Emile Zola
Der Zusammenbruch
Emile Zola

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4

Am 13. August, einem Dienstag, wurde das Lager um sechs Uhr morgens abgebrochen; die hunderttausend Mann der Heeresgruppe von Châlons gerieten in Bewegung und liefen bald mit ungeheurem Brausen wie ein unendlicher Strom dahin, der sich einen Augenblick zu einem See ausbreitet und dann seinen Lauf wieder aufnimmt; und für viele war es trotz der am Abend vorher umlaufenden Gerüchte eine große Überraschung, als sie sahen, daß man, statt die rückläufige Bewegung fortzusetzen, Paris den Rücken kehrte und wieder dort hinten hin nach Osten, dem Unbekannten entgegenzog.

Um fünf Uhr morgens hatte das siebente Korps noch keine Patronen. Seit zwei Tagen erschöpfte sich die Artillerie beim Verladen von Pferden und Ausrüstungsgegenständen auf dem Bahnhof, der mit von Metz zurückflutenden Vorräten verstopft war. Im letzten Augenblick wurden in dem unentwirrbaren Durcheinander der Züge Wagen mit Patronen entdeckt, und eine Arbeitskompagnie, der Jean zugeteilt war, konnte auf schleunigst mit Beschlag belegtem Fuhrwerk zweihundertvierzigtausend Stück heranschaffen. Im selben Augenblick, als Gaude, der Hornist der Kompanie, zum Abmarsch blies, teilte Jean jedem Mann seiner Korporalschaft die vorschriftsmäßigen hundert Patronen zu.

Das Regiment 106 sollte nicht durch Reims marschieren; der Marschbefehl lautete, die Stadt zu umgehen und so die große Straße nach Châlons wiederzugewinnen. Aber auch diesmal wieder hatte man verabsäumt, die Stunden zu staffeln, so daß sich, weil die vier Korps zusammen abrückten, eine gewaltige Verwirrung ergab, sobald sie die von allen zurückzulegenden Wegeabschnitte erreichten. Alle Augenblicke durchschnitten Artillerie und Kavallerie die Linien der Infanterie und hielten sie auf. Ganze Brigaden mußten eine Stunde lang das Gewehr bei Fuß warten. Und das Schlimmste war, daß kaum zehn Minuten nach dem Abmarsch ein furchtbares Gewitter losbrach und ein sündflutartiger Regen die Leute bis auf die Knochen durchnäßte, so daß ihnen Tornister und Rock auf den Schultern noch schwerer wurden. Als der Regen aufhörte, konnten die 106er ihren Marsch wieder aufnehmen; die Zuaven aus einem benachbarten Lager waren dagegen gezwungen noch zu warten und erfanden, um ihre Geduld zu behalten, ein Spielchen, bei dem sie sich mit Erdkugeln bewarfen, Dreckklumpen, deren Auseinanderspritzen auf den Uniformen wahrhaft stürmisches Gelächter hervorrief.

Fast unmittelbar nachher kam die Sonne wieder durch, die sieghafte Sonne eines heißen Augustmorgens. Die Fröhlichkeit kehrte zurück, und die Leute dampften wie in der Luft aufgehängte Wäsche; sie waren sehr schnell wieder trocken und sahen verdreckt aus wie aus einem Sumpf herausgezogene Hunde; sie scherzten über das Geräusch, das der verhärtete, an ihren roten Hosen mitgeschleppte Dreck hervorbrachte. An jedem Kreuzweg gab es eine neue Pause. Ganz draußen in einer Vorstadt von Reims gab es einen letzten Aufenthalt vor einer Schnapskneipe, die gar nicht leer werden wollte.

Da kam Maurice auf den Gedanken, seine Korporalschaft freizuhalten, gleichsam als Glückwunsch auf den Weg für alle.

»Herr Korporal, würden Sie erlauben? ...«

Nach kurzem Zaudern nahm Jean ein Schnäpschen an. Loubet und Chouteau waren dabei, der letztere mit einer Art argwöhnischer Achtung, seitdem der Korporal ihm seine Faust gezeigt hatte; ebenso waren auch Pache und Lapoulle da, ein paar gute Jungens, wenn man ihnen nichts in den Kopf setzte.

»Ihr Wohl, Herr Korporal!« sagte Chouteau mit Biedermannstonfall.

»Auf Ihres, und mögen wir alle drauf achten, daß wir Kopf und Beine heil wieder mitbringen!« antwortete Jean höflich unter beifälligem Gelächter.

Aber es ging weiter; Hauptmann Beaudouin war mit mißfälliger Miene herangetreten, während Leutnant Rochas so tat, als ob er woanders hinsähe und Nachsicht mit dem Durst seiner Leute hätte. Schon ging es auf der Straße von Châlons dahin, die sich wie ein unendliches, schnurgerades, mit Bäumen gesäumtes Band durch die gewaltige Ebene zog, ein unabsehbares Stoppelfeld, in dem nur hier und da Strohdiemen und hölzerne Windmühlen mit ihren sich im Winde drehenden Flügeln eine Erhöhung bildeten. Weiter nach Norden zeigten Telegraphenstangen andere Straßen an, auf denen man andere marschierende Regimenter als dunkle Linien erkennen konnte. Viele zogen auch in tiefen Massen quer durchs Feld. Eine Kavalleriebrigade trabte vorn links funkelnd im Sonnenschein dahin. Und der ganze leere Horizont in seiner traurigen, schrankenlosen Weite belebte sich, bevölkerte sich mit diesen von überallher zusammenströmenden Menschenbächen, diesen unversiegbaren Zugstraßen eines Riesenameisenhaufens.

Gegen neun Uhr verließen die 106er die Straße nach Châlons, um die links nach Suippe führende einzuschlagen, ein anderes schnurgerade in die Unendlichkeit verlaufendes Band. Sie marschierten in zwei getrennten Säulen und ließen die Mitte der Straße frei. Hier bewegten sich allein die Offiziere nach Gutdünken; aber Maurice bemerkte, daß sie sorgenvoll aussahen, im Gegensatz zu der frischen Stimmung, der fröhlichen Zufriedenheit der Mannschaften, die glücklich waren wie Kinder, endlich wieder marschieren zu können. Da seine Korporalschaft sich fast an der Spitze befand, sah er auch von weitem den Oberst, Herrn von Vineuil, dessen düsteres Aussehen bei dem Schwanken seiner langen, steifen Gestalt nach dem Schritte des Pferdes ihn betroffen machte. Die Musik war zu den Marketendern ganz nach hinten geschickt. Dann kamen zugleich mit den Divisionen die Ambulanzen und der Fuhrpark, dem wieder der Train des ganzen Korps folgte, ein ungeheurer Zug von Futterwagen, geschlossenen Wagen für die Eßvorräte, Gepäckkarren, ein mehr als fünf Kilometer langer Zug von Fuhrwerken aller Arten; seinen unendlichen Schwanz konnte man an den seltenen Wegbiegungen verfolgen. Zu guter Letzt machten die Herden den Beschluß, eine Menge Rindvieh, das in einem Staubstrom dahintrottete, das mit Peitschenhieben auf den eigenen Beinen vorwärts getriebene Fleisch für ein kriegerisches, auf der Wanderschaft befindliches Volk.

Lapoulle warf währenddessen von Zeit zu Zeit seinen Tornister durch einen Ruck der Schulter wieder hoch. Unter dem Vorwand, daß er der Stärkste wäre, packten sie ihm alles gemeinschaftliche Gerät der Korporalschaft auf, den großen Kessel und die Kanne für den Wasservorrat. Diesmal hatten sie ihm sogar auch noch den Kompaniespaten anvertraut, indem sie ihm vorspiegelten, daß das eine Ehre für ihn sei. Und er beklagte sich auch gar nicht, sondern lachte über ein Lied, mit dem Loubet, der Tenor der Korporalschaft, die Länge des Marsches verkürzte. Loubet selbst hatte einen wahren Wundertornister, in dem alles zu finden war: Wäsche, Schuhe zum Wechseln, aller mögliche Kram, Bürsten, Schokolade, ein Besteck und ein kleiner Topf, ohne die vorschriftsmäßigen Lebensmittel mitzuzählen, wie Zwieback und Kaffee; und trotzdem auch die Patronen darin waren und obendrauf der gerollte Überzug, die Zeltbahn und die Haltepflöcke, erschien das Ganze leicht, so gut verstand er nach seinem Ausdruck seinen Koffer zu packen.

»Schandbare Gegend!« wiederholte Chouteau dann und wann und warf einen mißachtenden Blick über die traurige Landschaft der Lause-Champagne.

Die öde Weite der Kreidegegend dehnte sich ununterbrochen immer weiter hin. Kein Gehöft, keine Seele, nichts als Krähenschwärme, die in der grauen Weite schwarze Flecken bildeten. Ganz weit hinten, zur Linken, krönten Fichtengehölze mit ihrem düstern Grün leise Geländewellen, die mit dem Himmel abschnitten, während man zur Rechten in einer fortlaufenden Baumreihe den Lauf der Vesle ahnte. Und dort hinter den Hügeln sahen sie seit etwa einer Meile schon eine gewaltige Rauchwolke sich erheben, deren zusammengeballte Massen schließlich den ganzen Horizont mit der furchterregenden Wolke einer Feuersbrunst versperrten.

»Was brennt denn da unten?« fragten Stimmen von allen Seiten.

Aber die Erklärung lief von einem Ende der Heeressäule zum andern. Es war das Lager von Châlons, das seit zwei Tagen brannte, auf Befehl des Kaisers in Brand gesteckt, um die aufgehäuften Vorräte vor den Händen der Preußen zu bewahren. Es hieß, die Kavallerie der Nachhut hätte Befehl gehabt, Feuer an einen großen Holzschuppen zu legen, der der gelbe Speicher hieß und voller Zelte, Pflöcke und Matten war, sowie an den neuen Speicher, einen riesigen geschlossenen Schuppen, in dem Eßschüsseln, Schuhwerk und Regenmäntel für die Ausrüstung weiterer hunderttausend Mann aufgehäuft waren. Gleichfalls angesteckte Futterstrohdiemen qualmten wie Riesenfackeln. Vor diesem Schauspiel, diesen blaugrauen Wirbeln, die die weiten Hügelketten umsäumten und den Himmel mit hoffnungsloser Trauer erfüllten, verfiel das Heer in trübes Schweigen. In dem Sonnenglast hörte man nichts mehr als den Tonfall der Tritte, während die Köpfe sich wider Willen stets den immer größer werdenden Rauchschwaden wieder zukehrten, die wie eine unheilschwangere Wolke der Heeresgruppe noch eine ganze Weile lang folgten.

Die Heiterkeit kehrte erst wieder, als die Soldaten sich während der großen Rast auf einem Stoppelfelde auf ihre Tornister setzen konnten, um einen Bissen zu essen. Die großen viereckigen Zwiebäcke waren nur gut, um sie in die Suppe zu stecken; aber die kleinen runden, kroß und locker, waren eine wahre Leckerei, die nur den einzigen Fehler hatte, einen furchtbar durstig zu machen. Pache wurde aufgefordert und sang einen Choral, den die ganze Korporalschaft im Chor wiederholte. Jean lachte gutmütig und ließ sie machen, während Maurice die allgemeine Munterkeit, die gute Ordnung und der schöne Humor dieses ersten Marschtages wieder mit Vertrauen erfüllten. Der Rest des Weges wurde auch in dem gleichen munteren Schritte zurückgelegt. Indessen schienen doch die letzten acht Kilometer hart. Sie hatten gerade das Dorf Prosnes links liegen lassen und mußten von der großen Heerstraße abbiegen und quer über unbebautes Gelände marschieren, sandige, mit kleinen Kieferngruppen bestandene Heidestriche; und die ganze, von dem unendlichen Troß gefolgte Division wühlte sich zwischen diesen Kiefern auf ihrem Sande hindurch, in dem sie bis an die Knöchel versank. Die Einsamkeit schien sich noch vergrößert zu haben; sie trafen nichts weiter als eine von einem großen schwarzen Hunde bewachte Herde magerer Hammel.

Gegen vier Uhr endlich hielten die 106er in Dontrien, einem Dorf am Ufer der Suippe. Das kleine Flüßchen läuft zwischen Baumgruppen hin; die alte Kirche steht mitten auf dem Kirchhof, den ein gewaltiger Kastanienbaum völlig überschattet. Das Regiment schlug seine Zelte auf einer abschüssigen Wiese am linken Ufer auf. Die Offiziere erzählten, daß die vier Armeekorps heute abend von Auberive bis Heutrégiville an der Suippe entlang biwakieren sollten, so daß sich durch Dontrien, Béthiniville und Pont-Faverger eine fast fünf Meilen lange Reihe von Zelten ziehen würde.

Sofort blies Gaude zur Verteilung, und Jean mußte laufen, denn der Korporal war der große Versorger, immer auf dem Anstand. Er hatte Lapoulle mitgenommen, und nach einer halben Stunde kamen sie, mit einem blutigen Rinderrippenstück und einem Bündel Holz beladen, wieder. Unter einer Eiche waren schon drei Stücke der nachfolgenden Herde geschlachtet und zerlegt; Lapoulle mußte noch einmal nach Dontrien zurück, um Brot zu holen, das seit Mittag in den Öfen des Dorfes selbst gebacken wurde. Und heute, an dem ersten Tage, gab es alles wirklich in Überfluß, außer Wein und Tabak, die übrigens nie mehr verteilt werden sollten.

Als Jean zurückkam, fand er Chouteau, unterstützt von Pache, dabei, das Zelt aufzuschlagen. Als alter erfahrener Soldat hätte er für ihren Kram keine zwei Francs gegeben, sah aber doch einen Augenblick zu.

»Ja, das ist ganz gut, wenn wir heute nacht gutes Wetter behalten,« sagte er endlich. »Sonst, wenn es weht, gehen wir in den Fluß ... Muß euch das mal zeigen.«

Und er wollte Maurice mit der großen Kanne nach Wasser schicken. Aber der saß im Grase und hatte sich die Schuhe ausgezogen, um seinen rechten Fuß nachzusehen.

»Was? Was haben Sie denn da?«

»Das Hinterleder hat mir den Hacken wund gerieben ... Meine andern Schuhe gingen kaput, und ich war so dumm, mir in Reims diese zu kaufen, weil sie mir so gut paßten. Ich hätte mir ein paar Kähne aussuchen sollen.«

Jean war niedergekniet, nahm den Fuß und drehte ihn vorsichtig hin und her wie einen Kinderfuß, worauf er den Kopf schüttelte.

»Wissen Sie, das ist nicht so einfach ... Passen Sie mal auf. Einen Soldaten, der keine Füße mehr hat, den kann man nur auf den Steinhaufen schmeißen. In Italien sagte mein Hauptmann immer: die Schlachten gewinnt man mit den Beinen.«

Und dann schickte er Pache zum Wasserholen. Übrigens lief der Fluß in fünfzig Meter Entfernung. Und Loubet, der inzwischen in einem Loch, das er in die Erde gegraben hatte, ein Feuer angezündet hatte, konnte nun sofort die Suppe aufsetzen, nachdem der große Kessel mit Wasser gefüllt war, in das er das Fleisch, kunstgerecht zusammengeschnürt, hineintat. Und dann herrschte eine Seligkeit beim Anschauen der kochenden Suppe. Die ganze Korporalschaft hatte sich, frei von aller Arbeit, um das Feuer herum ins Gras gestreckt, wie eine Familie, voll zärtlicher Aufmerksamkeit für dies kochende Stück Fleisch; Loubet indessen schäumte mit seinem Löffel ernsthaft den Kessel ab. Wie Kinder und Wilde hatten sie auf diesem Lauf ins Unbekannte, ohne Morgen, nur den einen Gedanken, zu essen und zu schlafen.

Maurice hatte gerade in seinem Tornister eine in Reims gekaufte Zeitung gefunden, und Chouteau bat:

»Gibt's was Neues von den Preußen? Müssen uns das vorlesen!«

Infolge Jeans wachsenden Ansehens hielten sie gut zusammen haus. Maurice las ihnen voller Gefälligkeit die bedeutendsten Nachrichten vor, während Pache, die Näherin der Korporalschaft, ihm seinen Rock ausbesserte und Lapoulle sein Gewehr putzte. Erst kam ein großer Sieg Bazaines, der ein ganzes preußisches Korps in die Steinbrüche von Jaumont geschleudert hatte, und begleitet war dieser erfundene Bericht von lebendigen Schilderungen, wie Menschen und Pferde sich an den Felsen zerschmetterten, vollkommen vernichteten, so daß man keinen heilen Körper zu beerdigen fand. Dann kamen reichliche Einzelheiten über den jammervollen Zustand der deutschen Heere, seitdem sie sich in Frankreich befanden: die schlecht ernährten, schlecht ausgerüsteten, gänzlicher Entbehrung verfallenen Mannschaften starben massenhaft an den Wegen entlang an den scheußlichsten Krankheiten. Ein anderer Aufsatz erzählte, der König von Preußen habe die Diarrhöe und Bismarck habe sich ein Bein gebrochen, als er aus dem Fenster eines Wirtshauses sprang, in dem ihn die Zuaven beinahe gefaßt hätten. Sehr schön, all dieses! Lapoulle lachte, als sollten ihm die Kinnbacken brechen, während Chouteau und die andern, ohne den Schatten eines Zweifels zu äußern, sich an dem Gedanken berauschten, nun bald die Preußen wie Spatzen nach einem Hagelschauer zusammenfegen zu können. Vor allem krümmten sie sich bei dem Gedanken an Bismarck! Ach ja! Die Turkos und die Zuaven, das waren tapfere Kerls! Alle möglichen Gerüchte liefen über sie um. Deutschland zitterte vor Wut und behauptete, es sei eines zivilisierten Volkes unwürdig, sich so durch Wilde verteidigen zu lassen. Obwohl ihre Reihen schon bei Fröschweiler stark gelichtet waren, schienen sie doch noch unberührt und unbesiegt.

Auf dem kleinen Turm von Dontrien schlug es sechs, und Loubet rief:

»Ran an die Suppe!«

Die Korporalschaft stand andächtig im Kreise herum. Im letzten Augenblick hatte Loubet bei einem benachbarten Bauern noch Gemüse entdeckt. Es war ein wahrer Hochgenuß, eine Suppe, die nach Wurzeln und Porree schmeckte und für den Magen so weich wie Sahne war. Die Löffel klapperten laut in den Schüsseln. Dann mußte Jean, der heute die Zuteilung besorgte, mit größter Genauigkeit das Fleisch zerschneiden; denn die Augen begannen zu funkeln, und es hätte Gebrumm gegeben, wenn ein Stück größer ausgesehen hätte als das andere. Bis über die Augen tauchten sie in ihre Schüsseln und machten alles blank.

»Ach! Herrgott nochmal!« erklärte Chouteau, als er mit allem fertig war und sich auf den Rücken ausstreckte, »das ist doch besser als ein Tritt vor den Hintern!«

Auch Maurice fühlte sich sehr satt und glücklich und dachte nicht mehr an seinen Fuß, der aufgehört hatte zu brennen. Er nahm die ruppige Gesellschaft jetzt ruhig hin und stellte sich mit ihnen angesichts der physischen Notwendigkeiten des gemeinschaftlichen Lebens auf den Stand einer kindlichen Gleichheit. Nachts schlief er jetzt den gleichen tiefen Schlaf wie seine Zeltkameraden, alle auf einem Haufen, zufrieden, bei dem reichlich fallenden Tau unter Dach zu sein. Da ist noch zu erwähnen, daß Lapoulle auf Loubets Anstiften aus einer benachbarten Dieme ein paar mächtige Arme voll Stroh geholt hatte, in dem die sechs fidelen Kerls wie in einem Federbett schnarchten. Und in der klaren Nacht erhellten die Feuer der hunderttausend schlafenden Männer an den Ufern der freundlichen, langsam durch Weiden sich dahinwindenden Suippe entlang die weite Ebene von Auberive bis Heutrégiville auf fünf Meilen wie ein Sternenstreifen.

Bei Sonnenaufgang kochten sie Kaffee; die Bohnen wurden mit dem Gewehrkolben in einer Schüssel zerstoßen, ins kochende Wasser geworfen und der Satz mit einem Tropfen kalten Wassers niedergeschlagen. Der Aufgang des Tagesgestirns war heute von königlicher Pracht inmitten großer Wolken aus Purpur und Gold; aber selbst Maurice empfand nichts mehr von diesem Himmelsschauspiel am Horizont, und nur Jean, der nachdenkliche Bauer, betrachtete die rote Dämmerung mit unruhiger Miene, da sie Regen anzeigte. Er tadelte auch Loubet und Pache heftig beim Aufbruch, als das am Abend vorher gebackene Brot verteilt wurde, von dem die Korporalschaft drei lange Brote erhielt, und er sah, daß sie es oben auf ihren Tornistern festgemacht hatten. Die Zelte waren zusammengenommen, die Tornister zugeschnallt, und sie hörten nicht auf ihn. Auf allen Kirchtürmen des Ortes schlug es sechs, als die gesamte Armee in Bewegung kam und ihren Vormarsch in der morgenfrohen Hoffnung dieses neuen Tages munter wieder aufnahm.

Um wieder auf die Straße von Reims nach Vouziers zu kommen, schlug sich das 106. Regiment fast sogleich querfeldein und stieg über eine Stunde lang über Stoppelfelder. Hoch im Norden sah man zwischen den Bäumen hindurch Béthiniville, wo, wie es hieß, der Kaiser übernachtet hatte. Als sie auf der Straße nach Vouziers waren, fing die Ebene des gestrigen Tagemarsches wieder an, die Lause-Champagne entrollte weiter vor ihnen ihre armseligen Felder in verzweiflungsvoller Eintönigkeit. Jetzt lief der Arne, ein magerer Bach, zu ihrer Linken, während zur Rechten sich nacktes Gelände in die Unendlichkeit ausdehnte und den Horizont durch seine flachen Linien erweiterte. Sie kamen durch Dörfer, Saint-Clément, dessen einzige Straße sich zu beiden Seiten des Weges dahinschlängelte, Saint-Pierre, ein fettes Nest von reichen Bauern, die ihre Türen und Fenster verrammelt hatten. Die Hauptrast fand gegen zehn Uhr bei einem andern Dorfe statt, Saint-Etienne, wo die Soldaten zu ihrer Freude noch etwas Tabak fanden. Das siebente Korps war in mehrere Säulen zerteilt, das 106. Regiment marschierte allein und hatte nur ein Bataillon Jäger und die Reserveartillerie hinter sich; aber Maurice drehte sich an den Wegebiegungen vergeblich nach dem Riesentroß um, der am Tage vorher seine Aufmerksamkeit so gefesselt hatte: die Heiden waren verschwunden, nur Geschütze rollten dahin, die auf der platten Ebene größer als in Wirklichkeit aussahen, wie dunkle, hochbeinige Heuschrecken.

Hinter Saint-Etienne aber wurde der Weg scheußlich, in langen Wellen stieg er mitten durch unfruchtbare Felder an, auf denen nichts wuchs als ewige Fichtengehölze mit ihrem düstern Grün, das auf dem weißen Boden so traurig aussah. Durch eine derartige Öde waren sie noch nicht gekommen. Schlecht beschottert und von den letzten Regengüssen aufgeweicht, bildete der Weg ein reines Schlammbett von grauem, aufgelöstem Ton, in dem die Füße wie in Pech stecken blieben. Die Ermüdung stieg aufs äußerste, die Leute kamen vor Erschöpfung nicht mehr weiter. Und um den Ärger auf den Höhepunkt zu bringen, setzten jetzt Wolkenbrüche von erschreckender Heftigkeit ein. Die Artillerie blieb in dem Straßenkot stecken und mußte halten.

Chouteau, der den Reis der Korporalschaft trug, geriet außer Atem und warf das Paket, dessen Last ihn drückte, voller Wut weg, als er sich unbeobachtet glaubte. Loubet hatte es aber gesehen.

»Das ist nicht recht, so'ne Geschichte macht man nicht, dann können sich die Kameraden nachher das Maul wischen!«

»Ach Quatsch!« antwortete Chouteau, »es ist ja doch alles da, sie werden uns nachher schon andern geben.«

Und Loubet, der den Speck trug, fühlte sich durch diese Gründe überzeugt und erleichterte sich seinerseits.

Maurice litt mehr und mehr an seinem Fuß, der Hacken mußte sich aufs neue entzündet haben. Er zog das Bein so schmerzhaft nach, daß Jeans Besorgnis wuchs.

»Na, geht's nicht mehr, fängt es wieder an?«

Als es dann eine kurze Rast gab, um die Leute verschnaufen zu lassen, gab er ihm einen guten Rat.

»Ziehen Sie Ihren Schuh aus und gehen Sie barfuß, der kühle Dreck lindert das Brennen.«

Tatsächlich konnte Maurice so ohne zu große Anstrengung mitkommen; ein tiefes Dankbarkeitsgefühl kam über ihn. Es bedeutete wirklich ein großes Glück für eine Korporalschaft, einen derartigen gedienten Korporal zu besitzen, der mit jeder Kleinigkeit des Dienstes Bescheid wußte: ein recht ungeschliffener Bauer augenscheinlich, aber trotzdem ein guter Kerl.

Erst spät kamen sie in Contreuve an, wo sie biwakieren sollten, nachdem sie die Straße von Châlons nach Vouziers überschritten hatten und über einen steilen Abhang in die Schlucht der Semide hinabgestiegen waren. Die Landschaft wechselte; das waren schon die Ardennen. Und von den weiten, nackten Hügeln, die für das Lager des siebenten Korps ausgesucht waren und das Dorf beherrschten, sah man in der Ferne in den blassen Dunstschleiern der Regenströme verloren das Aisnetal.

Um sechs hatte Gaude noch nicht zur Verteilung geblasen. Daher beschloß Jean, um sich zu beschäftigen, und im übrigen durch den immer heftiger werdenden Wind beunruhigt, das Zelt selbst aufzuschlagen. Er zeigte seinen Leuten, wie man einen schwach abfallenden Platz aussuchen, wie man die Pfähle schräg einschlagen und um die Leinwand herum einen Graben zur Ableitung des Wassers ausheben müsse. Maurice war wegen seines Fußes von jeder Arbeit befreit; er sah voller Überraschung über die kluge Geschicklichkeit dieses groben, so schwerfällig aussehenden Kerls zu. Er fühlte sich zwar von Müdigkeit ganz zerbrochen, aber doch wieder von der alle Herzen erfüllenden Hoffnung erhoben. Seit Reims waren sie toll drauflos marschiert, sechzig Kilometer in zwei Tagemärschen. Wenn es so weiter ging und immer weiter geradeaus, dann würden sie zweifellos die zweite deutsche Heeresgruppe über den Haufen werfen und Bazaine die Hand reichen, ehe die dritte, die des Kronprinzen von Preußen, von der es hieß, sie sei bei Vitry-les-François, Zeit gefunden hätte, um sich wieder gegen Verdun zu wenden.

»Ach verflucht! Läßt man uns denn vor Hunger verrecken?« fragte Chouteau um sieben und stellte fest, daß noch keine Verteilung stattgefunden habe.

Klugerweise hatte Jean von Loubet schon das Feuer anmachen und dann den Kessel mit Wasser aufsetzen lassen; und da sie kein Holz hatten, hatte er ein Auge zudrücken müssen, als dieser, um sich welches zu besorgen, Latten von einem benachbarten Gartenzaun abriß. Als er dann aber davon sprach, Reis mit Speck machen zu lassen, mußten sie gestehen, daß der Reis und der Speck im Straßendreck von Saint-Etienne liegengeblieben waren. Chouteau log hartnäckig und behauptete, das Paket hätte sich von seinem Tornister losgemacht, ohne daß er etwas davon gemerkt hätte.

»Schweinehunde seid ihr!« schrie Jean voller Wut. »Das Essen wegwerfen, wenn so viel arme Teufel mit leerem Magen herumlaufen!«

Ebenso war es mit den drei auf die Tornister geschnallten Broten: sie hatten nicht auf ihn gehört, und der Regen hatte die Brote so aufgeweicht, daß sie ganz zergangen waren, ein reiner Matsch, den man unmöglich zwischen die Zähne nehmen konnte.

»Nette Kerle seid ihr!« wiederholte er. »Wir haben ja alles! Da sitzen wir nun ohne eine Rinde ... Ach! verdammte Schweinehunde seid ihr!«

Gerade ertönte der Hornruf für den Sergeanten in einer dienstlichen Angelegenheit, und der Sergeant Sapin kam mit seinem trübseligen Gesicht, um den Leuten seiner Abteilung zu sagen, daß sie sich mit ihren eisernen Beständen begnügen müßten, da jede Verteilung unmöglich sei. Der Train wäre bei dem schlechten Wetter auf dem Wege stecken geblieben, hieß es. Und die Herde, die hatte sich wohl infolge Gegenbefehls verkrümelt. Später erfuhren sie, daß, weil das fünfte und zwölfte Korps heute wieder nach Réthel hinaufgestiegen waren, wo das Hauptquartier sich einrichten sollte, die Vorräte aller Dörfer dorthin zusammengeströmt seien, und zugleich auch die Bevölkerung in ihrem fieberhaften Wunsch, den Kaiser zu sehen, daß vor dem siebenten Korps das Land sich völlig entleert hatte: kein Fleisch, kein Brot, nicht mal Einwohner mehr. Und als Gipfel allen Unglücks hatte ein Mißverständnis die Vorräte der Intendantur nach Chêne-Populeur geleitet. Während des ganzen Krieges war es eine ständige Verzweiflung über die unseligen Intendanten, über die die Soldaten zu brüllen hatten und deren Fehler häufig nur darin bestand, daß sie genau an den Treffpunkten waren, an denen die Truppen nicht eintrafen.

»Dreckige Schweinehunde, das seid ihr!« wiederholte Jean außer sich, »ihr verdient gar nicht, daß ich mir noch die Mühe gebe, doch noch etwas für euch auszugraben; aber schließlich muß ich doch dafür aufkommen, daß ihr nicht auf dem Marsche zusammenklappt!«

Er ging auf Entdeckungen los, was jeder gute Korporal tun muß, und nahm Pache mit sich, den er wegen seiner Sanftmut gern hatte, obwohl er ihm reichlich tief im Pfaffentum steckte. Einen Augenblick vorher hatte Loubet in zwei- oder dreihundert Meter Entfernung einen kleinen Hof entdeckt, eine der letzten Behausungen von Contreuve, wo er einen offenbar schwunghaft gehenden Handel bemerkte. Er rief Chouteau und Lapoulle zu sich und sagte:

»Wir wollen auch mal losziehen. Mir kommt's so vor, als ob es da unten allerlei Kram gäbe.«

Maurice wurde zur Bewachung des kochenden Wasserkessels zurückgelassen mit dem Auftrage, das Feuer zu unterhalten. Er hatte sich auf seinen Mantel gesetzt und den Schuh ausgezogen, um seine Wunde trocknen zu lassen. Der Anblick des Lagers fesselte ihn; alle Korporalschaften waren in Bewegung, da sie ja doch auf eine Verteilung nicht mehr zu warten brauchten. Er kam zu dem Schluß, daß es manchen stets an allem fehle, während andere, entsprechend der Voraussicht und der Geschicklichkeit des Korporals und der Leute, stets in Überfluß lebten. Mitten in der gewaltigen ihn umgebenden Bewegung sah er durch die Zelte und die Gewehrpyramiden hindurch Leute, die nicht einmal ein Feuer hatten anzünden können, andere, die sich schon voller Ergebung für die Nacht hingelegt hatten, aber dann wieder auch welche, die mit großer Eßlust Gott weiß was für gute Sachen schmausten. Und was ihn anderseits wieder in Erstaunen versetzte, das war die schöne Ordnung der Reserveartillerie, die über ihm auf dem Hügel lagerte. Die Sonne schien bei ihrem Untergang zwischen zwei Wolken hindurch und lag auf den Geschützen, denen die Artilleristen schon den Schmutz des Weges abgewaschen hatten.

Währenddessen hatte es sich in dem kleinen Hofe, auf den Loubet und seine Kameraden sich spitzten, ihr Brigadebefehlshaber General Bourgain-Desfeuilles bequem gemacht. Er hatte gefunden, daß das Bett anginge, und hatte sich mit einem Eierkuchen und einem gebratenen Huhn zu Tisch gesetzt, was ihn in köstliche Laune versetzte; und da der Oberst von Vineuil gerade zu einer dienstlichen Besprechung kam, lud er ihn zum Essen ein. Sie saßen also zusammen und wurden von einem großen blonden Kerl bedient, der erst drei Tage bei dem Bauer in Dienst war und Elsässer zu sein behauptete, ein in den Zusammenbruch von Fröschweiler hineingerisserne Heimatloser. Der General sprach ganz frei vor dem Manne, erläuterte den Marsch des Heeres und fragte ihn dann nach Wegen und Entfernungen, wobei er vergaß, daß der doch nicht aus den Ardennen stammte. Die vollständige Unwissenheit, die er bei seinen Fragen bewies, machte den Oberst schließlich ganz unruhig. Er hatte in Mézières gelebt. Einige genaue Erklärungen, die er machte, entrissen dem General den Ruf:

»Ach was, es ist verrückt! Wie soll man in einem Lande fechten, das man nicht kennt!«

Der Oberst machte eine unbestimmte, verzweiflungsvolle Bewegung. Er wußte, daß seit der Kriegserklärung allen Offizieren Karten von Deutschland zugeteilt waren, während sicher kein einziger eine Karte von Frankreich besaß. Was er seit einem Monat sah und hörte, war niederschmetternd. Da er für einen etwas schwachen und beschränkten Führer galt, was ihn bei seinem Regiment eher beliebt als gefürchtet machte, so blieb ihm nichts als sein persönlicher Mut.

»Nicht mal ruhig essen kann man!« schrie plötzlich unvermittelt der General. »Was gibt's denn da so zu brüllen? Sieh mal nach, Elsässer!«

Aber der Bauer kam schon schluchzend mit verzweifelten Gebärden herein. Die Soldaten plünderten, Jäger und Zuaven räumten ihm das Haus aus. Er hatte zuerst die Schwäche gehabt, einen Laden aufzumachen, da er der einzige im Dorfe war, der Eier, Kartoffeln, Kaninchen besaß. Er verkaufte, ohne sie zu sehr zu betrügen, steckte sein Geld in die Tasche und gab seine Ware hin; das ging so gut, daß schließlich die Käufer, deren Zahl dauernd anwuchs, ihn überrannten, überschrien und herumschubsten und alles ohne zu bezahlen wegnahmen. Wenn während des Feldzuges die Bauern alles versteckten und sogar ein Glas Wasser verweigerten, so geschah das lediglich aus Furcht vor diesem langsamen, unwiderstehlichen Druck der menschlichen Flut, die sie aus ihren Behausungen herausdrängte und alles mit wegnahm.

»Ach, mein Guter, lassen Sie mich in Ruh'!« antwortete der General aufgebracht. »Gewiß müßten mal ein Dutzend von diesen Lumpen erschossen werden. Aber kann man's?«

Und er ließ die Tür schließen, um nicht dazwischenfahren zu müssen, während der Oberst ihn darüber aufklärte, daß es keine Verteilung gegeben habe und die Leute hungrig seien.

Loubet hatte draußen gerade ein Kartoffelfeld gefunden und sich mit Lapoulle darüber hergemacht; mit beiden Händen wühlten sie darin herum, rissen Kartoffeln aus und stopften sich die Taschen voll. Chouteau aber, der über eine niedrige Mauer gesehen hatte, pfiff den Ruf zum Appell, auf den sie zu ihm kamen und in laute Freude ausbrachen: eine Gänseherde, etwa zehn prachtvolle Gänse, watschelten hoheitsvoll in einem engen Hofe herum. Sofort wurde Kriegsrat gehalten und Lapoulle mit einigem Zureden dazu gebracht, über die Mauer zu klettern. Der Kampf war furchtbar; die Gans, die er gepackt hatte, zerquetschte ihm mit ihrer harten Klemme von Schnabel fast die Nase. Da packte er sie an dem Hals und wollte sie erwürgen, während sie ihm Arme und Bauch mit ihren starken Füßen bearbeitete. Er mußte ihr mit der Faust den Schädel eindrücken, und trotzdem wehrte sie sich noch. Schleunigst riß er aus, von dem Rest der Herde verfolgt, der ihm die Hosen zerriß.

Als alle drei mit der Gans und den Kartoffeln in einem Sack versteckt zurückkamen, fanden sie Jean und Pache, die ebenfalls glückselig von ihrer Unternehmung zurückgekommen waren, mit vier frischen Broten und einem Käse beladen, die sie einer braven alten Frau abgekauft hatten.

»Das Wasser kocht, wir wollen Kaffee machen,« sagte der Korporal. »Wir haben Käse und Brot, das gibt ja eine wahre Schlemmerei!«

Aber als er plötzlich die zu seinen Füßen ausgestreckte Gans bemerkte, konnte er ein Lachen nicht zurückhalten. Er befühlte sie voll Sachverständnis, von Bewunderung hingerissen.

»Herrgott nochmal, das schöne Tier! Die wiegt ja an zwanzig Pfund!«

»Wir trafen den Vogel,« sagte Loubet in seiner Spaßvogelweise, »und er wollte gern unsere Bekanntschaft machen.«

Jean zeigte durch eine Bewegung, daß er nicht mehr darüber wissen wollte. Man mußte ja leben. Und dann, lieber Gott! Warum sollten die armen Teufel nicht auch mal schlemmen, die den Geschmack von Geflügel wohl kaum kannten?

Loubet hatte schon eine wahre Glut entfacht. Pache und Lapoulle pflückten eifrig die Gans. Chouteau, der zu den Artilleristen gelaufen war, um etwas Bindfaden zu holen, kam und hängte sie zwischen zwei Bajonetten an das Feuer, und Maurice mußte sie von Zeit zu Zeit durch einen kleinen Stoß umdrehen. Unten tropfte das Fett in die Schüssel der Korporalschaft. Es war ein Siegesfest der Bindfadenbratkunst. Das ganze Regiment stand im Kreise herum, von dem guten Geruch angelockt. War das ein Schmaus! Gänsebraten, gekochte Kartoffeln, Käse, Brot! Nachdem Jean die Gans zerlegt hatte, machte sich die Korporalschaft bis über die Augen drüber her. Zugeteilt wurde nicht; jeder nahm, soviel er wollte. Sie brachten sogar ein Stückchen zu der Artillerie hinüber, die den Bindfaden hergegeben hatte.

Die Offiziere des Regiments fasteten nun heute abend. Durch einen Fehler in der Leitung war der Küchenwagen auf Abwege geraten, zweifellos hinter dem großen Train her. Wenn die Mannschaften hungerten und keine Verteilung stattfinden konnte, dann fanden die schließlich fast immer noch etwas Eßbares, sie halfen sich gegenseitig aus, die Leute der verschiedenen Korporalschaften legten ihre Vorräte zusammen; der Offizier aber konnte, sich selbst überlassen, alleinstehend, vor Hunger platzen, ohne irgend etwas dagegen tun zu können, sobald der Marketender fehlte.

Chouteau, in das Gänsegerippe vergraben, grinste daher, als er Hauptmann Beaudouin sich über das Verschwinden des Küchenwagens ereifern hörte, während er ihn in seiner steifen, stolzen Haltung vorbeigehen sah. Er zeigte auf ihn mit einem Augenzwinkern:

»Seht mal an, wie ihm die Nase wackelt!... Hundert Sous gäbe er für den Stüt!«

Alle hatten ihren Spaß an dem Hunger des Hauptmanns, der sich mit seiner Jugend und seiner Härte bei den Leuten nicht beliebt machen konnte, ein Stänker, wie sie ihn nannten. Einen Augenblick schien er drauf und dran, sich wegen des Skandals, den sie mit ihrer Gans machten, an die Korporalschaft wenden zu wollen. Aber dann fürchtete er wohl, daß er seinen Hunger zeigen könnte, und ging erhobenen Hauptes davon, als hätte er nichts gesehen.

Leutnant Rochas dagegen, den auch der Heißhunger plagte, wandte sich vergnügt lachend nach der glücklichen Korporalschaft um. Ihn beteten seine Leute an, zunächst, weil er den Hauptmann, diesen aus Saint-Cyr hergelaufenen Laffen, nicht leiden konnte, und dann, weil er den Affen geschleppt hatte wie sie alle. Er war zwar nicht immer gerade gemütlich und manchmal so grob, daß man ihm am liebsten ein paar heruntergehauen hätte.

Jean hatte sich durch einen Wink mit den Kameraden verständigt; er stand auf und ließ Rochas hinter sich her hinter das Zelt kommen.

»Herr Leutnant, sagen Sie, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, wenn es Ihnen recht wäre ...« Und er reichte ihm ein Stück Brot und eine Schüssel hin, in der eine Gänsekeule auf sechs großen Kartoffeln lag.

Heute nacht brauchten sie wieder einmal nicht in Schlaf gesungen werden. Die sechs verdauten das Viech mit geballten Fäusten. Und sie konnten sich nur bei dem Korporal für die ordentliche Art und Weise bedanken, in der er das Zelt aufgeschlagen hatte, denn sie merkten nicht einmal was von dem heftigen Sturm, der sich, von einem Sturzregen begleitet, gegen zwei Uhr erhob: Zelte wurden weggerissen, die Leute fuhren durchnäßt aus dem Schlafe auf und mußten in der Finsternis herumlaufen; ihr eigenes aber hielt gut aus, und sie lagen wohl aufgehoben im Trocknen, ohne einen Tropfen Wasser, dank den Rinnen, in denen die Sintflut ablief.

Maurice erwachte, als es hell war; und da sie erst gegen acht Uhr weitermarschieren sollten, kam er auf den Gedanken, auf den Hügel nach dem Lager der Reserveartillerie zu gehen und seinem Vetter Honoré die Hand zu geben. Sein durch eine gute Nachtruhe gekräftigter Fuß machte ihm weniger zu schaffen. Wieder erregte der so ordentlich aufgestellte Artilleriepark seine Bewunderung, die sechs Geschütze jeder Batterie genau in einer Linie, hinter ihnen die Protzen, die Munitionswagen, Vorratswagen, Schmieden. Weiterhin wieherten die Pferde an der Leine, die Nasen dem Sonnenaufgang zugekehrt. Er fand Honorés Zelt sofort infolge der vollkommenen Ordnung, die den Leuten jedes Geschützes eine besondere Reihe von Zelten zuweist, so daß der Anblick eines Lagers ohne weiteres die Anzahl der Geschütze erkennen läßt.

Als Maurice eintraf, waren die Artilleristen schon auf und tranken Kaffee; zwischen dem Spitzenreiter Adolf und dem Richtkanonier Louis, seinem »Gatten«, herrschte Zank. In den drei Jahren, die sie miteinander »verheiratet« waren, gemäß dem Brauch, einen Berittenen und einen der Bedienung zu Fuß zusammenzukoppeln, kamen sie gut miteinander aus, solange es nicht zum Essen ging. Louis, der gebildeter war und recht klug, nahm die Abhängigkeit, in der jeder Berittene seinen Fußgänger hält, ruhig hin; er schlug das Zelt auf, ging zum Arbeitsdienst, sorgte für die Suppe, während Adolf sich mit der Miene vollkommenster Oberhoheit mit seinen beiden Pferden abgab. Der erstere bockte aber, schwarz und mager wie er war und an außerordentlichem Hunger leidend, wenn der andere, sehr lange mit seinem blonden Riesenschnurrbart sich als Herr zuerst bedienen wollte. Heute morgen kam der Zank davon her, daß Louis, der den Kaffee gemacht hatte, Adolf beschuldigte, alles allein zu trinken. Sie mußten ausgesöhnt werden.

Jeden Morgen nach dem Wecken ging Honoré, um nach seinem Geschütz zu sehen, ließ es unter seinen Augen vom Nachttau trocknen, als ob er ein Lieblingstier abriebe aus Furcht, es könnte Reißen bekommen. Da stand er also wie ein Vater und sah es in der kühlen Morgenluft leuchten, als er Maurice erkannte.

»Sieh da! Ich wußte, die 106er lägen in der Nähe; ich habe gestern einen Brief aus Remilly bekommen und wollte herunterkommen ... Laß uns einen Weißen trinken.«

Um mit ihm allein zu sein, brachte er ihn zu dem kleinen Hof, den die Soldaten am Abend vorher geplündert hatten, wo aber der unverbesserliche Bauer trotz allem voller Gier nach Gewinn nun eine Art Kneipe aufgemacht hatte, indem er ein Fäßchen Weißwein auflegte. Auf einem Brett vor der Türe hielt er seine Ware für vier Sous das Glas feil, wobei er von dem Knecht unterstützt wurde, den er erst vor drei Tagen gemietet hatte, dem riesigen blonden Elsässer.

Honoré stieß gerade mit Maurice an, als seine Augen auf diesen Menschen fielen. Verblüfft sah er ihn einen Augenblick an. Dann stieß er einen fürchterlichen Fluch aus.

»Herrgottsdonnerwetter! Goliath!«

Er sprang vorwärts und wollte ihm an die Gurgel. Aber der Bauer, der sich einbildete, man wolle ihn wieder ausrauben, sprang zurück und verschanzte sich. Eine Verwirrung entstand im Augenblick; alle Soldaten, die da waren, stürzten sich dazwischen, während der Wachtmeister fast an seinem wütenden Geschrei erstickte:

»Mach doch auf, mach doch auf, dämliches Viech!... Das ist ja ein Spion, ich sage dir, das ist ein Spion!«

Jetzt zweifelte Maurice nicht länger. Er hatte ganz genau den Mann wiedererkannt, den man im Lager von Mülhausen aus Mangel an Beweisen hatte laufen lassen; und dieser Mann war Goliath, der frühere Knecht Vater Fouchards in Nemilly. Als sich der Bauer endlich dazu verstand, die Tür zu öffnen, konnten sie ruhig überall herumwühlen; der Elsässer, der blonde Riese mit dem gutmütigen Gesicht, war verschwunden, der Mann, den der General Bourgain-Desfeuilles am Abend vorher vergeblich ausgefragt hatte und vor dem er selbst beim Essen in vollster Ahnungslosigkeit alles ausplauderte. Zweifellos war der Bursche durch ein nach hinten hinaus gehendes Fenster entsprungen, das sie offen fanden; aber vergeblich klapperten sie die ganze Umgebung ab; so groß er war, hatte er sich verflüchtigt wie eine Rauchwolke. Maurice mußte Honoré, dessen Verzweiflung zu vielsagend für die Kameraden war, beiseite führen, denn die brauchten doch nicht gerade in diese traurigen Familiengeschichten einzudringen.

»Herrgottsdonnerwetter! wie herzlich gern hätte ich ihn erwürgt! Gerade dieser Brief, den ich gekriegt habe, hat mich so wütend auf ihn gemacht!«

Und nachdem sich beide ein paar Schritte vom Hof entfernt in einen Strohhaufen gesetzt hatten, gab er seinem Vetter den Brief.

Die alte Geschichte, diese unglückliche Liebe zwischen Honoré Fouchard und Silvine Morange. Ein braunes Mädchen mit schönen, hingebenden Augen, hatte sie ihre Mutter, eine verführte Arbeiterin, die in einer Fabrik in Naucourt arbeitete, sehr jung verloren, und Doktor Dalichamp, ihr Pate, ein braver Mann, der stets bereit war, die Kinder der Armen, die er entband, als eigene anzunehmen, war auf den Gedanken gekommen, sie als Kleinmagd beim Ohm Fouchard unterzubringen. Gewiß war der alte Bauer, der aus Gewinnsucht Schlachter geworden war und sein Fleisch bei zwanzig Gemeinden in der Runde absetzte, von schwarzem Geiz und erbarmungsloser Härte; aber er würde wenigstens auf die Kleine achten, und sie würde ihr Auskommen haben, wenn sie arbeitete. Jedenfalls würde sie vor dem Lasterleben in der Fabrik bewahrt bleiben. Und es ergab sich ganz natürlich, daß sich bei Vater Fouchard der Sohn des Hauses und die kleine Magd ineinander verliebten; Honoré war sechzehn, als Silvine zwölf war, und als sie sechzehn war, war er zwanzig; er wurde ausgelost und war begeistert über seine gute Nummer, da er entschlossen war, sie zu heiraten. Infolge der seltenen Ehrenhaftigkeit des jungen Mannes, die eine überlegende und ruhige Sinnesanlage erkennen ließ, war es zwischen ihnen zu nichts weiter als mächtigen Küssereien auf dem Heuboden gekommen. Als er aber zu seinem Vater von Heiraten sprach, erklärte dieser wütend und starrköpfig, erst müsse er ihn totschlagen; und er behielt das Mädchen ruhig da in der Hoffnung, die beiden würden sich zufriedengeben und die Geschichte so vorübergehen. Fast achtzehn Monate lang beteten sich die jungen Leute noch an und verlangten einander, ohne sich zu berühren. Infolge eines scheußlichen Vorgangs zwischen den beiden Männern stellte sich der Sohn dann, da er übrigens auch nicht länger bleiben konnte, und wurde nach Afrika geschickt, während der Alte darauf bestand, das Mädchen, mit dem er zufrieden war, zu behalten. Dann kam das Scheußliche: Silvine, die geschworen hatte zu warten, fand sich vierzehn Tage später eines Abends in den Armen eines Knechtes wieder, der seit etwa einem Monat angestellt war, eben dieses Goliath Steinberg, des Preußen, wie man ihn nannte, eines großen, netten Bengels mit kurzen blonden Haaren und einem rosigen, ewig lächelnden Gesicht, der Honorés Gefährte und Vertrauter geworden war. Hatte Vater Fouchard dieses Abenteuer heimlich gefördert? Hatte Silvine sich in einer Minute der Bewußtlosigkeit hingegeben oder war sie, krank vor Kummer, noch schwach von den Tränen der Trennung, halb vergewaltigt? Sie wußte es selbst nicht mehr, wie vom Donner betäubt; sie war schwanger geworden und ergab sich nun in die Notwendigkeit, Goliath zu heiraten. Immer lächelnd, weigerte der sich übrigens gar nicht und schob die Förmlichkeiten nur bis zur Geburt des Kleinen auf. Am Abend vor der Niederkunft verschwand er dann plötzlich. Später hieß es, er sei auf einen andern Hof in Dienst gegangen, nach Beaumont hinüber. Das war vor drei Jahren gewesen, und kein Mensch zweifelte jetzt noch daran, daß dieser nette Goliath, der den Mädchen so leicht Kinder machte, einer der Spione sei, mit denen Deutschland unsere Ostprovinzen bevölkerte. Als Honoré diese Geschichte in Afrika erfuhr, hatte er drei Monate im Lazarett bleiben müssen, als ob ihn der Feuerbrand der mächtigen Sonne da unten in den Nacken getroffen und zu Boden gestreckt hätte; und nie hatte er sich einen Urlaub zunutze gemacht und die Heimat besuchen wollen, aus Furcht, Silvine und das Kind wiederzusehen.

Die Hände zitterten dem Artilleristen, während Maurice den Brief las. Es war ein Brief von Silvine, der erste und einzige, den sie ihm je geschrieben hatte. Welchem Gefühl gehorchte sie, die unterwürfige, schweigsame, deren schöne schwarze Augen manchmal trotz ihrer fortdauernden Knechtschaft eine so außergewöhnliche Willensfestigkeit verrieten? Sie sagte nur, sie wüßte, er sei im Kriege, und daß, wenn sie ihn nie wiedersehen sollte, ihr der Gedanke zu schmerzhaft sei, er könne sterben in dem Glauben, sie liebe ihn nicht mehr. Sie liebte ihn immer noch, hätte nie einen andern geliebt; und das wiederholte sie vier Seiten lang in Ausdrücken, die stets auf dasselbe herauskamen, ohne den Versuch einer Entschuldigung oder einer Erklärung des Geschehenen. Und nicht ein Wort von dem Kinde, nichts als ein Lebewohl voll unendlicher Zärtlichkeit.

Der Brief rührte Maurice sehr; sein Vetter hatte ihn früher zu seinem Vertrauten gemacht. Er erhob die Augen, und da er ihn in Tränen sah, umarmte er ihn brüderlich.

»Mein armer Honoré!« Aber der Wachtmeister war schon seiner Rührung Herr geworden. Sorgfältig steckte er den Brief in die Tasche und knöpfte seine Jacke wieder zu.

»Ja, das sind so Geschichten, die einen umschmeißen ... Ach, der Gauner, hätte ich ihn doch abwürgen können! ... Na, wir werden schon sehen.«

Die Hörner ertönten zum Abbrechen des Lagers, und sie mußten laufen, um jeder wieder zu seinem Zelte zu kommen. Die Vorbereitungen zogen sich übrigens in die Länge; die Truppen mußten mit dem Tornister auf dem Rücken bis fast neun Uhr warten. Die Führer schien eine Ungewißheit ergriffen zu haben, die schon nicht mehr nach der schönen Festigkeit der ersten beiden Tage aussah, als das siebente Korps sechzig Kilometer in zwei Tagemärschen zurückgelegt hatte. Und eine merkwürdige, beunruhigende Nachricht lief seit dem Morgen um: die drei andern Korps hätten den Marsch nach Norden angetreten, das erste nach Jumville, das fünfte und zwölfte nach Réthel; das Widerspruchsvolle dieses Marsches erklärte man mit Verpflegungsschwierigkeiten. Dann zogen sie also nicht mehr auf Verdun? Warum dann dieser verlorene Tag? Das schlimmste war, daß die Preußen jetzt nicht mehr weit sein konnten, denn die Offiziere hatten bereits den Mannschaften mitgeteilt, sie dürften nicht nachbummeln, jeder Nachzügler könnte von den berittenen feindlichen Aufklärungstruppen aufgehoben werden.

Es war am 25. August, und wenn Maurice sich späterhin an Goliaths Verschwinden erinnerte, so fühlte er sich immer noch fest überzeugt, daß der Mann einer von denen war, die den deutschen Großen Generalstab über die genauen Bewegungen der Heeresgruppe von Châlons unterrichteten, wodurch der Richtungswechsel der dritten deutschen Heeresgruppe hervorgerufen wurde. Am nächsten Tage verließ der Kronprinz von Preußen Revigny, der Stellungswechsel begann, jener Flankenangriff mit seiner riesenhaften Entwicklung in bewundernswert geordneten Eilmärschen durch die Champagne und die Ardennen. Während die Franzosen zauderten und, wie von plötzlicher Lähmung ergriffen, auf der Stelle hin und herschwankten, machten die Preußen in ihrer riesigen Umgehung als Treiber bis zu vierzig Kilometer am Tage und schoben die Menschenherde, der sie auf der Spur waren, gegen den Grenzwald.

Endlich ging's los, und die Armee drehte sich an diesem Tage tatsächlich um ihren linken Flügel; das siebente Korps durchlief nicht mehr als die zwei Kilometer, die Contreuve von Vouziers trennen, während das fünfte und zwölfte Korps unbeweglich in Réthel blieben und das erste bei Attigny lag. Von Contreuve bis zum Aisnetal fing die Ebene wieder an in ihrer Nacktheit; bei der Annäherung an Vouziers wand sich die Straße über graues Gelände zwischen vereinzelten Hügeln hindurch, ohne Baum, ohne ein Haus, trübselig wie die Wüste; und der so kurze Tagemarsch wurde in einem ermüdeten, verärgerten Schritt zurückgelegt, was ihn noch schrecklich zu verlängern schien. Um Mittag machte man auf dem linken Ufer der Aisne halt und biwakierte auf der nackten Erde, deren letzte Erhöhungen das Tal beherrschten und von hier aus einen Überblick über die sich am Fluß entlang ziehende Straße nach Monthois gewährten, auf der sie den Feind erwarteten.

Aber Maurice war wahrhaft starr, als er auf eben dieser Straße von Monthois die Division Margueritte daherkommen sah, die ganze Reservekavallerie, die mit Unterstützung des siebenten Korps und der Aufklärung für die linke Flanke der Armee beauftragt war. Nach einem Gerücht zog sie wieder auf Chêne-Populeur. Warum entblößte man so den allein bedrohten Flügel? Warum ließ man die zweitausend Reiter, die man zur Aufklärung an entfernte Punkte hätte leiten müssen, durch die Mitte hindurchziehen, wo sie vollkommen unnütz waren? Das schlimmste war, daß sie bei der Kreuzung ihrer und der Bewegungen des siebenten Korps dessen Säulen unter unentwirrbarer Vermengung von Menschen, Geschirren und Pferden durchschneiden mußten. Chasseurs d'Afrique mußten fast zwei Stunden am Eingang von Vouziers warten.

Ein Zufall ließ Maurice Prosper erkennen, als der sein Pferd an den Rand eines Tümpels trieb; sie konnten sich einen Augenblick unterhalten. Der Jäger schien betäubt, verstört, wußte von nichts, hatte seit Reims nichts gesehen; ja doch, zwei Ulanen hatte er gesehen, Teufel, die auftauchten und wieder verschwanden, ohne daß man wußte, woher sie kamen noch wohin sie gingen. Man erzählte sich schon Geschichten wie die, daß vier Ulanen im Galopp in eine Stadt einritten, sie den Revolver in der Faust durchquerten und zwanzig Kilometer von ihrem Korps entfernt sie eroberten. Sie waren überall, sie zogen vor den Heeresteilen her, summend wie ein Bienenschwarm, ein beweglicher Vorhang, hinter dem die Infanterie ihre Bewegungen versteckte und in vollster Sicherheit wie zu Friedenszeiten marschieren konnte. Maurice krampfte sich das Herz zusammen, als er sah, wie die Straße von Jägern und Husaren vollgestopft war, die man so schlecht verwendete.

»Na, auf Wiedersehen!« sagte er und schüttelte dem Jäger die Hand; »vielleicht braucht man euch doch noch da vorne.«

Aber der Jäger schien über seine Tätigkeit verzweifelt. Er liebkoste Zephir mit einer betrübten Handbewegung, als er antwortete:

»Ach! Quatsch! Hier machen sie die Tiere tot und den Menschen tun sie nichts ... Es ist widerwärtig!«

Als Maurice am Abend den Schuh ausziehen wollte, um nach seinem Hacken zu sehen, in dem ein starkes Fieber bohrte, riß die Haut ab. Das Blut spritzte heraus, und er stieß einen Schmerzensschrei aus. Jean, der zufällig dabeistand, schien von großer mitleidiger Unruhe erfüllt.

»Hören Sie mal, das wird Ernst, Sie werden auf der Nase liegen bleiben. Da müssen wir drauf achten. Lassen Sie mich mal machen.«

Er kniete nieder, wusch die Wunde aus und verband sie mit reinem Leinen, das er aus seinem Tornister genommen hatte. Er machte das mit ganz mütterlichen Bewegungen, mit der Sanftheit eines erfahrenen Mannes, dessen dicke Finger auch zart sein können, wenn es not tut.

Unbesiegbare Rührung überkam Maurice, seine Augen trübten sich, aus dem Herzen stieg ihm in einem riesigen Bedürfnis nach Zuneigung der Wunsch auf die Lippen, ihn du zu nennen, als ob er in dem bisher mit Abscheu, ja, am Abend vorher noch mit Verachtung betrachteten Bauern einen Bruder gefunden hätte.

»Du bist wirklich ein braver Kerl... Ich danke dir, mein Alter.« Jean zeigte sein ruhiges Lächeln und nannte ihn glückstrahlend nun auch du.

»Jetzt habe ich auch noch Tabak, mein Junge; möchtest du eine Zigarette?«


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