Emile Zola
Der Zusammenbruch
Emile Zola

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4

Auf der Straße nach Balan konnte Henriette zunächst noch mit raschem Schritt vorwärtskommen. Es war kaum neun Uhr; die breite, von Häusern und Gärten eingefaßte Straße war einstweilen noch leer; aber je näher der Vorstadt, desto mehr wurde sie von flüchtenden Einwohnern und Truppenbewegungen gesperrt. Bei jeder neuen Menschenmasse drückte sie sich an die Mauern und kam so doch gleitend weiter vorwärts. Winzig und unscheinbar in ihrem dunklen Kleide, mit ihren blonden Haaren und dem kleinen, unter dem schwarzen Spitzentuche halb verschwindenden Gesicht entging sie allen Blicken, und nichts hielt ihren raschen, schweigenden Gang auf.

In Balan verlegte aber ein Regiment Marineinfanterie ihr den Weg. Die fest zusammengeschlossene Menschenmasse wartete im Schutze deckender Baume auf Befehle. Sie stellte sich auf die Fußspitzen, konnte aber kein Ende absehen. Nun versuchte sie sich ganz klein zu machen, um sich so durchzuschmuggeln. Die Ellbogen stießen sie zurück und sie fühlte Gewehrkolben in der Seite. Aber als sie eine Anzahl Schritte gemacht hatte, erhoben sich laute Einwendungen. Ein Hauptmann drehte sich um und wurde wütend.

»He! Frau, sind Sie verrückt? ... Wo wollen Sie hin?«

»Ich will nach Bazeilles.«

»Was? Nach Bazeilles?«

Allgemeines Lachen ertönte. Sie zeigten unter lauten Scherzen auf sie. Der Hauptmann fühlte sich ebenfalls belustigt und entgegnete ihr:

»Nach Bazeilles, Kleine, da könnten Sie uns wohl mitnehmen! ... Bis jetzt waren wir drin und ich hoffe auch, wir kommen wieder hinein; aber ich sage Ihnen vorher, kalt ist's da nicht.«

»Ich will in Bazeilles meinen Mann suchen«, erklärte Henriette mit ihrer sanften Stimme, wobei ihre hellblauen Augen ruhige Entschlossenheit erkennen ließen.

Das Lachen verstummte; ein alter Sergeant machte sie frei und zwang sie zum Umkehren.

»Mein armes Kind, Sie sehen doch, es ist nicht möglich, hier durchzukommen ... Das ist nichts für eine Frau, gerade jetzt nach Bazeilles zu gehen ... Sie werden Ihren Mann später schon wiederfinden. Kommen Sie, seien Sie vernünftig!«

Sie mußte nachgeben und blieb still stehen; alle Augenblicke stellte sie sich auf die Fußspitzen, um in die Ferne zu sehen, denn ihr Entschluß, ihren Weg fortzusetzen, stand bei ihr fest. Was sie um sich herum erzählen hörte, diente ihr als Auskunft. Die Offiziere klagten bitter über den Rückzugsbefehl, der sie um ein Viertel nach acht zur Aufgabe von Bazeilles zwang, als General Ducrot, der Nachfolger des Marschalls, es für angezeigt hielt, die gesamten Truppen auf der Hochebene von Illy zusammenzuziehen. Das Schlimmste war, daß das erste Korps sich zu früh zurückzog und den Deutschen den Givonnegrund überließ, so daß das zwölfte Korps, das schon heftig von vorn angegriffen wurde, auch in der linken Seite entblößt wurde. Nachdem aber jetzt General Wimpffen auf General Ducrot gefolgt war, wurde der erste Plan wieder aufgenommen, und es kam Befehl, Bazeilles, koste es was es wolle, wiederzunehmen und die Bayern in die Maas zu jagen. War das nicht verrückt, ihnen erst eine Stellung zu überlassen, die man jetzt wiedernehmen mußte? Sie wollten sich wohl totschlagen lassen, aber wahrhaftig doch nicht zum Spaß.

Es entstand ein mächtiges Gedränge von Menschen und Pferden. General Wimpffen erschien; in den Steigbügeln stehend, rief er in höchster Erregung mit glühendem Gesicht:

»Freunde, wir können nicht zurückgehen, das bedeutete das Ende ... Wenn wir uns aber doch durchschlagen müssen, gehen wir über Carignan und nicht über Mézières ... Aber wir werden siegen, ihr habt sie heute morgen schon geschlagen, und jetzt werdet ihr sie wieder schlagen!«

Im Galopp entfernte er sich auf einem nach La Moncelle führenden Wege. Es lief das Gerücht, er hätte eine heftige Auseinandersetzung mit General Ducrot gehabt, jeder hätte auf seinem Plane bestanden und den des andern bekämpft, der eine hätte erklärt, der Rückzug über Mézières wäre schon am Morgen undurchführbar gewesen, der andere hätte geweissagt, wenn sich nicht alles auf der Hochebene von Illy zusammenzöge, würde das Heer vor Abend noch eingeschlossen sein. Und sie warfen sich gegenseitig vor, sie kennten weder das Land noch die wirkliche Lage der Truppen. Das Schlimmste war, daß alle beide recht hatten.

Aber seit ein paar Augenblicken fand sich Henriette von ihrer Eile, vorwärts zu kommen, abgelenkt. Sie erkannte am Straßenrande zusammengebrochen eine ganze Familie aus Bazeilles, arme Weber, Vater, Mutter und drei Mädchen, von denen das älteste erst neun Jahr alt war. Sie waren zerschlagen, so von Müdigkeit und Verzweiflung erschöpft, daß sie nicht weiter konnten und gegen eine Wand gesunken waren.

»Ach liebe Dame,« wiederholte die Frau zu Henriette, »wir haben nichts mehr ... Sie wissen, unser Haus stand auf dem Kirchenplatz. Da steckte eine Granate es in Brand. Ich weiß nicht, wie die Kinder und wir selbst davongekommen sind ...« Bei dieser Erinnerung fingen die drei kleinen Mädchen wieder an zu weinen und zu schreien, während die Mutter sich unter halbverrückten Gebärden in Einzelheiten erging.

»Ich sah unsern Webstuhl wie einen Haufen trockenes Holz brennen ... Das Bett und die Sachen flammten schneller auf als eine Handvoll Stroh ... Und die Uhr, jawohl, nicht mal so viel Zeit hatte ich, daß ich die Uhr auf dem Arme mitnehmen konnte.«

»Himmeldonnerwetter!« fluchte der Mann, dem die Augen voll dicker Tränen standen, »was soll nun aus uns werden?«

Um sie zu beruhigen, sagte Henriette zu ihnen schlicht mit etwas zitteriger Summe:

»Sie sind doch alle beide gesund und wohlbehalten beieinander und haben noch ihre kleinen Mädels: was klagen Sie denn da noch?«

Dann fragte sie sie aus und wollte wissen, wie es in Bazeilles zuginge, ob sie ihren Mann gesehen hätten und wie ihr Haus ausgesehen hätte. Aber sie zitterten vor Furcht und ihre Aussagen widersprachen sich. Nein, Herrn Weiß hatten sie nicht gesehen. Eins der kleinen Mädchen schrie dazwischen, sie hätte ihn aber doch gesehen, auf dem Fußwege, mit einem großen Loch mitten vor der Stirn; ihr Vater gab ihr eine Ohrfeige, um sie zum Schweigen zu bringen, weil sie ganz sicher löge, wie er meinte. Das Haus, ja, das hatte noch gestanden, als sie geflohen wären; sie erinnerten sich sogar, im Vorbeilaufen gesehen zu haben, daß Fenster und Türen sorgfältig geschlossen gewesen wären, als ob keine Seele mehr drin wäre. Zu der Zeit hätten die Bayern übrigens auch erst den Kirchenplatz besetzt gehabt und hätten den Ort, Straße für Straße, Haus bei Haus, erkämpfen müssen. Allein sie wären wohl vorwärts gekommen, denn jetzt brannte sicher schon ganz Bazeilles. Und so fuhren die unglücklichen Leute fort, ihre Geschichte zu erzählen, und beschworen mit ihrem vor Furcht unsicher gewordenen Gebärden dies gräßliche Gesicht wieder herauf, wie die Dächer flammten, das Blut in Bächen floß und Tote die Erde bedeckten.

»Und mein Mann?« fragte Henriette wieder.

Sie antworteten nicht mehr, sondern schluchzten nur noch zwischen den gefalteten Händen. Da hielt sie sich in grausiger Angst, aber ohne schwach zu werden, aufrecht; nur ihre Lippen bewegte ein leichtes Zittern. Was sollte sie glauben? Was nutzte es, daß sie sich einredete, das Kind hätte sich getäuscht; sie sah ihren Mann doch mit von einer Kugel durchbohrter Stirn auf der Straße liegen. Dann beunruhigte sie wieder dies völlige Abgeschlossensein ihres Hauses; warum? War er denn nicht mehr da? Die Gewißheit, daß er getötet sei, ließ ihr Herz mit einem Schlage zu Eis erstarren. Aber vielleicht war er nur verwundet; und der Drang, zu ihm zu gehen, dort zu sein, ergriff sie wiederum so gewaltig, daß sie aufs neue versucht hätte, sich ihren Weg zu bahnen, wenn nicht in diesem Augenblick die Hörner das Zeichen zum Vorrücken gegeben hätten.

Viele dieser jungen Mannschaften kamen aus Toulon, Rochefort oder Brest, waren nur kurz ausgebildet und hatten noch keinen Schuß abgefeuert; seit heute morgen aber schlugen sie sich mit der Tapferkeit und Festigkeit alter Soldaten. Sie, die von Reims bis Mouzon unter der Last des Ungewohnten so schlecht marschiert waren, zeigten jetzt vor dem Feinde um so besser Manneszucht und schienen um so fester durch ein brüderliches Band von Pflicht und Selbstverleugnung verbunden. Die Hörner brauchten nur zu ertönen, und sie kehrten ins Feuer zurück, sie nahmen den Angriff wieder auf, wenn ihre Herzen auch von Zorn geschwellt waren. Dreimal war ihnen eine frische Division zu ihrer Unterstützung versprochen worden und kam nicht. Sie fühlten sich verlassen, hingeopfert. Das Leben eines jeden von ihnen wurde verlangt, indem sie so wieder nach Bazeilles hineingeschickt wurden, nachdem sie es vorher hatten aufgeben müssen. Und das wußten sie und gaben ihr Leben doch ohne Widerspruch hin; sie schlossen ihre Reihen und traten hinter den schützenden Bäumen hervor, um aufs neue gegen die Kugeln und Granaten vorzustürmen.

Henriette entrang sich ein tiefer Seufzer der Erleichterung. Endlich gingen sie vor! Sie folgte ihnen und hoffte mit ihnen hineinzukommen, sie wollte laufen, wenn sie liefen. Aber sie mußten schon wieder halten. Jetzt regnete es Geschosse, und um Bazeilles wieder zu besetzen, wurde es notwendig, jeden Meter Weges zu erkämpfen, jedes Gäßchen, jedes Haus, jeden Garten rechts und links zu erobern. Die ersten Reihen hatten das Feuer eröffnet, es ging aber nur sprungweise weiter, die geringsten Hindernisse verursachten den Verlust langer Minuten. So würde sie nie hinkommen, wenn sie so hintenan bliebe und auf ihren Sieg wartete. Entschlossen warf sie sich rechts zwischen zwei Hecken auf einen nach den Wiesen hinunterführenden Pfad.

Henriettes Plan war jetzt, Bazeilles über die weiten, die Maas einfassenden Wiesen zu erreichen. Übrigens war sie sich über das Wie selbst noch nicht ganz klar. Plötzlich blieb sie am Rande eines kleinen unbeweglichen Meeres stehen, das ihr auf dieser Seite den Weg versperrte. Das war die Überschwemmung, die Verwandlung des tiefliegenden Geländes in einen See zu Verteidigungszwecken, und an die hatte sie gar nicht gedacht. Einen Augenblick wollte sie umkehren; dann setzte sie ihren Weg fort auf die Gefahr hin, ihre Schuhe dabei einzubüßen, und ging in dem feuchten Gestrüpp, in dem sie bis an die Knöchel einsank, am Rande hin. Etwa hundert Meter weit war das durchführbar. Dann stieß sie auf eine Gartenmauer; hier senkte sich das Gelände, und das Wasser schlug ungefähr zwei Meter tief gegen die Mauer. Keine Möglichkeit, durchzukommen. Ihre kleinen Fäuste ballten sich; mit aller Kraft mußte sie sich straff halten, um nicht in Tränen zu vergehen. Nach dem ersten Anfall ging sie an der Einfriedung entlang und fand schließlich einen zwischen den zerstreut liegenden Häusern hindurchlaufenden Pfad. Diesmal hielt sie sich für gesichert, denn sie kannte dies Labyrinth, dies Gewirr verschlungener Pfade, dessen Knäuel sich schließlich am Ende des Ortes wieder entwirrte.

Dort aber fielen Granaten nieder. Ganz blaß und taub blieb Henriette nach einem entsetzlichen Krach wie erstarrt stehen, als der Luftdruck sie umwehte. Wenige Meter vor ihr war ein Geschoß geplatzt. Sie wandte den Kopf und beobachtete die Höhen auf dem linken Ufer, von wo der Rauch der deutschen Geschütze aufstieg; nun wurde ihr die Lage klar und sie setzte, die Augen auf den Horizont gerichtet, ihren Weg fort und spähte nach den Granaten aus, um ihnen ausweichen zu können. Trotz aller verrückten Tollkühnheit führte sie ihr Unternehmen doch mit großer Kaltblütigkeit durch, mit all der ruhigen Tapferkeit, deren ihre gute, kleine Hausfrauenseele fähig war. Sie wollte sich nicht umbringen lassen, sie wollte ihren Mann wiederfinden, ihn mitnehmen und glücklich mit ihm weiterleben. Die Granaten fielen ununterbrochen, sie glitt an der Mauer entlang, warf sich hinter Ecksteinen nieder und nutzte die geringsten Schutzmöglichkeiten aus.

Aber da kam ein ungedeckter Zwischenraum, wo eine Strecke des Weges schon durch einschlagende Granaten aufgewühlt war; hier blieb sie hinter der Ecke eines Schuppens stehen, als sie vor sich am Rande einer Art Grube den Kopf eines Jungen bemerkte, der sich die Sache ansah. Es war ein zehnjähriger kleiner Kerl mit nackten Füßen, nur mit einem Hemd und einer zerlumpten Hose bekleidet, ein richtiger Straßenjunge, dem die Schlacht großen Spaß machte. Seine kleinen schwarzen Augen funkelten, und bei jedem Krach schrie er vor Vergnügen laut auf.

»Oh, sind sie ulkig! ... Nicht rühren, da kommt wieder eine an! ... Bumm! Hat die aber gepupt! ... Nicht rühren, nicht rühren!«

Bei jedem Geschoß tauchte er so auf den Boden seines Loches nieder, kam wieder hoch, streckte seinen Kopf über den Rand, pfiff wie ein Vogel und verschwand wieder.

Nun bemerkte Henriette, daß die Granaten nur vom Liry herüberkamen, während die Batterien bei Pont-Maugis und Noyers nur auf Balan feuerten. Bei jeder Entladung sah sie ganz deutlich den Rauch; dann hörte sie fast sofort das Pfeifen und das darauffolgende Bersten. Dann gab es jedesmal einen Augenblick Ruhe, und langsam zergingen leichte Rauchwölkchen.

»Die nehmen sicher einen!« schrie der Kleine. »Schnell, schnell, geben Sie mir die Hand, wir wollen auswichsen!«

Er packte ihre Hand und zwang sie, mit ihm zu laufen; Seite an Seite rannten sie so beide mit gekrümmten Rücken über den freien Zwischenraum. Als sie sich an seinem Ende hinter einen Heuschober warfen und sich umdrehten, sahen sie gerade wieder eine Granate kommen und genau auf den Schuppen fallen, auf die Stelle, wo sie eben noch gestanden hatten. Der Lärm war furchtbar und der Schuppen brach in sich zusammen.

Das fand der Bengel höchst spaßig und fing vor Freuden an wie besessen herumzutanzen.

»Bravo! da gibt's aber Brennholz!... Was? einerlei, Zeit war's doch!«

Aber zum zweiten Male stieß Henriette auf ein unübersteigbares Hindernis, eine Gartenmauer ohne jeden Durchgang. Ihr kleiner Gefährte lachte immerfort und meinte, wenn sie nur wollten, würden sie schon hinüberkommen. Er kletterte auf die Mauer hinauf und half ihr dann nach. Sie sprangen wieder herunter und befanden sich in einem Gemüsegarten zwischen Erbsen- und Bohnenbeeten. Überall neue Einfriedungen. Um herauszukommen, mußten sie durch ein niedriges Gärtnerhaus gehen. Er ging pfeifend und die Arme schlenkernd voran und ließ sich durch nichts verblüffen. Er stieß eine Tür auf, stand in einer Kammer und ging weiter in eine andere, in der eine alte Frau stand, offenbar die einzige zu Hause gebliebene Seele. Sie schien ganz verdutzt, wie sie so neben dem Tische stand. Sie sah diese beiden ihr ganz unbekannten Menschen durch ihr Haus gehen, sagte aber kein Wort zu ihnen, und die redeten sie auch nicht an. Sie traten bereits auf der andern Seite in ein kleines Gäßchen hinaus, dem sie einen Augenblick folgen konnten. Dann boten sich neue Schwierigkeiten, und so ging es fast einen Kilometer weit über Mauern hinweg, durch Hecken hindurch, alle möglichen Richtwege, durch Türen von Schuppen und Fenster von Wohnungen, wie der Zufall ihnen gerade einen Weg bahnte. Hunde heulten, und fast wären sie von einer Kuh umgerannt worden, die in wütender Jagd davonsauste. Sie mußten aber doch wohl näher herankommen, Brandgeruch schlug ihnen entgegen, große rötliche Wolken verhüllten alle Augenblicke wie leicht schwebende Schleier die Sonne.

Mit einem Male blieb der Junge stehen und pflanzte sich vor Henriette auf.

»Sagen Sie mal, meine Dame, wo wollen Sie denn eigentlich hin?«

»Das siehst du doch, ich gehe nach Bazeilles.«

Er pfiff und lachte laut auf wie ein Taugenichts, der die Schule schwänzt und recht vergnügt ist.

»Nach Bazeilles ... Ach ne! das ist nichts für mich ... Ich geh' woandershin! n' Abend auch!«

Er drehte sich auf den Hacken um und ging wie er gekommen war, ohne daß sie hätte sagen können, wo er herkam oder wo er hinging. In einem Loche hatte sie ihn gefunden und an einer Mauerecke verlor sie ihn aus den Augen; nie sollte sie ihn wiedersehen.

Als sie nun allein war, empfand sie ein eigenartiges Angstgefühl. Dieser schwatzhafte Junge war ihr ja kaum ein Schutz gewesen; aber mit seinem Gerede betäubte er sie. Nun zitterte sie, trotzdem sie von Haus aus doch so mutig war. Es fielen keine Granaten mehr; die Deutschen hatten ihr Feuer auf Bazeilles eingestellt, da sie zweifellos befürchteten, ihre eigenen Leute zu treffen, die jetzt Herren von Bazeilles waren. Aber seit ein paar Minuten hörte sie Kugeln pfeifen; es war ihr erzählt worden, sie summten wie große Fliegen, und daran erkannte sie sie. In der Ferne erschallte ein so wütendes Getöse, daß sie bei der Heftigkeit des Lärmes selbst das Gewehrfeuer nicht klar unterscheiden konnte. Als sie um eine Hausecke bog, hörte sie dicht neben ihrem Ohr ein mattes Geräusch, dem das Herabrieseln von Putz folgte, so daß sie wie angewurzelt stehenblieb: eine Kugel hatte neben ihr eine Kante aus dem Hause herausgeschlagen, und sie blieb ganz blaß stehen. Ehe sie sich dann noch fragen konnte, ob sie wohl Mut genug habe, um weiter vorzudringen, empfand sie etwas wie einen Hammerschlag vor die Stirn und fiel betäubt in die Knie. Eine zweite Kugel war abgeprallt und hatte sie etwas über der linken Augenbraue gestreift, hinterließ aber nur eine starke Quetschung. Als sie die Hände von der Stirn wieder wegnahm, waren sie rot von Blut. Sie fühlte indessen mit den Fingern, daß der Schädel noch heil und fest sei, und sagte ein paarmal ganz laut, um sich wieder Mut zu machen:

»Das ist ja nichts, das ist ja nichts ... Paß mal auf, ich habe keine Angst, nein! ich habe keine Angst...«

Und das war wahr, sie schritt von jetzt an durch den Kugelregen mit der Unbekümmertheit eines gänzlich von allem losgelösten Wesens dahin, das überhaupt nicht mehr überlegt, das einfach sein Leben dahingibt. Sie suchte sich auch gar nicht mehr zu schützen, sondern ging erhobenen Hauptes geradeaus, und wenn sie sich beeilte, geschah es bloß, um rascher hinzukommen. Rund um sie herum schlugen Geschosse ein; sehr oft hätte sie getötet werden können und schien es gar nicht zu bemerken. Ihre leichtfüßige Eile, die ihr eigene Geschäftigkeit einer schweigsamen Frau schienen ihr zu Hilfe zu kommen und sie in ihrer zarten Gebrechlichkeit durch die Gefahr zu geleiten, so daß sie ihr entging. Endlich war sie in Bazeilles und schlug einen Richtweg durch ein Kleefeld ein, um wieder auf ihren Weg, die große, durch den ganzen Ort laufende Straße zu kommen. Als sie in diese einbog, sah sie rechts vor sich, in etwa zweihundert Metern, ihr Haus brennen, ohne daß sie bei dem hellen Sonnenschein Flammen entdecken konnte; das Dach war schon halb eingebrochen und die offenen Fenster spien Wirbel von schwarzem Rauch aus. Da riß es sie wie rasend vorwärts und sie lief, daß ihr der Atem ausging.

Seit acht Uhr war Weiß hier eingeschlossen gewesen, von den sich zurückziehenden Truppen getrennt. Mit einem Schlage war ihm nun der Rückweg nach Sedan unmöglich gemacht, denn die aus dem Park von Montivillers hervorbrechenden Bayern schnitten ihm seine Rückzugslinie ab. Er war mit seinem Gewehr und den ihm verbliebenen Patronen ganz allein, als er vor seiner Tür etwa ebenso wie er zurückgebliebene Soldaten bemerkte, die von ihren Kameraden abgeschnitten waren und mit den Augen einen Unterschlupf suchten, um ihre Haut wenigstens so teuer wie möglich zu verkaufen. Rasch ging er hinab, um ihnen aufzumachen, und nun bekam das Haus ein Besatzung, einen Hauptmann, einen Korporal und acht Mann, alle außer sich vor Wut und entschlossen, sich nicht zu ergeben.

»Sieh mal, Laurent! Sie sind auch dabei!« rief Weiß überrascht, als er einen großen, mageren Burschen unter ihnen erblickte, der ein einem Toten abgenommenes Gewehr in der Hand hielt.

Laurent mit seiner blauleinen Jacke und Hose war ein Gärtnerbursche aus der Nachbarschaft; er war ungefähr dreißig Jahre alt und hatte kürzlich seine Mutter und seine Frau verloren, die von dem gleichen bösartigen Fieber hingerafft waren.

»Warum soll ich nicht auch dabei sein?« antwortete er. »Ich habe ja nichts als meinen Kadaver, und den kann ich ja wohl hingeben... Und dann, wissen Sie, es macht mir Spaß, denn ich schieße nicht schlecht, und es ist zu ulkig, mit jedem Schuß einen von diesen Teufeln da kaputt zu machen!«

Der Hauptmann und der Korporal sahen sich bereits das Haus an. Im Erdgeschoß war nichts zu machen; sie mußten sich damit begnügen, hier nur Möbel vor Türen und Fenster zu schieben, um sie so fest wie möglich zu verrammeln. Dann aber brachten sie in den drei kleinen Zimmern im ersten Stock und auf dem Boden die Verteidigung in Ordnung, wobei sie übrigens die von Weiß bereits getroffenen Vorbereitungen völlig billigten; er hatte Matratzen hinter die Fensterläden gestellt und an einzelnen Stellen Schießscharten zwischen den Brettern angebracht. Als der Hauptmann wagte, sich vorzubeugen, um die Umgegend zu prüfen, hörte er ein Kind jämmerlich weinen.

»Was ist denn das?« fragte er.

Da sah Weiß wieder in der benachbarten Färberei den kleinen kranken August mit seinem purpurroten Fiebergesicht in den weißen Laken, wie er zu trinken haben wollte und nach seiner Mutter rief, die ihm nicht mehr antworten konnte, denn sie lag mit zerschmettertem Schädel auf den Steinen. Diese Erinnerung veranlaßte ihn zu einer schmerzhaften Bewegung und er antwortete:

»Ein armes Kerlchen da drüben, dessen Mutter von einer Granate totgeschlagen ist und der nun weint.«

»Herrgottsdonnerwetter!« murmelte Laurent. »Dafür sollen sie aber teuer bezahlen.«

Vorläufig trafen nur verirrte Kugeln das Haus. Weiß und der Hauptmann waren mit dem Gärtnerburschen und zwei Mann auf den Boden gestiegen, von wo sie die Straße besser übersehen konnten. Sie sahen schräg über sie hinweg nach dem Kirchplatz. Dieser war jetzt im Besitz der Bayern; aber sie gingen immer noch nur vorsichtig und mit äußerster Klugheit vor. Fast eine Viertelstunde lang hielt eine Handvoll Infanteristen an einer Straßenecke sie noch im Schach, die ein derartiges Feuer unterhielten, daß die Toten in Haufen dalagen. Dann lag noch in der andern Ecke ein Haus, dessen sie sich erst bemächtigen mußten, ehe sie weiter vorstoßen konnten. Hin und wieder konnte man in dem Rauche eine Frau erkennen, die mit einem Gewehr aus einem der Fenster feuerte. Es war das Haus eines Bäckers; ein paar Soldaten waren in ihm zurückgeblieben und hatten sich mit den Einwohnern zusammengetan; als das Haus genommen war, hörten sie Geschrei, und ein entsetzliches Gedränge wälzte sich bis an die Mauer gegenüber in einem Strom, aus dem der Rock der Frau, eine Männerjacke, gesträubtes weißes Haar hervorsahen; dann rollte eine Salve, und Blut spritzte bis auf die Mauerkrone hinauf. Die Deutschen waren unerbittlich: jedes mit den Waffen in der Hand ergriffene menschliche Wesen, das zu keinem kriegführenden Truppenteil gehörte, wurde als außerhalb des Völkerrechts stehend auf der Stelle erschossen. Durch den wütenden Widerstand wuchs ihr Zorn noch, und die schrecklichen Verluste, die sie seit fast fünf Stunden zu erleiden hatten, reizten sie zu grausigen Vergeltungsmaßregeln. Die Rinnsteine liefen rot dahin, Tote versperrten die Straße, einzelne Plätze glichen reinen Leichenhaufen, aus denen Röcheln hervortönte. Dann sah man, wie sie in jedes Haus, das sie mit Gewalt nahmen, sofort angezündetes Stroh hineinwarfen; andere Soldaten liefen mit Fackeln umher, wieder andere besprengten die Mauern mit Petroleum; bald standen ganze Straßenzüge in Brand, und Bazeilles ging in Flammen auf.

Mitten im Orte stand jetzt nur noch Weiß' Haus mit seinen geschlossenen Fensterläden und bewahrte sein drohendes Aussehen einer Zitadelle, die sich unter keinen Umständen ergeben will.

»Achtung! Da sind sie!« rief der Hauptmann.

Eine aus dem Boden und dem ersten Stock hervorbrechende Salve streckte drei der sich an den Mauern entlang vordrängenden Bayern zu Boden. Die andern wichen zurück und legten sich hinter allen Vorsprüngen, die die Straße bot, auf die Lauer. Und nun begann die Belagerung; ein derartiger Kugelregen peitschte die Vorderseite des Hauses, daß man an einen Hagelsturm hätte glauben können. Fast zehn Minuten lang brach dies Gewehrfeuer nicht ab und drang durch das Mauerwerk, ohne indes viel Schaden anzurichten. Aber einer der Leute, die der Hauptmann mit sich auf den Boden genommen hatte, beging die Unvorsichtigkeit, sich an einer Luke zu zeigen, und wurde durch eine Kugel mitten in die Stirn glatt getötet.

»Hundepack! Wieder einer weniger!« schimpfte der Hauptmann. »Nehmt euch doch in acht, wir sind nicht genug, um uns zum Spaß totschießen zu lassen!«

Er selbst hatte ein Gewehr ergriffen und feuerte, durch einen Fensterladen gedeckt. Laurent, der Gärtnerbursche, aber erregte seine höchste Bewunderung. Auf den Knien liegend, stützte er den Lauf seines Gewehres auf den schmalen Spalt einer Schießscharte auf und schoß nur, wenn er seiner Sache unbedingt sicher war; das Ergebnis kündigte er jedesmal zum voraus an.

»Der kleine blaue Offizier da hinten, Herzschuß. Der andere, etwas weiter, der lange, dürre, zwischen die Augen... Dem Dicken mit dem roten Bart, der ärgert mich, in den Bauch...«

Und jedesmal fiel der Betreffende, wie vom Blitze erschlagen, genau an der Stelle getroffen, die er bezeichnet hatte; und er fuhr ruhig ohne Übereilung fort; jetzt hatte er etwas zu tun, wie er meinte, denn das kostete Zeit, sie alle derart, einen nach dem andern, umzubringen.

»Ach, hätte ich doch Augen!« sagte Weiß immer wieder voller Wut.

Er hatte eben seine Brille zerbrochen und war ganz verzweifelt darüber. Sein Kneifer blieb ihm noch, aber den konnte er nicht dazu bringen, daß er fest auf der Nase saß, da sein Gesicht von Schweiß überströmt war; und häufig schoß er mit fieberhaft zitternden Händen auf gut Glück. Die wachsende Leidenschaft hatte seine gewöhnliche Ruhe ganz verschwinden lassen.

»Beeilen Sie sich nicht, das ist vollständig unnütz,« sagte Laurent. »Sehen Sie mal, nehmen Sie mal den da ohne Helm, an der Ecke beim Krämer, genau aufs Korn... Aber das ist ja ausgezeichent, Sie haben ihm die Pfote zerbrochen, und da tanzt er in seinem Blute herum.«

Weiß war etwas blaß geworden und sah hin. Er flüsterte:

»Machen Sie Schluß mit ihm.«

»Eine Kugel vergeuden? Haha, nein, wissen Sie! Besser schmeißen wir noch einen andern damit um.«

Die Angreifer mußten bemerkt haben, daß das furchtbare Feuer aus den Bodenluken hervorbrach. Kein Mann konnte vorgehen, ohne liegenzubleiben. Sie ließen deshalb frische Truppen in Linie antreten, die das Dach mit ihren Kugeln wie ein Sieb durchlöchern mußten. Daraufhin wurde der Boden unhaltbar: die Schieferplatten wurden so leicht wie ein Blatt Papier durchschlagen, überall drangen Geschosse durch und summten wie ein Bienenschwarm. Jede Sekunde lief man Gefahr, getötet zu werden.

»Wir wollen hinuntergehen,« sagte der Hauptmann. »Im ersten Stock können wir uns noch halten.« Als er sich aber nach der Leiter umdrehte, traf ihn eine Kugel in die Leistengegend und warf ihn nieder.

»Zu spät, Schwerenot!«

Weiß und Laurent wollten ihn mit Hilfe des noch übriggebliebenen Soldaten unbedingt hinunterbringen, obwohl er ihnen zurief, sie sollten keine Zeit damit verlieren, daß sie sich um ihn kümmerten: er hätte sein Teil weg und könnte genau so gut da oben verrecken wie unten. Als sie ihn indessen in einem Zimmer im ersten Stock auf ein Bett gelegt hatten, wollte er die Verteidigung noch von dort aus leiten.

»Schießt in den Haufen und kümmert euch nicht um die übrigen. Solange euer Feuer nicht langsamer wird, sind sie viel zu vorsichtig, um sich vorzuwagen.«

In der Tat zog die Belagerung des kleinen Hauses sich eine Ewigkeit hin. Immer wieder schien es von dem ihn treffenden Eisenhagel weggefegt zu werden; und doch stand es in dem Schloßensturm mitten im Rauch immer noch aufrecht, durchlöchert, zerfetzt, aber trotzdem aus allen Ritzen noch Kugeln speiend. Die Angreifer waren verzweifelt über den langen Aufenthalt vor so einer Baracke und den Verlust so vieler Leute; sie brüllten und schossen von weitem, ohne es doch zu wagen, vorwärts zu stürzen und die untern Türen und Fenster einzubrechen.

»Achtung!« schrie der Korporal. »Da kommt ein Fensterladen herunter!«

Die Gewalt der Kugeln hatte einen der Fensterläden aus seinen Angeln gerissen. Aber Weiß stürzte sich vor und schob einen Schrank gegen das Fenster, so daß Laurent dahinter hervor sein Feuer fortsetzen konnte. Ein Soldat lag mit zerbrochenem Kiefer zu seinen Füßen und verlor viel Blut. Ein anderer erhielt eine Kugel in die Kehle und rollte gegen die Wand, wo er unter krampfhaften Zuckungen des ganzen Körpers endlos röchelte. Sie waren nur noch acht, wenn sie den Hauptmann nicht mitzählten, der gegen das Fußende des Bettes gelehnt dasaß, und weil er zum Sprechen zu schwach war, seine Befehle durch Bewegungen ausdrückte. Ebenso wie der Boden begannen jetzt aber die drei Zimmer des ersten Stockes unhaltbar zu werden, denn die in Fetzen gegangenen Matratzen hielten keine Kugel mehr auf: große Stücke Putz sprangen aus den Wänden und der Decke, die Möbel verloren ihre Kanten, die Wände der Schränke klafften wie von Axthieben gespalten. Und das Schlimmste war, daß es ihnen an Schießbedarf zu fehlen begann.

»Ist das schade!« brummte Laurent. »Das ging so fein.«

Weiß hatte eine plötzliche Eingebung.

»Warten Sie!«

Er hatte an den toten Soldaten oben auf dem Boden denken müssen. Er kletterte hinauf und durchsuchte ihn nach den Patronen, die er noch bei sich haben mußte. Eine ganze Seite des Daches war abgedeckt, er sah den blauen Himmel wie ein fröhlich leuchtendes Tuch über sich ausgespannt, worüber er in große Verwunderung geriet. Um nicht getötet zu werden, kroch er auf den Knien vorwärts. Als er dann die etwa dreißig Patronen hatte, krabbelte er schleunigst wieder hinunter.

Wie er aber unten diesen neuen Vorrat mit dem Gärtnerburschen teilte, stieß ein Soldat einen Schrei aus und fiel auf den Bauch. Sie waren nur noch sieben und gleich darauf nur noch sechs, da der Korporal eine Kugel ins linke Auge erhielt, so daß das Gehirn umherspritzte.

Von diesem Augenblick kam Weiß nichts mehr zum klaren Bewußtsein. Er und die fünf andern fuhren fort, wie Verrückte zu feuern, und brachten ihre Patronen zu Ende, ohne auch nur daran zu denken, daß sie sich ergeben müßten. Der Fußboden war in den drei kleinen Zimmern durch Möbelbruchstücke versperrt. Tote lagen vor den Türen, in einer Ecke stieß ein Verwundeter ein schreckliches, unausgesetztes Jammern aus. Überall klebte Blut unter ihren Sohlen. Ein roter Faden lief die Treppe hinunter. Die Luft war nicht mehr zu atmen, so dick war sie von dem Rauch des verbrannten Pulvers, ein scharfer, brechreizerregender Staub, eine fast völlige Nacht, durch die die Flammen der Schüsse hindurchzuckten.

»Gottsdonnerwetter!« schrie Weiß. »Sie bringen Geschütze ran!« Es war wahr. Vor Verzweiflung, daß sie mit dieser Handvoll Besessener, die sie so sehr aufhielten, nicht fertig werden konnten, gingen die Bayern daran, an der Ecke des Kirchenplatzes ein Geschütz in Stellung zu bringen. Dann würden sie ja wohl weiterkommen, wenn sie dies Haus mit Kanonenkugeln dem Boden gleichgemacht hätten. Und daß man ihnen soviel Ehre antat, Artillerie gegen sie zu richten, versetzte die Belagerten vollends in wütende Fröhlichkeit; sie spotteten voller Verachtung. Ach! diese verfluchten Feiglinge mit ihrer Kanone! Immer noch kniend zielte Laurent sorgfältig auf die Artilleristen und legte jedesmal seinen Mann um; so gut, daß die Geschützbedienung nicht weiterkommen konnte und fünf oder sechs Minuten vergingen, ehe der erste Schuß fiel. Er ging übrigens zu hoch und nahm nur ein Stück des Daches mit.

Aber das Ende kam näher. Vergeblich durchsuchten sie die Toten, sie hatten keine einzige Patrone mehr. Erschöpft, verstört tasteten die sechs umher und suchten nach Gegenständen, die sie aus den Fenstern herunterwerfen könnten, um den Feind zu erschlagen. Einer von ihnen, der sich fluchend und die Fäuste schwingend zeigte, fiel von einem Bleihagel durchlöchert; und sie blieben nur noch fünf. Was tun? Heruntergehen und versuchen, durch den Garten und die Wiesen zu entkommen? In diesem Augenblick ertönte unten wüster Lärm, und ein wütender Strom toste die Treppe herauf; das waren die Bayern, die sie endlich umgangen hatten und nun durch die eingebrochene Hintertür das Haus betraten. In den kleinen Zimmern entspann sich zwischen den herumliegenden Leichen und Möbelstücken ein furchtbares Handgemenge. Einem der Soldaten wurde die Brust durch einen Bajonettstich durchbohrt, die beiden andern wurden gefangengenommen; der Hauptmann, der gerade seinen letzten Atemzug getan hatte, blieb mit offenem Munde und erhobenem Arme liegen, als ob er noch einen letzten Befehl geben wollte.

Indessen hatte ein Offizier, ein dicker blonder, mit einem Revolver bewaffneter Mann, dessen blutunterlaufene Augen aus ihren Höhlen zu treten schienen, Weiß und Laurent bemerkt, den einen im Überzieher, den andern in seiner blauen Leinenbluse; wütend redete er sie auf Französisch an:

»Wer sind Sie? Was haben Sie hier zu tun?«

Als er dann sah, wie schwarz sie von Pulver waren, begriff er den Zusammenhang und überschüttete sie mit vor Wut stotternder Stimme auf Deutsch mit Flüchen. Er hob schon seine Pistole, um ihnen den Schädel zu zerschmettern, als die von ihm befehligten Soldaten sich auf sie stürzten und sie nach der Treppe hindrängten. In einer Menschenwelle wurden die beiden Männer nun vorwärts geschoben und getragen, um auf die Straße geworfen zu werden; hier rollten sie unter einem derartigen Geschimpfe bis an die gegenüberliegende Mauer, daß die Stimme des Führers nicht mehr zu verstehen war. Während zwei oder drei Minuten, in denen der dicke Offizier sie loszumachen versuchte, um sie sogleich hinrichten zu lassen, konnten sie wieder aufstehen und sich umsehen.

Weitere Häuser gingen in Flammen auf, Bazeilles war nur noch ein Scheiterhaufen. Durch die hohen Kirchenfenster begannen Flammenbündel hervorzubrechen. Soldaten jagten eine alte Dame aus ihrem Hause und zwangen sie, ihnen Streichhölzer zu geben, mit denen sie dann ihr Bett und ihre Fenstervorhänge in Brand steckten. Die Feuersbrunst gewann infolge umhergeworfener Strohbündel und der Ströme vergossenen Petroleums mehr und mehr Raum; es war die Kriegführung von Wilden, die vor Wut über die lange Dauer des Kampfes ihre Toten rächen wollten, die Haufen von Toten, über die sie hinwegzuschreiten hatten. Durch Rauch und Funkenregen heulten ihre Banden in all dem aus den verschiedensten Geräuschen, Todesschreien, Schüssen, Einstürzen, zusammengesetzten furchtbaren Lärm. Nur mit Mühe war bei dem alles umhüllenden bleigrauen Staube, der sogar die Sonne verhüllte, noch irgend etwas zu erkennen, und es herrschte ein unerträglicher Geruch nach Schweiß und Blut, wie geschwängert mit allen Greueln dieses Gemetzels. Immer noch wurde in allen Ecken gemordet: das war das losgelassene Tier, der blinde Zorn, die rasende Wut des Menschen, der den Menschen verzehrt.

Nun endlich sah Weiß sein brennendes Haus vor sich. Einige Soldaten rannten mit Fackeln herbei, andere fachten die Flammen durch Hineinwerfen von zerbrochenen Möbeln an. Das Erdgeschoß flammte rasch auf, Rauch strömte aus allen Wunden der Vorderseite und des Daches. Aber bereits fing die benachbarte Färberei gleichfalls Feuer; und es war gräßlich, wie man immer noch die Stimme des kleinen August hören konnte, der in seinen Fieberqualen im Bette lag und nach seiner Mutter lief; die Kleider der Unglücklichen, die mit zerschmettertem Schädel über ihre Schwelle hingestreckt lag, fingen währenddessen Feuer.

»Mutter, ich bin so durstig ... Mutter, gib mir Wasser ...«

Die Flammen brausten, die Summe erstarb, und es war nichts mehr zu unterscheiden als das betäubende Hurra der Sieger.

Aber all den Lärm und das Getobe übertönte plötzlich ein furchtbarer Schrei. Das war Henriette, die jetzt eben herbeikam und ihren Mann einer ihre Waffen schußbereit machenden Schützenreihe gegenüber an der Mauer stehen sah.

Sie stürzte ihm an den Hals.

»Mein Gott! Was geht hier vor? Sie wollen dich doch nicht umbringen?«

Weiß sah sie stumpfsinnig an. Sie, sein Weib, nach der er sich solange gesehnt hatte, die er mit so abgöttischer Verehrung anbetete! Ein Schauer weckte ihn aus seiner Erstarrung. Was hatte er getan? Warum war er dageblieben und hatte mit geschossen, anstatt zu ihr zu gehen, wie er es ihr geschworen hatte? Schwindelnd sah er nun sein ganzes Glück vor sich versinken, die gewaltsame Trennung auf ewig. Da versetzte ihn das Blut vor ihrer Stirn in Bestürzung; ganz gedankenlos stotterte er:

»Bist du verwundet? ... Wie unklug, daß du hierher kamst ...«

Mit einer verzweifelten Bewegung unterbrach sie ihn.

»Ach, das ist nichts, bloß eine Schramme ... Aber du! du! Warum halten sie dich hier fest? Sie sollen dich nicht morden!«

Der Offizier befahl den Schützen, auf der versperrten Straße etwas weiter zurückzutreten. Als er am Halse eines der Gefangenen eine Frau hängen sah, fing er auf Französisch wütend wieder an:

»Ach was! Keine Dummheiten hier! ... Wo kommen Sie her? Was wollen Sie hier?«

»Meinen Mann will ich.«

»Ihren Mann, den Mann da? ... Der ist verurteilt, die Gerechtigkeit muß ihren Lauf nehmen.«

»Meinen Mann will ich.«

»Na, seien Sie vernünftig ... Treten Sie beiseite, wir möchten Ihnen kein Leid antun.«

»Meinen Mann will ich.«

Nun verzichtete der Offizier darauf, sie zur Vernunft zu bringen, und befahl, sie aus den Armen des Gefangenen zu reißen, als Laurent, der bis dahin schweigend mit teilnahmlosem Gesicht dagestanden hatte, sich dazwischen zu treten erlaubte.

»Herr Hauptmann, sehen Sie, ich habe die vielen Leute erschossen, und daß ich dafür getötet werde, ist nur recht. Um so mehr, als ich ja doch niemand habe, weder Mutter noch Frau oder Kinder ... Sagen Sie, lassen Sie den doch laufen und dann können Sie ja mit mir abrechnen ...«

Außer sich brüllte der Offizier:

»Schöne Geschichten! Wollen Sie mir noch Flausen vormachen? ... Wer will die Frau hier freiwillig wegbringen?«

Er mußte den Befehl auf Deutsch wiederholen. Da trat ein Soldat vor, ein dickbäuchiger Bayer mit gewaltigem, von Bart und roten Haaren umstarrtem Kopf, unter denen nichts als eine mächtige, klobige Nase und dicke blaue Augen zu erkennen waren. Beschmiert mit Blut, sah er gräßlich aus, wie ein Höhlenbär, eins dieser haarigen Raubtiere, wenn sie von der Beute, der sie gerade die Knochen zerbrochen haben, noch ganz blutig sind.

Mit einem herzzerreißenden Schrei rief Henriette wieder:

»Meinen Mann will ich, bringt mich mit meinem Mann um.«

Aber der Offizier schlug sich heftig mit der Faust vor die Brust und sagte, er sei kein Henker und gehöre nicht zu denen, die Unschuldige töteten. Sie wäre nicht verurteilt, und er würde sich eher die Hand abhacken, als ein Haar auf ihrem Kopfe anrühren.

Als der Bayer dann herantrat, klammerte Henriette sich ganz betäubt mit allen Gliedmaßen an Weiß' Körper.

»Liebster, halt' mich fest, bitte! bitte! Laß mich mit dir sterben ...«

Weiß weinte dicke Tränen; ohne zu antworten, versuchte er die festgekrampften Finger der Unglücklichen von seinen Schultern und Hüften loszumachen.

»Dann liebst du mich nicht mehr, wenn du ohne mich sterben willst ... Halt' mich fest, dann werden sie müde und töten uns zusammen.«

Er hatte eine ihrer kleinen Hände losgemacht und drückte sie an den Mund und küßte sie, während er sich abmühte, der andern ihren Halt zu nehmen.

»Nein, nein, halt' mich fest ... ich will sterben!«

Mit großer Mühe hielt er endlich ihre beiden Hände. Bis dahin hatte er sich bezwungen, nicht zu sprechen, und war stumm geblieben; jetzt sagte er nur das eine Wort:

»Leb' wohl, liebstes Weib.«

Und schon warf er selbst sie dem Bayern in die Arme, der sie nun davontrug. Sie wehrte sich und schrie, während der Soldat, offenbar um sie zu trösten, sie mit einer Flut rauher Worte überschüttete. Mit einer heftigen Anstrengung machte sie den Kopf frei und sah nun alles.

Er dauerte keine drei Sekunden. Weiß war beim Abschied sein Kneifer abgerutscht, und er setzte ihn gerade mit einer heftigen Bewegung wieder auf, wie um dem Tode schärfer ins Antlitz sehen zu können. Er trat zurück und lehnte sich mit gekreuzten Armen gegen die Mauer; und mit seinem zerfetzten Rock bot der dicke, friedfertige Bursche mit seinem aufgeregten Gesicht, einen Anblick von bewundernswert schönem Mute. Laurent neben ihm hatte nur die Hände in den Taschen vergraben. Er ärgerte sich scheinbar über die Grausamkeit des Vorganges, über die Abscheulichkeit dieser Wilden, die Männer vor den Augen ihrer Frauen töteten. Er richtete sich hoch auf, sah sie an und spie ihnen voller Verachtung entgegen:

»Dreckige Schweinehunde!«

Aber der Offizier hatte seinen Degen gehoben, und die beiden Männer fielen, der Gärtnerbursche mit dem Gesicht auf die Erde, der andere, der Werkführer, an der Mauer auf die Seite. Vor seinem letzten Atemzuge zuckte er noch einmal krampfhaft zusammen, die Augenlider zitterten ihm, der Mund verzog sich. Der Offizier trat heran und stieß ihn mit dem Fuß an, um zu sehen, ob er auch nicht mehr lebe.

Henriette hatte alles gesehen, die brechenden Augen, die sie noch suchten, den schrecklichen letzten Todeskampf, den großen Stiefel, der den Körper anstieß. Sie schrie nicht mehr, sie biß nur, so stark sie konnte, in schweigender Wut in eine Hand, die ihre Zähne gerade fanden. Der Bayer stieß einen wilden Schmerzensschrei aus. Er warf sie nieder und hätte sie fast umgebracht. Ihre Gesichter berührten sich; nie konnte sie diesen roten Bart und die roten, mit Blut beschmierten Haare, die weit aufgerissenen, vor Wut ganz verdrehten Augen vergessen.

Henriette konnte sich später nicht mehr klar an das erinnern, was dann vorgegangen war. Sie hatte nur den einen Wunsch, wieder zu dem Leichnam ihres Gatten zurückzukehren, ihn zu umfassen und zu bewachen. Aber wie in einem Alpdruck erhoben sich alle möglichen Hindernisse vor ihr und hielten sie bei jedem Schritt auf. Von neuem brach lebhaftes Gewehrfeuer los, und eine mächtige Bewegung entstand unter den deutschen Truppen, die Bazeilles besetzt hatten: das war das endliche Eintreffen der Marineinfanterie; und der Kampf ging mit derartiger Heftigkeit wieder los, daß die junge Frau unter einen Haufen vor Furcht ganz närrisch gewordener Einwohner nach links in ein Gäßchen mit fortgerissen wurde. Das Ergebnis des Kampfes konnte übrigens nicht zweifelhaft sein; es war zu spät, die aufgegebenen Stellungen wieder zu nehmen. Noch eine halbe Stunde lang setzte die Infanterie alles daran und ließ sich mit wunderbarer Hingebung hinschlachten; aber unaufhörlich erhielt der Feind Verstärkungen, überall her aus den Wiesen, den Straßen und dem Park von Montivillers brachen sie hervor. Jetzt hätte nichts ihn wieder aus dem Orte herausgebracht, der teuer damit erkauft war, daß Tausende der Seinigen in ihm in Blut und Flammen lagen. Jetzt mußte die Zerstörung ihr Werk vollenden; nur noch ein Weinhaus voll zerstreuter Gliedmaßen und rauchender Überreste stand da, Bazeilles war erwürgt, vernichtet und zerfiel in Asche.

Eim letztes Mal sah Henriette von weitem noch ihr kleines Haus, dessen Fußböden gerade unter einem Wirbel kleiner Flämmchen zusammenstürzten. Immer noch sah sie sich gegenüber den Körper ihres Mannes an der Mauer liegen.

Aber von neuem ergriff sie die Strömung, Hörner ertönten zum Rückzuge; und ohne zu wissen wie, wurde sie von den zurückflutenden Truppen mitgerissen. Jetzt war sie nur noch ein Ding, ein hin und her rollendes Wrack, das in dem undeutlichen Getrappel der Menge, die sich über die ganze Straßenbreite ergoß, mitgeführt wurde. Sie fühlte nichts mehr und fand sich schließlich in Balan bei unbekannten Menschen wieder, wie sie in der Küche den Kopf auf den Tisch gelegt hatte und schluchzte.


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