von Floing, von der Hochebene von Illy, vom Garennegehölz, aus dem Givonnegrunde und über die Straße von Bazeilles her ein Strom verstörter Menschen mit Pferden und Geschützen in einer mächtigen Welle gegen die Stadt zurück. Diese wurde nun, da man sich in einer unglücklichen Gedankenverbindung auf sie als einen festen Platz stützen zu können geglaubt hatte, zu einer todbringenden Falle, da sie den Flüchtlingen Schutz zu bieten schien, zu einem Heilsort bei der allgemein gewordenen Entmutigung und Panik, nach dem sich auch die Tapfersten mitreißen ließen. Hinter den Wällen dort hinten glaubten sie endlich der schrecklichen Artillerie entrinnen zu können, die seit fast zwölf Stunden brüllte; weder Gewissenhaftigkeit noch Vernunft hatten irgendwelchen Bestand mehr, das Tier gewann die Oberhand über den Menschen. Das unsinnige Gefühl, sich schleunigst ein Loch suchen zu müssen, um sich darin zu vergraben und schlafen zu können, behielt die Oberhand.

Als Maurice am Fuße der kleinen Mauer Jeans Gesicht mit frischem Wasser wusch, sah er, wie der die Augen öffnete, und stieß einen Freudenruf aus.

»Ach, mein armer Kerl, ich glaubte schon, du wärest futsch! ... Und weißt du, ich will dir ja gerade keinen Vorwurf draus machen, aber leicht bist du nicht!«

Jean war noch ganz betäubt und schien aus einem Traume zu erwachen. Dann aber mußten ihm wohl Verständnis und Erinnerung zurückkommen, denn zwei große Tränen rollten ihm über die Backen. Der gebrechliche Maurice da, den er wie ein Kind liebte und hegte, der hatte also in seiner mächtigen Freundschaft für ihn so viel Kraft in seinen Armen empfunden, um ihn bis hierher zu schleppen!

»Warte, laß mich mal deinen Kohlkopf nachsehen.«

Die Wunde war ganz unbedeutend, nur ein Riß in der behaarten Lederhaut, der stark geblutet hatte. Die vom Blut zusammengeklebten Haare hatten einen Pfropfen gebildet. Er nahm sich sehr in acht, sie nicht naß zu machen, damit die Wunde sich nicht wieder öffne.

»So, nun bist du wieder sauber, nun siehst du wieder wie ein Mensch aus... Warte mal, ich muß dir was auf den Kopf setzen.«

Und er nahm neben sich das Käppi eines gefallenen Soldaten und setzte es ihm vorsichtig auf.

»Das ist gerade deine Nummer... So, nun kann's weitergehen, jetzt sind wir ein paar feine Jungens.«

Jean stand auf und schüttelte den Kopf, um sicher zu sein, daß er in Ordnung wäre. Der Schädel war ihm nur noch etwas schwer. Es würde schon gehen. Die Zärtlichkeit einfacher Naturen packte ihn, er riß Maurice an sein Herz und erstickte ihn fast; er fand keine andern Worte als:

»Ach! mein lieber Junge, mein lieber Junge!«

Aber die Preußen kamen heran und er lief schleunigst hinter der Mauer weiter. Leutnant Rochas mit seinen paar Leuten zog sich schon weiter zurück als Bedeckung für die Fahne, die der Unterleutnant um die Stange gewickelt im Arme trug. Lapoulle, der sehr groß war, konnte, wenn er sich auf die Zehen stellte, noch über die Mauerkrone feuern. Pache dagegen hatte seinen Chassepot umgehängt; er dachte offenbar, nun wäre es genug und sie könnten erst mal essen und dann schlafen. Jean und Maurice duckten sich zusammen und beeilten sich, zu ihnen zu kommen. An Gewehren und Patronen war kein Mangel: sie brauchten sich nur zu bücken. Sie bewaffneten sich also wieder, denn Tornister und alles übrige hatten sie da oben liegen lassen, als der eine den andern auf den Buckel nehmen mußte. Die Mauer erstreckte sich bis an das Garennegehölz, und nun warf sich der kleine Trupp, der sich schon für gerettet hielt, schleunigst hinter einen Hof und gewann von dort aus den Wald.

»Ach,« meinte Rochas, der sein schönes unerschütterliches Vertrauen noch beibehalten hatte, »hier wollen wir uns einen Augenblick verpusten, und dann wollen wir wieder angreifen.«

Aber schon nach den ersten Schritten merkten alle, daß sie in eine Hölle geraten waren; zurück konnten sie nicht, ihre einzige Rückzugslinie ging trotz allem mitten durch das Gehölz durch. Um diese Zeit wurde es fürchterlich in dem Gehölz, es wurde zu einem Walde der Verzweiflung und des Todes. Die Preußen hatten bemerkt, daß die Truppen sich hier hindurch zurückzogen; sie durchlöcherten es daher mit Gewehrkugeln und bedeckten es mit Granaten. Es war, als ob ein Gewittersturm es peitschte, so brauste und heulte es in seinen Zweigen. Die Granaten brachen die Stämme ab und die Gewehrkugeln ließen einen Regen von Blättern herniederrieseln; es war, als brächen aus den zerspaltenen Stämmen klagende Stimmen hervor, und wenn die von Saft überströmten Zweige zu Boden sanken, hörte es sich an wie Schluchzen. Man hätte es für die Klagen einer gefesselten Menge halten können, für den Ausdruck der Angst und das Geschrei Tausender an den Boden genagelter Wesen, die diesem Feuer nicht entfliehen konnten. Niemals kam Angst so zum Ausdruck wie in diesem unter Feuer stehenden Walde.

Sofort kam nun die Furcht über Jean und Maurice, die ihre Waffengefährten nun wieder erreicht hatten. Es ging jetzt im hohen Unterholz dahin, und sie konnten laufen. Aber Kugeln pfiffen kreuz und quer, und es war bei diesem Von-Baum-zu-Baum-schlüpfen unmöglich, eine bestimmte Richtung mit Sicherheit anzugeben. Zwei Leute fielen, von vorn und von hinten getroffen. Vor Maurice brach eine hundertjährige Eiche, der eine Granate den Stamm durchbohrt hatte, mit der tragischen Erhabenheit eines Helden zusammen und schlug alles um sich her mit nieder. Und im selben Augenblick, als der junge Mann zurücksprang, brach links von ihm eine Riesenbuche, der eine Granate die Krone abgebrochen hatte, mit zerspaltenem Stamme wie ein geborstener Pfeiler in einer Kirche nieder. Wohin sollten sie fliehen? Wohin sich wenden? Von allen Seiten brachen Äste hernieder; es war, wie wenn einem riesigen Gebäude der Einsturz droht und die Räume nacheinander durch die zerbröckelnden Decken zu stürzen beginnen. Als sie gerade, um dem Zusammenbruch dieser Riesenstämme zu entgehen, in ein Dickicht sprangen, wurde Jean beinahe von einem Geschoß mitten entzweigerissen, das glücklicherweise nicht platzte. Dünne Ranken schlangen sich ihnen um die Schultern; hohes Kraut flocht sich ihnen um die Knöchel; mit einemmal wurden sie von undurchdringlichen Mauern von Gestrüpp festgehalten, während unter der den Wald niedermähenden Riesensichel Blätter von überallher um sie herumflogen. Wieder wurde neben ihnen ein Mann von einer Kugel mitten in die Stirn getötet und blieb mit geballten Fäusten, zwischen zwei jungen Birken eingeklemmt, aufrecht stehen. Unendlich oft fühlten sie in der Gefangenschaft dieses Dickichts den Tod an sich vorbeifliegen.

»Heiliger Gott!« sagte Maurice, »hier kommen wir nicht heraus.«

Er war leichenblaß, und mehrfach packte ihn ein Schaudern; und selbst Jean, der tapfere, der ihn am Morgen so ermutigt hatte, wurde blaß und fühlte sich eiskalt. Das war Furcht, schreckliche, unwiderstehliche, ansteckende Furcht. Abermals ergriff sie ein brennender Durst, eine unerträgliche Trockenheit im Munde, ein Zusammenschnüren der Kehle, so schmerzhaft, als würden sie erdrosselt. Nebenher ging ein Unbehagen, ein Brechreiz in der Magengrube; dazu durchbohrten ihnen Nadelstiche die Beine. Und während ihnen diese körperlichen Qualen der Furcht den Kopf zusammenpreßten, sahen sie Tausende von schwarzen Punkten umherflirren, als ob sie die vorüberfliegende Wolke von Kugeln hätten sehen können.

»Oh, diese verfluchte Geschichte!« stotterte Jean. »Es ist doch gemein, wie wir uns hier so den Schädel für andere Leute einschlagen lassen müssen, die ganz ruhig irgendwo ihre Pfeife rauchen.«

Maurice setzte ganz verstört und verwirrt hinzu:

»Ja, warum soll ich dran und nicht ebensogut jemand anders?«

Das war das Aufbäumen des Ich, der selbstsüchtige Zorn des Einzelwesens, das sich nicht für die Gattung aufopfern und zugrunde gehen will.

»Und wenn man wenigstens noch wüßte, warum!« fing Jean wieder an, »wenn man wenigstens wüßte, daß die Geschichte doch zu irgendwas gut ist!«

Dann hob er die Augen und sah nach dem Himmel:

»Und dazu will dies Schwein von Sonne auch nicht untergehen! Wenn sie weg wäre und es dunkel würde, könnte das Gefecht am Ende nicht weitergehen!«

Da er nicht wußte, wie spät es war, und ihm jeder Zeitbegriff abhandengekommen war, beobachtete er schon lange das allmähliche Sinken der Sonne, die ihm nicht von der Stelle zu rücken schien und dort hinten jenseits der Wälder am linken Ufer stille zu stehen schien. Das war auch keine Feigheit, es war ein zwingendes, immer mehr zunehmendes Bedürfnis, keine Granaten und Gewehrkugeln mehr zu hören, woandershin gehen zu können, sich dort in die Erde einzugraben und drin zu verschwinden. Nun sie ihre Selbstachtung als Mensch verloren hatten und wo kein Ruhmesglanz sie umstrahlte, wenn sie vor den Kameraden ihre Pflicht taten, verloren sie den Kopf und wären auch unbeabsichtigt im Galopp ausgerissen.

Indessen gewöhnten Maurice und Jean sich auch hieran; aus dem Übermaß ihrer Angst ging eine Art Unbekümmertheit hervor, eine Trunkenheit, die der Tapferkeit nahekam. Schließlich beeilten sie sich gar nicht mehr, durch dies verwunschene Holz hindurchzukommen. Der Schrecken nahm unter diesem Volke beschossener Bäume noch zu, die überall wie riesige Soldaten unbeweglich auf ihrem Posten verharrend tot niederbrachen. Unter dem Laubwerk, in dem köstlichen grünen Halbschatten, auf dem Grunde geheimnisvoller, mit Moos ausgekleideter Schlupfwinkel fauchte wütender Tod. Verborgene Quellen wurden durch ihn entehrt, Sterbende röchelten bis in die verlorensten Winkel hinein, wohin sich bisher nur Liebespaare gefunden hatten. Ein Mann, dem eine Kugel die Brust durchbohrt hatte, konnte gerade noch rufen: »Getroffen!« und dann fiel er tot aufs Gesicht. Einem andern waren von einer Granate beide Beine zerschmettert, aber er ahnte seine Verwundung noch gar nicht und lachte immer weiter, weil er glaubte, er habe sich nur an einer Baumwurzel gestoßen. Wieder andere, die tödlich getroffen waren, liefen mit durchbohrten Gliedern noch mehrere Meter weit und sprachen noch, ehe sie mit einem plötzlichen Zusammenschauern tot hinstürzten. Im ersten Augenblicke fühlten sie die tiefsten Wunden kaum; erst später fingen ihre schrecklichen Leiden an und machten sich in Schreien und Tränen Luft.

Ach! dies verruchte Gehölz, dieser hingemordete Wald, der sich unter dem Schluchzen vergehender Bäume allmählich mit dem heulenden Jammer der Verwundeten anfüllte! Maurice und Jean bemerkten am Fuß einer Eiche einen Zuaven, der mit heraushängenden Eingeweiden fortwährend wie ein geschlachtetes Tier schrie; weiterhin stand ein anderer in Flammen: sein blauer Gürtel brannte, die Flamme ergriff schon seinen Bart und versengte ihn; offenbar aber waren ihm die Hüften zerschmettert, er konnte sich nicht rühren und weinte heiße Tränen. Noch weiter hin lag ein Hauptmann auf der Seite, dem der linke Arm abgerissen und die rechte Seite bis auf den Schenkel aufgeschlitzt war; er richtete sich auf den Ellbogen auf und bat flehentlich mit durchdringender Stimme um den Gnadenstoß. Andere und wieder andere litten entsetzlich; sie lagen so zahlreich auf den kräuterbedeckten Pfaden umher, daß man sich in acht nehmen mußte, um beim Weitergehen nicht auf sie zu treten. Aber Verwundete und Tote zählten nicht mehr. Der Kamerad, der fiel, wurde im Stiche gelassen und vergessen. Kein Blick wandte sich mehr nach rückwärts. Das war Schicksal. Ein anderer kam dran, vielleicht man selbst.

Als sie an den Waldrand kamen, ertönte plötzlich ein Hilferuf.

»Her zu mir!«

Es war der Unterleutnant, der Fahnenträger, der eine Kugel in die linke Lunge bekommen hatte. Er war gestürzt und spie Blut aus vollem Munde. Als er sah, daß niemand sich aufhielt, hatte er noch die Kraft, sich aufzurichten und zu schreien:

»Helft der Fahne!«

Mit einem Satze war Rochas umgekehrt und hatte die Fahne gepackt, deren Stange zerbrochen war; da sagte der Unterleutnant mit leiser Stimme, und blutiger Schaum machte seine Worte undeutlich:

»Ich habe mein Teil, ich gehe ... Retten Sie die Fahne.«

Damit blieb er allein und wand sich auf dem Moose dieses entzückenden Waldwinkels; seine zusammengekrampften Hände rissen um ihn herum die Kräuter aus, und seine Brust hob ein Röcheln, das noch stundenlang dauern sollte.

Endlich waren sie aus diesem fürchterlichen Walde heraus. Mit Maurice und Jean waren von dem kleinen Trupp nur Leutnant Rochas, Pache und Lapoulle übergeblieben. Gaude, den sie aus Sicht verloren hatten, kam allein aus dem Dickicht und rannte, sein Horn umgehängt, um die Kameraden wieder einzuholen. Es war wirklich ein Trost, wieder auf der kahlen Ebene zu sein, wo man doch nach Gutdünken atmen konnte. Das Pfeifen der Kugeln hatte aufgehört und auf dieser Seite des Tales fielen keine Granaten mehr.

Unmittelbar darauf hörten sie vor dem Einfahrtstor eines Hofes lautes Fluchen und sahen einen tobenden General auf schweißbedecktem Pferde. Es war General Bourgain-Desfeuilles, ihr Brigadeführer, der selbst auch ganz mit Staub bedeckt war und von Müdigkeit zerbrochen schien. Sein dickes rotes Lebemannsgesicht drückte Verzweiflung über das Unglück aus, das er als ein ihn ganz persönlich angehendes Mißgeschick betrachtete. Seit dem Morgen hatten seine Soldaten ihn nicht mehr zu sehen gekriegt. Ohne Zweifel hatte er sich auf dem Schlachtfelde verirrt und war hinter den Resten seiner Brigade hergerannt, denn in seinem Zorne gegen die preußischen Batterien, die mit dem Kaiserreich auch seine Stellung als die eines Lieblingsoffiziers der Tuilerien hinwegfegten, hätte er es sehr wohl fertiggebracht, sich töten zu lassen.

»Gottsdonnerwetter noch mal!« schrie er. »Ist hier denn kein Mensch, kann man denn nirgends Auskunft erhalten in diesem verdammten Lande!«

Die Einwohner des Hofes mußten wohl in die Tiefe der Wilder geflüchtet sein. Schließlich erschien eine sehr alte Frau unter dem Tor, eine Art vergessene Magd, die ihre schlimmen Beine hier festhielten.

»He, Mutter! hierher! ... Wo liegt denn Belgien?«

Sie sah ihn ganz verdutzt an, und man sah es ihr an, daß sie ihn nicht begriff. Da verlor er nun jegliche Haltung; er vergaß, daß er mit einer Bäuerin sprach, und brüllte, er hätte keine Lust, sich wie ein Gimpel in der Schlinge fangen zu lassen und nach Sedan hineinzurennen, er wollte schleunigst ins Ausland auskneifen, und zwar fix! Einige Soldaten waren nähergetreten und hörten zu.

»Aber Herr General,« sagte ein Sergeant, »wir kommen ja nicht mehr durch, die Preußen stehen überall ... Heute morgen hätten wir ausreißen sollen.«

Tatsächlich liefen bereits Geschichten von Kompanien um, die von ihren Regimentern getrennt worden und, ohne es zu wollen, über die Grenze geraten waren, und von andern, die sich später tapfer einen Durchbruch durch die feindlichen Linien erzwungen hätten, ehe die Vereinigung vollständig geworden wäre.

Außer sich zuckte der General die Achseln.

»Na, kann man mit so fixen Leuten wie ihr nicht überall durchkommen, wohin man will? ... Ich möchte wohl so'n Schock tüchtige Kerls finden, denen es nicht drauf ankommt, sich den Schädel einschlagen zu lassen.«

Dann wandte er sich wieder zu der alten Bäuerin: »Na, zum Donnerwetter! Mutter, nun antworte doch mal ... Wo liegt denn Belgien?«

Diesmal hatte sie ihn verstanden. Sie streckte ihren mageren Arm nach den dichten Wäldern aus.

»Dort hinten, dort hinten!«

»Wie? Was sagst du da? ... Die Häuser, die man da hinten auf dem Felde sieht?«

»Oh, weiter, viel weiter! ... Da hinten, ganz da hinten!«

Der General erstickte plötzlich vor Wut.

»Das ist ja rein ekelhaft, so 'ne verfluchte Gegend! Nie weiß man, wie man dran ist ... Belgien lag da, so daß man Angst haben mußte, man könnte gegen seinen eigenen Willen hineingeraten; und wenn man nun hin will, dann ist's nicht mehr da ... Nein, das ist jetzt Schluß! Dann mögen sie mich fangen und mit mir machen, was sie wollen, ich leg' mich schlafen!«

Wie ein vom Zorneswind geblähter Schlauch sprang er in den Sattel, trieb sein Pferd an und jagte in der Richtung nach Sedan davon.

Der Weg wandte sich und sie stiegen jetzt nach dem Givonnegrund ab, einer zwischen hohen Abhängen eingelagerten Vorstadt, wo die Straße, von kleinen Häusern und Gärten umsäumt, zu den Wäldern hinansteigt. Augenblicklich erfüllte sie ein derartiger Strom von Fliehenden, daß Leutnant Rochas sich mit Pache und Lapoulle an der Ecke eines Platzes gegen eine Kneipe geklemmt fand. Jean und Maurice hatten große Mühe, zu ihnen zu gelangen. Sie waren alle sehr überrascht, als eine Säuferstimme sie schwerfällig anrief:

»Sieh! so'n Wiedersehen! ... Heda, ihr Sippschaft! ... Ah, wirklich, das ist doch mal ein Wiedersehen!«

Sie erkannten Chouteau, der sich in der Kneipe auf eine der Fensterbrüstungen des Erdgeschosses lehnte. Furchtbar betrunken fuhr er unter fortwährendem Rülpsen fort:

»Sagt mal, stellt euch man nicht an, wenn ihr Durst habt... Für Kameraden ist immer noch genug da.«

Mit einer unsicheren Handbewegung über die Schulter rief er jemand hinten im Zimmer heran.

»Vorwärts, du Tunichtgut... Gib den Herren da mal was zu trinken...«

Nun erschien auch Loubet, in jeder Hand eine volle Flasche, die er scherzend schwenkte. Er war nicht so betrunken wie der andere und rief mit seiner Pariser Spaßmacherstimme in dem Nasentone der Kokosmilchverkäufer an öffentlichen Festtagen:

»Ganz frische, ganz frische, wer will trinken!«

Seit sie unter dem Verwände, den Sergeanten Sapin nach der Ambulanz zu tragen, verschwunden waren, hatte sie niemand mehr gesehen. Ohne Zweifel hatten sie sich nachher verirrt und waren umhergebummelt, wobei sie nach Möglichkeit alle Winkel vermieden, wo Granaten niederfielen. Hier in dieser ausgeplünderten Kneipe waren sie dann endlich gestrandet.

Leutnant Rochas war wütend.

»Wartet nur, ihr Banditen, ich will euch picheln lehren, wenn wir andern alle um ein Haar verrecken!«

Aber Chouteau ließ sich keine Vorwürfe gefallen.

»Na, weißt du, du alter Simpel, jetzt gibt's keine Leutnants mehr, jetzt gibt es nur noch freie Männer... Die Preußen haben dir wohl noch nicht genug gegeben, daß du dich noch nach einer andern Klemme sehnst?«

Sie mußten Rochas zurückhalten, denn er wollte ihm den Schädel einschlagen. Übrigens gab sich selbst Loubet mit seinen Flaschen im Arme Mühe, den Frieden wieder herzustellen.

»Laß doch, wir brauchen uns doch nicht gegenseitig aufzufressen, wir sind doch alle Brüder.«

Und er redete Pache und Lapoulle, seinen beiden Kameraden von der Korporalschaft her, zu:

»Seit doch keine Gimpel, ihr da, und kommt herein und feuchtet euch mal den Schnabel an!«

Lapoulle zögerte einen Augenblick in dem dunklen Bewußtsein, es wäre doch schlecht, sich hier zu vergnügen, während so viele arme Teufel vor Durst verschmachteten. Aber er war so schlapp und so erschöpft vor Hunger und Durst. Plötzlich entschloß er sich doch und sprang, ohne ein Wort zu sagen, mit einem Satz in die Kneipe, wobei er Pache vor sich herstieß, der ebenfalls schweigend der Versuchung nachgab. Sie kamen nicht wieder zum Vorschein.

»Räuberbande!« wiederholte Rochas. »Man sollte sie alle erschießen!«

Jetzt hatte er nur noch Jean, Maurice und Gaude bei sich, und alle vier wurden sie nun gegen ihren Willen von dem Strome der Flüchtlinge, der die ganze Straßenbreite einnahm, dahingetrieben. Schon waren sie weit von der Kneipe entfernt. So wälzte sich die schmutzige Flut der Auflösung gegen die Gräben von Sedan hin und schlug wie die Erd- und Geröllmassen gegen die Höhen an, die ein Gewittersturm auf dem Talgrunde mit sich reißt. Von allen hochgelegenen Punkten der Umgebung, von allen Abhängen, aus jeder Geländefalte, über die Straße von Pierremont, vom Friedhofe, vom Maisfelde wie aus dem Givonnegrunde her rauschte der gleiche Schwarm in unaufhaltsam zunehmender Panik hervor. Und waren denn diese unglücklichen Leute zu tadeln, die fast zwölf Stunden unbeweglich unter dem blitzgleichen Feuer eines unsichtbaren Feindes ausgehalten hatten, gegen den sie nichts ausrichten konnten? Jetzt packten die Batterien sie von vorn, von der Seite und vom Rücken, die Schußrichtungen trafen immer mehr zusammen, je mehr sich die Truppen auf ihrem Rückzuge der Stadt näherten; das war eine Vernichtung aus dem Vollen, dies Gemetzel von Menschen in dem verdammten Loch, in das sie zusammengekehrt worden waren. Einige Regimenter des siebenten Korps, vor allem die von der Hochebene von Floing, zogen sich in ziemlich guter Ordnung zurück. Aber im Givonnegrunde gab es keinen Rang und keinen Führer mehr; verstört drängten sich die aus allen möglichen Überresten zusammengesetzten Truppen durcheinander: Zuaven, Turkos, Jäger, Infanteristen, die meisten waffenlos und in zerrissenen und schmutzigen Uniformen, mit schwarzen Händen und Gesichtern, in denen die blutunterlaufenen Augen aus ihren Höhlen traten, der Mund aufgeborsten und geschwollen von wütendem Geschimpfe. Zuweilen stürzte sich ein reiterloses Pferd in rasendem Galopp durch das Gedränge, warf die Leute über den Haufen und bahnte sich so eine Gasse durch die Menge, die noch lange unter der Einwirkung dieses Schreckens stehenblieb. Dann sausten Geschütze in wahnsinniger Gangart vorüber, aufgelöste Batterien, deren Mannschaften, wie von einer Art Trunkenheit ergriffen, alles über den Haufen jagten, ohne die Leute zu warnen. Das Getrappel der Menschenmassen nahm kein Ende, festgeschlossen, Seite gegen Seite, eine Massenflucht, in der sich jeder Hohlraum bei der gefühlsmäßigen Hast, dort hinunter, hinter eine schützende Mauer zu kommen, sofort wieder ausfüllt.

Jean hob abermals den Kopf und sah nach Westen. Trotz des dicken, von den Füßen aufgewirbelten Staubes brachten die brennenden Strahlen des Tagesgestirnes die Gesichter immer noch zum Schwitzen. Das Wetter war sehr schön, der Himmel von einem wunderbaren Blau.

»Einerlei,« wiederholte er, »es ist zu langweilig, daß dies Schwein von Sonne sich nicht entschließen kann, unterzugehen!«

Plötzlich erkannte Maurice zu seinem Schrecken in einer jungen, gegen eine Hauswand gepreßten Frau, die von dem Menschenstrome beinahe erdrückt wurde, seine Schwester Henriette. Er hatte sie schon fast eine Minute lang erstaunt angesehen. Und nun redete sie ihn zuerst an, ohne jedes Anzeichen von Überraschung.

»Sie haben ihn in Bazeilles erschossen ... Ja, ich war dabei... Und weil ich mir nun den Leichnam aushändigen lassen will, dacht' ich mir...«

Sie nannte weder die Preußen noch Weiß bei Namen. Alle Welt mußte sie verstehen. Maurice begriff sie auch tatsächlich. Er betete sie an und brach in Schluchzen aus.

»Mein armer Liebling!«

Als Henriette gegen zwei Uhr wieder zu sich kam, befand sie sich in Balan in der Küche ihr ganz unbekannter Leute; der Kopf war ihr auf den Tisch gesunken und sie weinte. Aber ihre Tränen versiegten. In diesem schwächlichen, gebrechlichen Wesen erwachte bereits die Heldin. Sie fürchtete sich vor nichts, denn ihre Seele war stark, unüberwindlich. In ihrem Schmerz dachte sie nur das eine, den Körper ihres Gatten wiederzubekommen, um ihn zu beerdigen. Ihr erster Gedanke war, einfach nach Bazeilles zurückzukehren. Aber alles redete ihr ab und wies ihr die unbedingte Unmöglichkeit nach. Schließlich verfiel sie darauf, sie wolle jemand suchen, einen Mann, der sie begleiten könnte oder der die nötigen Schritte für sie täte. Ihre Wahl fiel auf einen Vetter von ihr, der früher zweiter Direktor an der Raffinerie Générale in Chêne gewesen war, als Weiß dort noch angestellt gewesen war. Er hatte ihren Mann sehr gern gehabt und würde ihr jetzt seinen Beistand nicht vorenthalten. Vor zwei Jahren hatte er sich infolge einer Erbschaft seiner Frau auf eine schöne Besitzung zurückgezogen, die Eremitage, deren Terrassen sich nahe bei Sedan auf der andern Seite des Givonnegrundes aufbauten. Sie befand sich auf dem Wege zur Eremitage, als sie auf all diese Hindernisse stieß, die jeden ihrer Schritte lähmten und sie in Gefahr brachten, unter die Füße getreten und getötet zu werden.

Maurice, dem sie ihren Plan kurz auseinandersetzte, billigte ihn.

»Vetter Dubreuil ist stets sehr gut gegen uns gewesen ... Er wird dir schon helfen...«

Dann aber kam ihm noch ein Gedanke. Leutnant Rochas wollte ja die Fahne retten. Es war schon der Vorschlag gefallen, sie wollten sie in Stücke schneiden und jeder eins davon unter dem Hemd mitnehmen oder auch sie am Fuße eines Baumes vergraben und sich Wiedererkennungszeichen merken, nach denen man sie später wieder ausgraben könnte. Aber dies Begraben der zerfetzten Fahne wie einen Toten schnürte ihnen das Herz zusammen. Sie mußten einen andern Ausweg finden.

Maurice schlug ihnen daher vor, sie wollten sie einem sichern Mann anvertrauen, der sie verbergen und wenn nötig verteidigen werde bis zu dem Tage, an dem er sie wohlbehalten wieder abliefern könnte, und alle stimmten ihm bei. »Na!« wandte sich der junge Mann wieder an seine Schwester, »wir wollen mit dir zu Dubreuil auf die Eremitage gehen ... Ich hätte dich übrigens auch keinesfalls allein gelassen.«

Es war nicht leicht, sich aus dem Gewirre loszumachen. Schließlich gelang es ihnen aber, und sie warfen sich in einen nach links führenden Hohlweg. Aber da fielen sie in ein wahres Labyrinth von Pfaden und Gäßchen, eine ganze Stadt für sich von Gemüsezüchtereien, von Gärten und Lusthäusern und kleinen, ineinandergeschachtelten Besitzungen; all diese Pfade und Gäßchen liefen zwischen Mauern hin und bogen mit plötzlichen Wendungen um oder verliefen sich in Sackgassen: eine wunderbare Verteidigungsanlage für den Krieg aus dem Hinterhalte, mit Ecken, die zehn Mann stundenlang gegen ein ganzes Regiment hätten verteidigen können. Schon knatterten einzelne Schüsse, denn die Vorstadt beherrschte Sedan, und die preußische Garde kam von der andern Seite des Tales herüber.

Als Maurice und Henriette, denen die anderen folgten, sich erst links und dann zwischen zwei unendlich langen Mauern rechts gewandt hatten, stießen sie plötzlich auf die weit offenstehende Türe der Eremitage. Die Besitzung mit ihrem kleinen Parke stieg in drei breiten Stufen empor; auf einer dieser Stufen lag das Wohnhaus, ein großes viereckiges Gebäude, auf das ein Baumgang von hundertjährigen Ulmen zuführte. Gegenüber, durch ein enges Tal von ihm getrennt, lagen andere Besitzungen tief eingebettet am Rande des Waldes.

Beim Anblick der offenen Tür empfand Henriette eine lebhafte Unruhe.

»Sie sind nicht mehr da, sie sind sicher weggegangen.« Tatsächlich hatte Dubreuil sich am Tage vorher entschlossen, seine Frau mit den Kindern nach Bouillon zu bringen, denn er war fest von dem heraufziehenden Unheil überzeugt. Das Haus war jedoch nicht leer, denn schon von weitem hörten sie durch die Bäume hindurch heftigen Lärm. Als die junge Frau sich dann in den Baumgang hineinwagte, schreckte sie vor der Leiche eines preußischen Soldaten zurück.

»Verflucht!« rief Rochas. »Hier haben sie sich auch schon geholzt!«

Nun wollten aber alle Näheres wissen und drangen bis an das Wohnhaus vor; schon der bloße Anblick gab ihnen Auskunft: Türen und Fenster des Erdgeschosses mußten mit dem Kolben eingeschlagen worden sein, ihre Öffnungen gewährten freien Einblick in die ausgeplünderten Zimmer, aus denen die Einrichtung herausgeworfen war und am Fuße der Freitreppe auf dem Kiese der Terrasse lag. Vor allem stand da ein himmelblaues Sofa und zwölf Lehnstühle aus einem Empfangszimmer kunterbunt um einen großen runden Tisch herum, dessen weiße Marmorplatte gespalten war. Und Zuaven, Jäger, Linieninfanteristen und Marineinfanteristen liefen hinter dem Gebäude und in der Allee umher und schossen auf das kleine gegenüberliegende Gehölz jenseits des Tales.

»Herr Leutnant,« erklärte ein Zuave Rochas, »wir haben diese Drecklümmel von Preußen hier gerade dabei gefunden, als sie alles plündern wollten. Sie sehen, wir haben mit ihnen abgerechnet... Aber die Schmierfinken kommen ja mit zehn gegen einen wieder, und es wird hier wohl etwas ungemütlich werden.«

Auf der Terrasse lagen die Leichen drei anderer preußischer Soldaten. Als Henriette sie diesmal, offenbar in Gedanken an ihren toten Gatten, der auch schon dort draußen von Staub und Blut entstellt schlief, genauer ansah, da schlug eine Kugel in einen hinter ihr stehenden Baum, Jean stürzte auf sie los.

»Bleiben Sie nicht hier!... Schnell, schnell, verbergen Sie sich im Hause!«

Das Herz wollte ihm vor Mitleid zerspringen, seit er sie so verändert, so verstört vor Kummer wiedergesehen hatte, und wenn er sie sich dann so wieder vorstellte, wie sie ihm gestern als lächelndes Hausmütterchen erschienen war. Er hatte zuerst nicht gewußt, was er zu ihr sagen sollte, und wußte nicht einmal, ob sie ihn wiedererkenne. Er hätte sich für sie hingeopfert, um ihr ihre Ruhe und Fröhlichkeit wiederzugeben.

»Warten Sie auf uns im Hause... Wenn es gefährlich wird, finden wir schon Mittel und Wege, um uns da oben in Sicherheit zu bringen.«

Aber sie drückte durch eine Handbewegung ihre Gleichgültigkeit aus.

»Wozu?«

Indessen stieß auch ihr Bruder sie vorwärts, und sie mußte die Stufen hinauf und blieb dann einen Augenblick im Vorsaale stehen, von wo ihre Blicke den Baumgang übersahen. Von jetzt an wohnte sie dem ganzen Kampfe bei.

Maurice und Jean hielten sich hinter einer der ersten Ulmen. Die hundertjährigen Stämme konnten bei ihrem Riesenumfange mit Leichtigkeit zwei Mann decken. Etwas weiter war der Hornist Gaude zu Leutnant Rochas gestoßen, der eifrigst auf den Schutz der Fahne bedacht war, da er sie niemand anvertrauen konnte; er hatte sie neben sich gegen den Baum gelehnt, während er selbst feuerte. Jeder Stamm war übrigens besetzt. Von einem Ende des Baumganges bis zum andern versteckten sich Zuaven, Jäger und Marineinfanteristen hinter ihnen und streckten den Kopf nur vor, um zu schießen.

Die Anzahl der Preußen in dem kleinen Gehölz gegenüber mußte ständig zunehmen, denn ihr Feuer wurde immer lebhafter. Kein Mensch war zu sehen, höchstens das rasche Auftauchen eines Profils in dem Augenblick, wo der Mann von einem Baume zum andern sprang. Ein Landhaus mit grünen Fensterläden war ebenfalls von Schützen besetzt, deren Schüsse aus den halb offenen Fenstern des Erdgeschosses hervorbrachen. Es war ungefähr vier Uhr, das Geschützfeuer wurde langsamer und schwieg allmählich; aber hier ging das Morden weiter, als ob es sich um persönliche Streitigkeiten handelte, denn hier von diesem entlegenen Loch aus konnte kein Mensch die auf dem Donjon gehißte weiße Fahne sehen. Bis in die finstere Nacht hinein gab es so noch manche Winkel auf dem Schlachtfelde, in denen die Geschichte trotz des Waffenstillstandes weiterging, und im Givonnegrunde und den Gärten von Petit-Pont hörte man das Gewehrfeuer immer noch andauern.

So fuhren sie lange Zeit fort, sich von einer Seite des Tales nach der andern hinüber mit Kugeln zu durchlöchern. Von Zeit zu Zeit fiel ein Mann mit durchbohrter Brust, wenn er die Unvorsichtigkeit beging, sich eine Blöße zu geben. In dem Baumgange lagen drei neue Tote. Ein auf dem Gesicht liegender Verwundeter röchelte gräßlich, ohne daß irgend jemand auf den Gedanken gekommen wäre, ihn umzudrehen, um ihm den Todeskampf zu erleichtern.

Als Jean aufsah, bemerkte er plötzlich, wie Henriette, die ruhig wieder herausgekommen war, dem Armen einen Tornister als Kopfkissen unter den Kopf schob, nachdem sie ihn auf den Rücken gelegt hatte. Er lief hinzu und brachte sie ungestüm hinter den Baum, hinter dem er und Maurice Schutz gefunden hatten.

»Wollen Sie sich denn umbringen lassen?«

Sie schien gar kein Verständnis dafür zu besitzen, wie unsinnig ihre Tollkühnheit war.

»Gewiß nicht... Aber allein da drin im Vorsaale habe ich solche Angst... Ich möchte viel lieber hier draußen bleiben.«

Und sie blieb bei ihnen. Sie ließen sie sich zu ihren Füßen gegen den Stamm niedersetzen, während sie fortfuhren, ihre letzten Patronen nach rechts und links in derartiger Wut abzufeuern, daß ihnen Müdigkeit und Furcht ganz darüber vergingen. Eine gänzliche Bewußtlosigkeit kam über sie, sie handelten mit leerem Kopfe vollständig unbewußt, rein aus Selbsterhaltungstrieb.

»Sieh mal, Maurice,« sagte Henriette plötzlich, »ist das nicht ein preußischer Gardesoldat, der Tote da vor uns?«

Seit ein paar Augenblicken schon prüfte sie ganz genau eine der Leichen, die der Feind dagelassen hatte, einen dicken Burschen mit starkem Schnurrbarte, der in dem Kiese der Terrasse auf der Seite lag. Seine Pickelhaube war ein paar Schritte weiter gerollt, der Sturmriemen war zerrissen. Wirklich trug der Tote die Uniform der preußischen Garde; die dunkelgraue Hose, den blauen Rock mit den weißen Streifen und den aufgerollten Mantel umgehängt.

»Ich sage dir, das ist ganz sicher Garde... Ich habe zu Hause noch ein Bild... Und dann das Bild, das Vetter Günther uns geschickt hat...«

Sie unterbrach sich und ging, ehe sie jemand daran verhindern konnte, in ihrer ruhigen Weise auf den Toten zu. Sie beugte sich vornüber. »Die Aufschläge sind rot!« rief sie. »Ach, ich hätte darauf wetten mögen!«

Und dann kam sie wieder, während ihr ein Hagel von Kugeln um die Ohren pfiff.

»Ja, die Aufschläge sind rot, das ist schrecklich... Es ist Vetter Günthers Regiment.«

Von da an konnten weder Maurice noch Jean sie dazu bringen, sich ruhig in Deckung zu verhalten. Sie war fortwährend in Bewegung und streckte den Kopf vor, um trotz allem in einer ewigen Sorge nach dem kleinen Gehölz hinüberzusehen. Sie schossen beide immer weiter und stießen sie mit den Knien wieder zurück, wenn sie sich zu weit vorwagte. Zweifellos hielten die Preußen ihre Zahl jetzt für stark genug, um anzugreifen, denn sie zeigten sich nun, und ein ständiger Zufluß lief zwischen den Bäumen hin und her; sie erlitten schreckliche Verluste, denn die französischen Kugeln trafen alle und warfen die Leute nieder.

»Sehen Sie!« sagte Jean plötzlich, »das da ist vielleicht Ihr Vetter... Der Offizier da, der eben aus dem Hause mit den grünen Fensterläden kommt, da gegenüber.«

Tatsächlich konnten sie drüben einen Hauptmann an seinem goldgestickten Kragen und dem goldenen Adler auf seinem Helm erkennen, der in der schrägfallenden Sonne funkelte. Er war ohne Achselstücke und rief seinen Leuten, den Säbel in der Hand, mit trockener Stimme einen Befehl zu; die Entfernung war so gering, kaum zweihundert Meter, daß man seine schmalen Hüften, das rosige, harte Gesicht mit dem kleinen blonden Schnurrbarte genau erkennen konnte.

Henriette prüfte mit ihrem durchbohrenden Auge jede Einzelheit genau. »Gewiß ist er es,« antwortete sie ohne jedes Erstaunen. »Ich erkenne ihn sehr gut.«

Mit einer verrückten Gebärde nahm Maurice ihn aufs Korn.

»Unser Vetter... Ah, Gottsdonnerwetter! der soll für Weiß bezahlen.«

Aber zitternd stand sie auf und schlug den Chassepot beiseite, so daß der Schuß gegen den Himmel ging.

»Nein, nein! Nicht auf Verwandte, auf Leute, die man kennt! Das ist abscheulich!«

Dann wurde sie wieder ganz Frau und sank hinter dem Baume in sich zusammen, indem sie schluchzend vor sich hin weinte. Der Schrecken gewann die Oberhand über sie, sie war ganz Furcht und Schmerz.

Rochas dagegen war siegesgewiß. Das Feuer der paar Soldaten um ihn herum, das er mit seiner Donnerstimme belebte, hatte beim Anblick der Preußen eine derartige Kraft angenommen, daß diese sich zurückwandten und in das kleine Holz umkehrten.

»Haltet aus, Kinder, laßt nicht nach!... Ah! die Wallache, da reißen sie aus, denen wollen wir es schön heimzahlen!«

Er war fröhlich und schien von einem riesigen Vertrauen erfüllt. Niederlagen gab's gar nicht. Diese Handvoll Leute vor ihm waren für ihn die deutschen Heere, die er nach Gutdünken mit einem Stoß über den Haufen werfen konnte. Sein langer, magerer Körper mit dem langen, knochigen Gesicht, in dem die Adlernase über den heftigen und doch so gutmütigen Mund fiel, alles das drückte in einer gewissen prahlerischen Fröhlichkeit die lachende Freude des Söldners aus, der mit seiner Schönen und einer guten Flasche Wein die Welt erobert. »Bei Gott! Kinder, wir sind doch nur dazu da, sie gründlich zu verhauen ... Anders kann das ja gar nicht ausgehen. Was? das wäre ja eine merkwürdige Veränderung, wenn wir uns schlagen lassen sollten!... Wir geschlagen! Kann man sich so was vorstellen? Noch einen Stoß, Kinder, und sie reißen aus wie die Hasen!«

Er prahlte und fuchtelte dermaßen herum und war in seiner Herzenseinfalt so tapfer, daß seine Fröhlichkeit auf die Soldaten überging. Plötzlich schrie er:

»Mit Fußtritten vor den Hintern! Mit Fußtritten vor den Hintern bis an die Grenze!... Sieg! Sieg!«

Aber gerade in dem Augenblick, als der Feind sich auf der andern Seite des Tales zurückzuziehen schien, ertönte von links her furchtbares Gewehrfeuer. Wieder war es die ewige Umgehungsbewegung, eine ganze Abteilung Garde war um den Givonnegrund herumgegangen. Von nun an wurde die Verteidigung der Eremitage unmöglich; das Dutzend Soldaten, die die Terrassen noch verteidigten, befand sich zwischen zwei Feuern und war in Gefahr, von Sedan abgeschnitten zu werden. Mehrere Leute fielen, und einen Augenblick entstand eine furchtbare Verwirrung. Schon drangen die Preußen über die Parkmauer und kamen durch die Baumgänge in so großer Zahl heran, daß sich nun ein Kampf mit dem Bajonett entspann. Mit bloßem Kopf und zerrissener Weste richtete ein Zuave, ein schöner Kerl mit schwarzem Bart, ein furchtbares Blutbad an, indem er krachende Brustkörbe und weiche Bäuche durchbohrte und sein noch vom Blute des einen rotes Bajonett in den Weichen eines andern wieder abwischte; und als es abbrach, fuhr er fort, ihnen mit Kolbenhieben die Schädel einzuschlagen; schließlich, als ein Fehltritt ihn endgültig entwaffnete, sprang er einem dicken Preußen mit einem derartigen Satz an die Kehle, daß sie alle beide in tödlicher Umarmung über den Kies der Terrasse bis an die eingeschlagene Küchentüre rollten. Zwischen den Bäumen des Parkes, auf jeder Ecke des Rasens häuften andere Schlächtereien weitere Tote auf. Aber auf der Freitreppe um das himmelblaue Sofa und die Lehnstühle herum tobte der Kampf am heftigsten; hier verbrannten sich die Männer in wütendem Gedränge das Gesicht durch unmittelbar aufeinander abgefeuerte Schüsse und zerfleischten sich mit Zähnen und Nägeln, wenn ihnen ein Messer fehlte, um sich die Brust aufzuschlitzen.

Gaude mit seinem schmerzerfüllten Gesicht, das einen Kummer ausdrückte, von dem er niemals sprach, wurde nun von geradezu verrückter Tapferkeit ergriffen. Angesichts dieser letzten Niederlage, nun er ganz genau wußte, die ganze Kompanie war vernichtet und kein Mensch würde auf seinen Ruf kommen, da packte er sein Horn, setzte es an den Mund und blies mit einem solchen Sturmesatem zum Sammeln, daß es schien, als wolle er die Toten wieder auferwecken. Und die Preußen kamen, und er wankte nicht, mit voller Lunge blies er immer lauter. Ein Sturm von Kugeln warf ihn nieder, sein letzter Hauch schwang sich in einem metallenen Tone gen Himmel, so daß es schien, als schauderte der darüber zusammen.

Rochas stand ohne jedes Verständnis aufrecht und machte keine Anstalten zur Flucht. Er wartete und stammelte:

»Naja! Was ist denn? Was ist denn?«

Das ging ihm nicht in den Schädel ein, daß das hier wieder eine Niederlage war. Alles war anders geworden, selbst die Art zu kämpfen. Hätten diese Kerls auf der andern Seite des Tales nicht warten müssen, bis man sie besiegen konnte? Wozu schlug man sie tot, wenn immer mehr von ihnen kamen? Was für 'ne verfluchte Sorte von Krieg war denn das, wo sich zehn Mann zusammentun, um einen zu erschlagen, wo der Feind sich erst abends zeigt, nachdem er einen den ganzen Tag lang erst schlau durch Geschützfeuer in Verwirrung gebracht hat? Bis jetzt hatte er von dem ganzen Feldzuge noch nichts begriffen und fühlte sich nun verdutzt, betäubt, erfaßt und mitgerissen von etwas Höherem, dem er keinen Widerstand mehr leistete, obwohl er immer noch wie ein aufgezogenes Uhrwerk wiederholte: »Mut, Kinder, dort hinten winkt uns der Sieg!« Jetzt hatte er mit einer raschen Gebärde die Fahne wieder ergriffen. Das war sein letzter Gedanke, sie zu verbergen, damit die Preußen sie nicht bekämen. Obwohl die Fahnenstange zerbrochen war, geriet sie ihm doch zwischen die Beine, und er wäre fast gefallen. Kugeln pfiffen um ihn her und er fühlte den Tod nahen; da riß er das Seidentuch der Fahne ab und zerfetzte sie in der Absicht, sie zu vernichten. In diesem Augenblick traf es ihn in Hals, Brust und Beine, und er sank auf den dreifarbigen Fetzen zusammen, so daß sie ihn ganz umgaben. Eine Minute lang lebte er noch und seine weit aufgerissenen Augen sahen vielleicht am Horizont das wirkliche Bild des Krieges emporsteigen, den wilden Kampf ums Dasein, den man nur mit ergebenem, ernstem Herzen auf sich nehmen darf wie ein Gesetz. Dann überfiel ihn ein leichtes Schlucken und er ging in seiner kindlichen Bestürzung hinüber, das arme, beschränkte Geschöpf, das er war, wie ein sich des Lebens erfreuendes Insekt, das die Notwendigkeit der gewaltigen, empfindungslosen Natur vernichtet. Mit ihm verschwand eine Sagengestalt. Sowie die Preußen kamen, hatten Jean und Maurice sich von Baum zu Baum zurückgezogen und schützten Henriette so gut wie möglich zwischen sich. Sie hörten nicht auf zu schießen, sie feuerten und suchten dann neue Deckung. Maurice wußte oben im Park eine kleine Pforte, die sie auch zufällig offen fanden. Rasch schlüpften sie alle drei hinaus. Sie gerieten in einen engen Verbindungsgang, der sich zwischen zwei hohen Mauern hinschlängelte. Aber als sie ans Ende kamen, ließen ein paar Schüsse sie sich nach links in ein anderes Gäßchen werfen. Das Unglück wollte, daß dies eine Sackgasse war. Im Sturmschritt mußten sie zurück und sich unter einem Hagel von Kugeln nach rechts wenden. Später konnten sie sich unmöglich auf den Weg besinnen, den sie eingeschlagen hatten. An jeder Mauerecke dieses unentwirrbaren Netzes schoß man sich noch herum. Unter den Durchfahrten gab es so immer noch einzelne Gefechte, die geringsten Vorsprünge wurden verteidigt und mit entsetzlicher Erbitterung im Sturme genommen. Plötzlich aber kamen sie nahe bei Sedan auf die aus dem Givonnegrunde führende Straße.

Jean hob noch ein letztes Mal den Kopf, um nach Westen zu sehen, wo die Sonne in rosiger Glut unterging; und dann stieß er endlich einen Seufzer unendlicher Erleichterung aus.

»Ach, dies Schwein von Sonne, endlich geht sie unter!«

Alle drei rannten sie übrigens und rannten, ohne Atem zu holen. Um sie her brauste das letzte Ende des Flüchtlingsschwarmes über die ganze Breite der Straße in immer zunehmendem Gedränge wie ein ausgeuferter Wildbach dahin. Als sie an das Tor von Balan kamen, mußten sie mitten in einem wüsten Gedränge warten. Die Ketten der Zugbrücke waren gebrochen und nur der Fußgängerlaufsteg benutzbar geblieben; Geschütze und Pferde konnten daher überhaupt nicht hinüber. An dem Ausfallpförtchen am Schlosse und am Cassinetor wäre das Gedränge noch entsetzlicher, hieß es. Es war, als wollte sich alles wie toll in einen Abgrund stürzen, wie so die Bruchstücke des Heeres von allen Abhängen sich herniederwälzten und auf die Stadt warfen; mit dem Gebrause einer geöffneten Schleuse stürzten sie in sie hinein wie in die Tiefe eines Kanals. Die verhängnisvolle Anziehungskraft der Mauern verdrehte auch den Tapfersten den Kopf.

Maurice hatte Henriette in die Arme genommen; er zitterte vor Ungeduld.

»Sie werden doch wenigstens das Tor nicht schließen, ehe alle hinein sind!«

Das fürchtete die ganze Menge. Rechts und links lagerten sich indessen schon Soldaten auf den Abhängen; und in den Gräben scheiterten Batterien, Munitionswagen und Pferde in wirrem Durcheinander.

Aber öfter und öfter riefen jetzt Hörner zum Appell, und bald folgte klar das Zeichen zum Rückzuge. Die noch zögernden Soldaten wurden zurückgerufen. Manche kamen auch im Laufschritt heran, vereinzelte Schüsse ertönten in der Vorstadt seltener und seltener. Auf den innern Brustwehren wurden noch Abteilungen zur Verteidigung der Außenwerke gelassen; dann wurde das Tor endlich geschlossen. Die Preußen waren keine hundert Meter mehr entfernt. Man sah sie auf der Straße nach Balan hin und her gehen und ganz ruhig Häuser und Gärten besetzen.

Maurice und Jean, die Henriette vor sich herschoben, waren unter den letzten nach Sedan hineingekommen. Es schlug sechs Uhr. Das Geschützfeuer hatte schon seit fast einer Stunde aufgehört. Allmählich schwiegen auch die vereinzelten Gewehrschüsse. Und dann blieb von all dem betäubenden Lärm, dem scheußlichen, seit Sonnenuntergang grollenden Donner nichts als das Schweigen des Todes. Die Nacht kam und senkte sich düster in schauervollem Schweigen herab.


 << zurück weiter >>