Emile Zola
Der Zusammenbruch
Emile Zola

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6

»Herrgottsdonnerwetter!« sagte Chouteau am nächsten Morgen, als er zerbrochen und verfroren im Zelt aufwachte, »ich möchte wohl eine Brühe mit recht viel Fleisch drin haben.«

In Boult-aux-Bois, wo sie lagerten, hatte es am Abend nur eine spärliche Verteilung von Kartoffeln gegeben, da die Intendantur bei der wachsenden Verwirrung und weil sie durch die fortgesetzten Hin- und Hermärsche in Unordnung geraten war, die Truppen nie auf den festgelegten Treffpunkten antraf. Bei der schlechten Anordnung der Märsche und den Wanderungen der Herden wußte man nicht mehr, woher nehmen, und der Mangel stand vor der Tür.

Als Loubet herauskroch, schnitt er eine verzweifelte Fratze.

»Ach verflucht ja! Mit den Gänsen am Bindfaden ist's Schluß!«

Die Korporalschaft war verdrießlich, mißmutig. Wenn sie nichts mehr zu essen kriegten, ging's so nicht weiter. Und zudem noch der unaufhörliche Regen und der Dreck, in dem sie geschlafen hatten.

Als Chouteau sah, wie Pache nach seinem mit geschlossenen Lippen abgehaltenen Morgengebet sich bekreuzigte, fuhr er ihn wütend an:

»Bitte deinen lieben Gott doch, daß er uns für jeden ein paar Würstchen und einen Schoppen schickt.«

»Ach! wenn man wenigstens ein Brötchen hätte, soviel Brot wie man möchte!« seufzte Lapoulle, der bei seiner Rieseneßlust mehr unter Hunger zu leiden hatte als die andern.

Aber Leutnant Rochas brachte sie zum Schweigen. Es war ja gerade keine Schande, immer an seinen Bauch zu denken! Aber er schnallte ganz einfach seinen Hosenbund etwas enger. Seit die Geschichte sich entschieden verschlechterte und man zuweilen von weitem Gewehrfeuer hörte, hatte er all sein starrköpfiges Vertrauen wiedergefunden. Nachdem sie nun mal da waren, die Preußen, war es doch ganz einfach: man ging auf sie los und schlug sie! Er zuckte die Achseln hinter dem Rücken Hauptmann Beaudouins, des jungen Mannes, wie er ihn nannte, den der endgültige Verlust seines Gepäcks zur Verzweiflung brachte und der mit zusammengekniffenen Lippen und bleichem Gesicht nicht zur Ruhe kam. Nicht essen zu können geht ja noch; aber was ihn außer sich brachte, war, daß er sein Hemd nicht wechseln konnte.

Maurice war niedergeschlagen und fröstelnd aufgewacht. Sein Fuß hatte sich indessen dank den weiten Schuhen nicht weiter entzündet. Aber der Wolkenbruch von gestern abend, von dem sein Rock noch beschwert war, hatte ihm Steifheit in allen Gliedmaßen zurückgelassen. Und als er zum Wasserholen für den Kaffee geschickt wurde, blickte er über die Ebene, an deren einem Rande Boult-aux-Bois liegt: nach Westen und Norden steigen Wälder an, ein Hügel erhebt sich gegen das Dorf Belleville; nach Buzancy hinüber gegen Osten dehnt sich dagegen weites flaches Gelände in schwachen Wellen aus, in denen sich ein paar Weiler verstecken. Daher erwarteten sie den Feind? Als er mit der vollen Kanne vom Bache zurückkehrte, rief ihn eine in Tränen aufgelöste Bauernfamilie von der Schwelle ihres Hofes an und fragte ihn, ob die Soldaten dablieben, um sie zu verteidigen. Zu drei wiederholten Malen schon war das fünfte Korps bei dem Hin und Her der Gegenbefehle durch die Landschaft gekommen. Am Abend hatte man aus der Richtung von Bar her Geschütze gehört. Sicher standen die Preußen noch weiter als zwei Meilen entfernt. Und als Maurice den armen Leuten antwortete, daß auch das siebente Korps zweifellos weiterziehen werde, brachen sie in Jammern aus. Sie würden also im Stiche gelassen, und die Soldaten, die sie immer fliehend hin und her ziehen sahen, kämen gar nicht, um sich zu schlagen?

»Wer Zucker haben will,« sagte Loubet, als er den Kaffee einschenkte, »braucht nur seinen Daumen hineinzustecken und zu warten, bis er schmilzt.«

Kein Mensch lachte. Ärgerlich war es trotzdem, Kaffee ohne Zucker; und wenn sie wenigstens noch Zwieback gehabt hätten! Abends auf der Hochebene von Quatre-Champs hatten fast alle, um die Langeweile hinzubringen, die Vorräte aus ihren Tornistern aufgeputzt und bis auf die Krumen zerknabbert. Aber die Korporalschaft fand glücklicherweise ein Dutzend Kartoffeln und verteilte sie unter sich.

Maurice, der sich schon den Magen verdorben hatte, äußerte laut sein Bedauern.

»Wenn ich das in le Chêne gewußt hätte, hätte ich dort Brot gekauft!«

Jean hörte zu, sagte aber nichts. Er hatte sich beim Wecken mit Chouteau gezankt, den er nach Holz schicken wollte und der sich unverschämt weigerte, weil er nicht dran wäre, wie er sagte. Seitdem alles schief ging, wuchs auch der Mangel an Manneszucht, und die Führer wagten schließlich gar nicht mehr zu tadeln. Und Jean begriff bei seiner schönen Ruhe, daß er sein Ansehen als Korporal unterdrücken müsse, um nicht offene Meuterei hervorzurufen. So spielte er den guten Kerl und gab sich lediglich als guter Kamerad seiner Leute, denen seine Erfahrung fortgesetzt große Dienste leistete.

Wenn seine Korporalschaft auch nicht mehr so gut genährt war, verreckte sie doch noch nicht geradezu vor Hunger wie so manche andere. Aber Maurices Leiden rührte ihn besonders. Er fühlte, wie er schwächer wurde, und beobachtete ihn mit unruhigen Blicken, während er sich fragte, wie dieser gebrechliche Junge bis ans Ende durchkommen sollte.

Als Jean Maurice darüber klagen hörte, daß er kein Brot habe, stand er auf, verschwand einen Augenblick und kam wieder, nachdem er in seinem Tornister herumgesucht hatte. Und dann steckte er ihm einen Zwieback zu:

»Hier! versteck' das, ich habe nicht genug für alle zusammen.«

»Aber du selbst?« fragte der junge Mann ganz gerührt.

»Ach! ich! Hab' man keine Angst ... Ich habe noch zwei.«

Das war wahr; wie einen Schatz hatte er drei Stück Zwieback für den Fall eines Gefechts aufgehoben, weil er wußte, daß man auf dem Schlachtfelde sehr hungrig wird. Übrigens hatte er eine Kartoffel gegessen. Das genügte ihm. Er würde später schon sehen.

Gegen zehn Uhr geriet das siebente Korps wieder in Bewegung. Die erste Absicht des Marschalls war gewesen, es über Buzancy auf Stenay zu leiten, wo es die Maas überschreiten sollte. Aber die Preußen, die die Heeresgruppe von Châlons überholt hatten, mußten schon in Stenay sein, und es hieß, sogar schon in Buzancy. Das so nach Norden umgebogene siebente Korps hatte denn auch gerade Befehl erhalten, nach la Besace zu marschieren, einige zwanzig Kilometer von Boult-aux-Bois, um am nächsten Morgen von dort aus die Maas bei Mouzon zu überschreiten. Der Abmarsch ging voller Mißmut vor sich; die Leute brummten wegen ihres leeren Magens und ihrer schlecht ausgeruhten Glieder, die von den Anstrengungen und den Haltepausen der vorhergehenden Tage schlaff geworden waren; die Offiziere ergaben sich finster in das Verhängnis, in das sie hineinmarschierten; sie klagten über die Untätigkeit und ärgerten sich, daß man nicht bei Buzancy dem fünften Korps zu Hilfe gekommen sei, als man dessen Geschütze hörte. Dies Korps mußte auch zurückgehen und sich auf Nouart ziehen, während das zwölfte von la Besace nach Mouzon aufbrach und das erste die Richtung auf Raucourt einschlug. Es war das sinnlose Getrappel einer von Hunden bedrängten und geängstigten Herde, was sich da jetzt nach endlosen Verzögerungen und Bummeleien gegen die so heiß ersehnte Maas hinschob.

Als die 106er Boult-aux-Bois nach der Kavallerie und Artillerie unter dem mächtigen Getöse der drei Divisionen verließen, die die Ebene mit marschierenden Männern überdeckten, bezog der Himmel sich von neuem mit schweren, bleigrauen Wolken, und das stimmte die Mannschaften vollends trübselig. Sie folgten der mit prächtigen Pappeln besäumten Heerstraße nach Buzancy. In Germond, einem Dorfe mit rauchenden Misthaufen vor den Türen zu beiden Seiten des Weges, jammerten die Weiber; sie nahmen ihre Kinder und hielten sie den vorbeiziehenden Truppen entgegen, als ob die sie mitnehmen sollten. Keinen Bissen Brot oder auch nur eine Kartoffel gab es dort mehr. Anstatt dann weiter auf Buzancy zu gehen, wandten sich die 106er links und stiegen nach Authe hinauf; und als nun die Mannschaften auf der andern Seite der Ebene Belleville auf seinem Hügel wiedersahen, durch das sie erst am Abend gekommen waren, kam es ihnen ganz klar zum Bewußtsein, daß sie im Kreise herumliefen.

»Gottsdonnerwetter!« brummte Chouteau, »denken die denn, wir wären Kreisel?«

Und Loubet fügte hinzu:

»Schöne Fünfgroschen-Generäle, die nicht hü und nicht hott wissen! Man sieht wohl, unsere Beine sind ihnen nicht viel wert.«

Der Ärger war allgemein. So macht man doch die Leute nicht schlapp aus Vergnügen, sie spazierenzuschleppen! Über die kahle Ebene zogen sie zwischen weiten Geländefalten, in zwei getrennten Gruppen, eine an jeder Seite, zwischen denen die Offiziere sich frei bewegten; aber es war nicht mehr wie in der Champagne am Morgen nach Reims ein durch Scherze und Lieder erheitertes Marschieren, als sie ihren Tornister noch mit Vergnügen trugen und die Last auf ihren Schultern ihnen durch die Hoffnung erleichtert wurde, sie würden den Preußen zuvorkommen und sie schlagen: jetzt schleppten sie die Füße schweigend, gereizt nach, voller Wut über das Gewehr, das ihnen die Schulter zermalmte, über den Tornister, der sie erdrückte, ohne Vertrauen in ihre Führer, die sich in eine so verzweifelte Lage bringen ließen, und sie marschierten nur noch wie eine Herde unter der Drohung der Peitsche. Das unselige Heer begann seinen Leidensweg.

Maurice war indessen seit einigen Minuten voller Aufmerksamkeit. Zur Linken stiegen einige Hügel hintereinander empor, und er hatte gerade aus einem kleinen Gehölz in der Ferne einen Reiter herauskommen sehen. Fast im selben Augenblick kam noch einer, dann wieder einer. Alle drei hielten bewegungslos, nicht größer als eine Hand hoch, scharf, fein gezeichnet, wie Spielzeug. Er dachte, es müßte ein vorgeschobener Posten der Husaren sein, ein paar zurückkommende Meldereiter, als blitzende Punkte auf ihren Schultern, zweifellos der Widerschein ihrer Messingepauletten, ihn in Erstaunen setzten.

»Sieh mal da unten!« sagte er zu Jean, den er neben sich hatte, und stieß ihn mit dem Ellbogen an, »Ulanen!«

Der Korporal riß die Augen auf.

»Da!«

Wirklich waren es Ulanen, die ersten Preußen, die die 106er sahen. In den sechs Wochen, die der Feldzug dauerte, hatte er nicht nur noch keinen Schuß abgefeuert, sondern auch noch keinen Feind gesehen. Das Wort lief weiter, alle Köpfe wandten sich in wachsender Neugierde. Sie sahen sehr gut aus, die Ulanen.

»Der eine da sieht mal hübsch fett aus«, bemerkte Loubet.

Aber links von dem Gehölz auf einem höheren Platze zeigte sich eine ganze Schwadron. Angesichts dieser drohenden Erscheinung machte die ganze Gruppe halt. Befehle kamen, die 106er nahmen Stellung hinter Bäumen am Rande eines Baches. Schon kam die Artillerie im Galopp zurück und pflanzte sich auf einer Kuppe auf. Zwei Stunden lang blieben sie so in Gefechtsstellung liegen; es wurde spät, ohne daß sich etwas Neues gezeigt hatte. Die Masse der feindlichen Kavallerie blieb unbeweglich am Horizont. Aber endlich begriffen sie, daß sie kostbare Zeit verloren, und zogen weiter.

»Na ja,« murmelte Jean mit Bedauern, »diesmal war's noch nichts.«

Auch Maurice brannten die Hände vor Begierde, wenigstens einen Schuß abzufeuern. Und er kam wieder auf den am Abend vorher begangenen Fehler zurück, daß man da nicht dem fünften Korps zu Hilfe gekommen sei. Wenn die Preußen überhaupt nicht angriffen, so mußte das doch seinen Grund darin haben, daß sie noch nicht genügend Infanterie zur Verfügung hatten, so daß die Maßnahmen ihrer Kavallerie keinen andern Zweck haben konnten, als die Korps auf ihrem Marsche hinzuhalten. Abermals ging man ihnen in die Falle. Und tatsächlich sahen die 106er von diesem Augenblick an fortwährend in jeder Geländefalte zu ihrer Linken Ulanen: sie folgten ihnen, beobachteten sie, verschwanden hinter einem Hof, um an der Ecke eines Gehölzes wieder aufzutauchen.

Allmählich verloren die Soldaten ihre Nerven, als sie sahen, wie sie so aus der Entfernung eingewickelt wurden wie in den Maschen eines unsichtbaren Netzes.

»Schließlich kommen sie uns aber zu dumm,« wiederholten selbst Pache und Lapoulle. »Es wäre doch noch ein Trost, wenn man ihnen mal eine blaue Bohne rüberschicken könnte.«

Aber sie marschierten, sie marschierten immer weiter, voller Mühsal in einer bereits schwerfällig werdenden Gangart, die sie schnell ermüdete. In dem Unbehagen dieses Tagemarsches fühlte man von allen Seiten den Feind herankommen, wie man ein Gewitter heraufkommen fühlt, ehe es sich noch über dem Horizont zeigt. Strenge Befehle für die gute Haltung der Nachhut wurden gegeben, und es gab keine Nachzügler mehr, da sie sicher waren, daß hinter dem Korps die Preußen alles aufheben würden. Deren Infanterie kam in blitzschnellen Märschen heran, während die französischen Regimenter, erschöpft und gelähmt, nicht von der Stelle kamen.

In Authe klärte der Himmel sich auf, und Maurice, der sich nach der Sonne richtete, bemerkte, daß sie, anstatt weiter gegen le Chêne hinaufzusteigen, das nur gute drei Meilen von dort entfernt war, sich wendeten, um genau gegen Osten zu marschieren. Es war zwei Uhr, und sie litten unter der erdrückenden Hitze, während sie zwei Tage lang im Regen vor Frost geklappert hatten. Der Weg stieg in langen Windungen über einsame Ebenen aufwärts. Kein Baum, keine Seele, kaum hier und da ein kleines Gehölz inmitten der Trübseligkeit dieser kahlen Landschaft; und das traurige Schweigen der Einsamkeit hielt die Soldaten gepackt, die gesenkten Kopfes schwitzend die Füße nachschleppten. Endlich kam Saint-Pierremont, ein paar armselige Häuser auf einem kleinen Berge. Es ging nicht durch das Dorf; Maurice stellte fest, daß sie gleich links abbogen und die Richtung nach Norden gegen la Besace wieder aufnahmen. Er begriff, daß diesmal diese Richtung gewählt war, um unter allen Umständen Mouzon vor den Preußen zu erreichen. Aber würde man das mit derartig ermüdeten, mutlosen Truppen erreichen können? In Saint-Pierremont waren die drei Ulanen an einer entfernten Biegung der von Buzancy kommenden Straße wieder erschienen; und als die Nachhut das Dorf verließ, fing eine Batterie an zu spielen, und ein paar Granaten kamen, ohne Schaden anzurichten, auf sie zu. Man beantwortete sie nicht, sondern setzte den immer beschwerlicher werdenden Marsch fort.

Von Saint-Pierremont bis la Besace sind drei starke Meilen, und Jean, dem Maurice dies sagte, gab seine Verzweiflung durch eine Bewegung zu erkennen; nie würden die Leute zwölf Kilometer machen, das sah er an bestimmten Anzeichen, ihrer Atemlosigkeit, dem blöden Gesichtsausdruck. Der Weg stieg immer höher an zwischen zwei sich allmählich einander nähernden Hügeln. Sie mußten halten. Aber diese Rast machte ihnen die Glieder erst recht steif, und als es weiter gehen sollte, war es schlimmer als vorher: die Regimenter kamen nicht aus der Stelle, die Leute fielen um. Als Jean sah, wie Maurice erblaßte und vor Mattigkeit die Augen verdrehte, fing er gegen seine Gewohnheit an zu plaudern und versuchte ihn durch einen gehörigen Wortschwall wach zu halten, da er bei der gedankenlosen Bewegung des Marschierens das Bewußtsein verlor.

»Also deine Schwester wohnt in Sedan, da kommen wir vielleicht durch.«

»Durch Sedan, bewahre! Das liegt nicht auf unserm Wege; wir müßten verrückt sein.«

»Ist deine Schwester noch jung?«

»Sie ist ebenso alt wie ich; ich habe dir doch gesagt, daß wir Zwillinge sind.«

»Sieht sie dir ähnlich?«

»Ja, sie ist auch blond, ach! was für lockiges, weiches Haar! ... Eine ganz kleine, zierliche Gestalt und nicht laut, o nein! ... Liebe Henriette!«

»Ihr habt euch wohl sehr lieb?«

»Ja, ja ...«

Dann war es wieder still, und als Jean Maurice ansah, bemerkte er, wie dessen Augen sich schlossen und daß er fallen würde.

»He, mein armer Junge! ... halt dich doch, Himmelherrgottsdonnerwetter! Gib mir mal einen Augenblick deine Flinte, dann ruhst du dich aus ... Wir lassen ja die halben Leute auf der Straße liegen; es ist ja Gottes unmöglich, daß wir heute noch weiterkommen!«

Ihnen gegenüber bemerkte er jetzt Oches, dessen spärliches Gemäuer sich an einem Hügel heraufzog. Die ganz gelbe Kirche lag alles beherrschend hoch oben zwischen Bäumen.

»Da werden wir ganz sicher schlafen.«

Seine Ahnung war richtig. General Douay bemerkte die hochgradige Ermattung seiner Truppen und verzweifelte daran, heute noch la Besace zu erreichen. Was ihn aber vor allem zu diesem Entschluß brachte, war das Eintreffen des Trosses, dieses ärgerlichen Schwanzes, den er seit Reims hinter sich her schleppte und dessen drei Meilen Wagen und Viehzeug seinen Marsch so furchtbar erschwerten. Er hatte Befehl gegeben, ihn von Quatre-Champs unmittelbar nach Saint-Pierremont zu leiten; aber erst in Oches traten die Gespanne in einem solchen Erschöpfungszustande wieder zum Korps, daß die Pferde sich weigerten, weiterzugehen. Es war schon fünf Uhr. Der General fürchtete sich vor einem Gefecht im Paß von Stonne und glaubte deshalb die vom Marschall festgelegte Tagesstrecke nicht vollenden zu sollen. Er ließ daher halten und lagern, den Troß unten auf den Wiesen unter dem Schutze einer Division, während die Artillerie als Nachhut auf den Hügeln Stellung bezog und die Brigade, die am nächsten Morgen als Nachhut dienen sollte, auf einem Hügel gegenüber Saint-Pierremont blieb. Eine andere Division, zu der die Brigade Bourgain-Desfeuilles gehörte, biwakierte hinter der Kirche auf einer weiten, von einem Eichengehölz umsäumten Fläche.

Die Nacht brach schon herein, als die 106er sich endlich am Rande dieses Gehölzes einrichten konnten; eine solche Verwirrung hatte bei Auswahl und Zuteilung der Lagerplätze geherrscht.

»Denk' nicht dran!« schrie Chouteau voller Wut, »ich esse nicht, ich schlafe!«

Der Schrei wurde allgemein unter den Mannschaften. Viele hatten gar nicht mehr die Kraft, ihre Zelte aufzuschlagen, und schliefen wie eine leblose Masse, wo sie hinfielen. Um übrigens essen zu können, hätte auch eine Verteilung durch die Intendantur stattfinden müssen; die Intendantur erwartete das siebente Korps aber in la Besace und war nicht in Oches. Bei der allgemeinen Verwahrlosung und Nachlässigkeit wurden nicht einmal die Korporale zusammengeblasen. Mochte sich verpflegen, wer konnte! Von diesem Zeitpunkt an fanden überhaupt keine Verteilungen mehr statt, und die Leute mußten von den Vorräten leben, die sie eigentlich in ihren Tornistern hätten haben sollen; die Tornister aber waren leer, nur ganz wenige fanden noch eine Brotrinde darin, die Krümel des Überflusses, mit dem sie in Vouziers ein Ende gemacht hatten. Kaffee hatten sie noch, und die am wenigsten Ermüdeten tranken auch wieder Kaffee ohne Zucker.

Als Jean teilen und einen Zwieback selbst essen und den andern Maurice geben wollte, fand er diesen in tiefem Schlaf. Einen Augenblick dachte er daran, ihn zu wecken; dann steckte er gleichmütig die Zwiebäcke mit unendlicher Sorgfalt, als ob er Gold verberge, wieder tief in den Tornister: er selbst begnügte sich, ebenso wie die Kameraden, mit Kaffee. Er hatte verlangt, daß das Zelt aufgeschlagen würde, und alle lagen schon lang drin ausgestreckt, als Loubet von einer Unternehmung nach einem benachbarten Felde mit Karotten zurückkam. Da es unmöglich war, sie zu kochen, knabberten sie sie roh; aber das vermehrte nur ihren Hunger, und Pache wurde krank davon.

»Nein, nein, laß ihn schlafen«, sagte Jean zu Chouteau, der Maurice schüttelte, um ihm sein Teil zu geben.

»Ach,« sagte Lapoulle, »morgen, wenn wir in Angoulême sind, kriegen wir Brot ... Ich habe in Angoulême einen Vetter beim Kommis gehabt. Feine Garnison.«

Sie waren baff, und Chouteau schrie:

»Was, in Angoulême? ... seht mal den Riesenschafskopf, der glaubt, er wäre in Angoulême!«

Es war unmöglich, aus Lapoulle eine Erklärung herauszukriegen. Er glaubte, sie marschierten nach Angoulême. Er hatte auch am Morgen, als sie die Ulanen sahen, geglaubt, es wären Soldaten Bazaines.

Nun versank das Lager in tiefdunkle Nacht, in Todesschweigen. Trotz der Nachtkühle war es verboten, Feuer anzuzünden. Man wußte, die Preußen standen nur einige Kilometer weit, und selbst alle Geräusche wurden gedämpft, aus Furcht, ihnen einen Wink zu geben. Die Offiziere hatten die Mannschaften schon benachrichtigt, daß um vier Uhr aufgebrochen würde, um die verlorene Zeit wieder einzubringen; alles schlief schleunigst voller Gier wie vernichtet drauf los. Über den zerstreuten Lagerstätten stieg das kräftige Atemgeräusch der Massen hinauf in die Finsternis wie der Atem der Erde selbst.

Ein plötzlicher Schuß brachte die Korporalschaft auf die Beine. Es war noch tiefe Nacht, drei Uhr mochte es sein. Alle waren auf den Beinen; der Lärm lief weiter und weiter, und man glaubte, der Feind griffe an. Es war aber nur Loubet, der nicht schlafen konnte und auf den Gedanken verfallen war, sich in dem Eichengehölz zu verstecken, wo Kaninchen drin sein mußten: was für eine Schlemmerei, wenn er bei Tagesanbruch den Kameraden ein paar Kaninchen bringen würde! Als er sich aber einen guten Anstand aussuchte, hörte er an Summen und zerbrechenden Zweigen, daß Menschen auf ihn zu kamen; da bekam er Angst und schoß, weil er es mit Preußen zu tun zu haben glaubte.

Schon kamen Jean, Maurice und andere, als eine heisere Stimme ertönte:

»Schießt nicht, Herrgott noch mal!«

Am Waldrand stand ein großer magerer Mann, dessen dichten Bart man in dem Gestrüpp nur schlecht unterscheiden konnte. Er trug eine graue Bluse, die um die Hüften durch einen roten Gürtel zusammengehalten wurde, und ein Gewehr umgehängt. Er erklärte sogleich, daß er Franzose, Franktireur sei, Sergeant, und daß er mit zwei Mann aus dem Gehölz von Dieulet komme, um dem General wichtige Beobachtungen mitzuteilen.

»He, Cabasse! Ducat!« schrie er, sich umdrehend, »verdammte Taugenichtse, kommt doch!«

Zweifellos hatten die Leute Angst gehabt; sie kamen aber doch, Ducat klein und dick, blaß, mit spärlichen Haaren, Cabasse groß und trocken mit schwarzem Gesicht und einer langen, messerscharfen Nase.

Als Maurice voller Überraschung den Sergeanten aus der Nähe gemustert hatte, fragte er ihn endlich:

»Sagen Sie mal, sind Sie nicht Guillaume Sambuc aus Remilly?«

Und als der das nach einigem Zaudern mit unruhiger Miene zugab, machte der junge Mann eine leicht zurückweichende Bewegung, denn dieser Sambuc galt für einen fürchterlichen Schnapphahn, den würdigen Sohn einer auf üble Bahnen geratenen Familie von Holzfällern, der Vater als Säufer eines Morgens mit durchschnittener Kehle tot aufgefunden, Mutter und Tochter als Bettlerinnen und Diebinnen verschwunden, in irgendein Hurenhaus geraten. Dieser Guillaume war Wilddieb und Schmuggler; nur ein Junges aus dieser Wolfsbrut war ehrlich groß geworden, Prosper, der Chasseur d'Afrique, der aus Widerwillen gegen den Wald Knecht auf einem Bauernhofe geworden war, ehe er Soldat werden konnte.

»Ich habe Ihren Bruder in Reims und Vouziers gesehen,« fuhr Maurice fort. »Es geht ihm gut.«

Sambuc antwortete nicht. Dann, um weiterzukommen:

»Bringen Sie mich zum General. Sagen Sie ihm, daß Franktireurs aus dem Gehölz von Dieulet da sind, die ihm eine wichtige Mitteilung zu machen haben.«

Als sie dann ins Lager zurückgingen, dachte Maurice über diese Freischaren nach, auf die man so große Hoffnungen gegründet hatte und die nun schon überall Klagen verursachten. Sie sollten den Krieg aus dem Hinterhalt führen, hinter Hecken auf den Feind lauern und ihn beunruhigen, seine Posten ermorden und sich in den Wäldern aufhalten, so daß keines Preußen Fuß wieder herauskäme. In Wirklichkeit waren sie auf dem besten Wege, der Schrecken der Bauern zu werden, die sie schlecht verteidigten und denen sie ihre Felder verwüsteten. Aus Abscheu vor dem ordnungsmäßigen Militärdienst traten alle vom Schicksal Enterbten schleunigst in diese Freischaren ein und waren glücklich, auf diese Weise der Manneszucht zu entrinnen, sich wie Räuber auf der Bühne in den Büschen herumtreiben zu können und zu schlafen und sich zu vergnügen, wie es kam. In einigen dieser Kompanien war der Menschenbestand wahrhaft kläglich.

»He, Cabasse! he, Ducat!« wiederholte Sambuc fortwährend, sich bei jedem Schritt umwendend, »kommt doch her, Taugenichtse!«

Auch von diesen beiden wußte Maurice, daß sie schlimme Brüder waren. Der große, trockene Cabasse war in Toulon geboren und früher Kellner in einem Café in Marseille gewesen, dann in Sedan als Verkäufer von Erzeugnissen des Südens gescheitert und mit der Zuchtpolizei in nahe Berührung gekommen, eine unaufgeklärt gebliebene Diebesgeschichte. Ducat, der Kleine, Dicke, war Gerichtsvollzieher in Blainville gewesen, hatte sein Amt wegen unsauberer Geschichten mit kleinen Mädchen verkaufen müssen und war dann beinahe noch einmal wegen dergleichen Schmutzereien in Raucourt vor die Geschworenen gekommen, wo er in einer Fabrik Buchhalter war. Dieser letztere konnte lateinische Sätze anführen, während der andere kaum lesen konnte; zusammen bildeten sie ein sauberes Paar Galgenvögel.

Im Lager wurde es schon wach. Jean und Maurice brachten die Franktireure zu Hauptmann Beaudouin, der sie zum Oberst von Vineuil führte. Dieser begann sie auszufragen; aber Sambuc wollte im Bewußtsein seiner Wichtigkeit unbedingt selbst mit dem General sprechen; und da der General Bourgain-Desfeuilles, der die Nacht bei dem Pfarrer von Oches geschlafen hatte, gerade auf der Schwelle des Pfarrhauses sichtbar wurde und voller Ingrimm war, mitten in der Nacht zu einem neuen Tagewerk voller Hunger und Ermüdung geweckt zu werden, so bereitete er den Leuten einen wütenden Empfang.

»Wo kommen Sie her? Was wollen Sie? ... Ach, Franktireurs seid ihr! Noch mehr Schlappschwänze, was?«

»Herr General,« erklärte Sambuc, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen, »wir und unsere Kameraden halten das Gehölz von Dieulet ...«

»Wo ist denn das, das Gehölz von Dieulet?«

»Zwischen Stenay und Mouzon, Herr General.«

»Stenay, Mouzon, kenn' ich nicht! Wie soll ich mich unter all diesen unbekannten Namen zurechtfinden?«

Oberst von Vineuil, dem dies peinlich war, legte sich feinfühlig ins Mittel, um ihn daran zu erinnern, daß Stenay und Mouzon an der Maas lägen und daß, weil die Deutschen die erste der beiden Städte besetzt hätten, man einen Versuch machen müsse, den Fluß auf der Brücke der andern weiter nördlich gelegenen zu überschreiten.

»Schließlich wollten wir Ihnen noch melden, Herr General,« fing Sambuc wieder an, »daß die Wälder um Dieulet jetzt schon voller Preußen sind ... Als das fünfte Korps gestern Bois-les-Dames verließ, kam es zu einem Gefecht nach Nouart hinüber ...«

»Was? Gestern haben sie gefochten?«

»Gewiß, Herr General, das fünfte Korps hat sich geschlagen und mußte sich zurückziehen; heute nacht muß es in Beaumont sein... Während einige Kameraden losgezogen sind, um das Korps über die Bewegungen des Feindes aufzuklären, kamen wir auf den Gedanken, wir wollten Ihnen Nachricht über seine Lage bringen, damit Sie ihm zu Hilfe kommen könnten, denn morgen früh hat es sicher sechzigtausend Mann auf dem Halse.«

General Bourgain-Desfeuilles zuckte bei dieser Zahl die Achseln.

»Sechzigtausend Mann, zum Donnerwetter! Warum nicht gar hunderttausend? Du träumst, Bursche. Ihr habt aus Angst doppelt gesehen. So nahe bei uns können gar keine sechzigtausend Mann stehen; das müßten wir wissen.«

Darauf versteifte er sich. Vergeblich rief Sambuc das Zeugnis Ducats und Cabasses zu Hilfe.

»Wir haben die Geschütze gesehen,« bestätigte der Provenzale. »Und diese Teufel müssen verrückt sein, daß sie sie auf solchen Waldwegen einsetzen, wo man nach den Regengüssen in den letzten Tagen bis an die Knöchel einsinkt.« »Irgend jemand führt sie, das ist klar«, erklärte der frühere Gerichtsvollzieher.

Aber seit Vouziers glaubte der General nicht mehr an die Vereinigung der beiden deutschen Heeresgruppen, mit der man ihm die Ohren vollgestopft hatte, wie er sagte. Und er hielt es nicht einmal für angezeigt, die Franktireure zum Führer des siebenten Korps bringen zu lassen, mit dem diese übrigens persönlich gesprochen zu haben glaubten. Wenn man auf alle Bauern und Landstreicher hörte, die angebliche Beobachtungen überbrachten, dann hätte man keinen Schritt mehr links oder rechts machen können, ohne in unmögliche Abenteuer zu stürzen. Er befahl jedoch den drei Leuten zu bleiben und die Abteilung zu begleiten, weil sie das Gelände kannten.

»Einerlei,« meinte Jean zu Maurice, als sie zum Zusammenpacken des Zeltes gingen, »das sind doch drei fixe Kerls, daß sie vier Meilen querfeldein machen, um uns zu warnen.«

Der junge Mann stimmte dem zu und gab ihnen auch soweit recht, da auch er das Gelände kannte und von einer tödlichen Unruhe bei dem Gedanken gequält wurde, daß die Preußen schon im Gehölz von Dieulet und auf dem Vormarsch gegen Sommauthe und Beaumont wären. Er hatte sich hingesetzt, da er schon erschöpft war, ehe es auf den Marsch ging, den Magen leer, das Herz von Angst zusammengeschnürt in der Dämmerung dieses Tagemarsches, von dem er vorher fühlte, er müsse fürchterlich werden.

In der Verzweiflung darüber, ihn so blaß zu sehen, fragte der Korporal ihn väterlich:

»Geht's immer noch nicht wieder, was? Ist es wieder dein Fuß?«

Maurice verneinte mit dem Kopfe. Seinem Fuß ging es in den weiten Schuhen vollständig besser.

»Hast du denn Hunger?«

Und als Jean sah, daß er nicht antwortete, zog er, ohne gesehen zu werden, den einen Zwieback aus seinem Tornister; dann log er ganz unbefangen:

»Da, ich habe dir deinen aufbewahrt ... den andern habe ich eben gegessen.«

Der Tag brach an, als das siebente Korps Oches verließ, um über la Besace, wo es übernachten sollte, nach Mouzon zu marschieren. Zuerst war der fürchterliche Troß in Begleitung der ersten Division aufgebrochen; aber während die gutbespannten Trainfuhrwerke in flotter Gangart ausschritten, blieben die andern, die beschlagnahmten, die meist leer und ganz unnütz waren, sonderbarerweise auf den Hängen des Passes von Stonne zurück. Der Weg steigt, vor allem hinter dem Weiler von la Berlière, zwischen bewaldeten, ihn beherrschenden Hügeln an. Gegen acht Uhr, im Augenblick, als die beiden andern Divisionen sich endlich in Bewegung setzten, erschien der Marschall Mac Mahon, verzweifelt, hier immer noch Truppen vorzufinden, von denen er glaubte, sie seien am Morgen schon von la Besace aufgebrochen, da sie nur ein paar Kilometer bis Mouzon zu laufen hatten. Er hatte auch eine lebhafte Auseinandersetzung mit General Douay. Es wurde beschlossen, die erste Division mit dem Troß ihren Marsch auf Mouzon fortsetzen zu lassen; die beiden andern Divisionen sollten aber, um nicht weiter durch die so langsame, schwerfällige Vorhut in Rückstand gebracht zu werden, die Straße nach Raucort und d'Autrecourt einschlagen, um die Maas bei Villers zu überschreiten. Das bedeutete bei der Eile, mit der der Marschall den Fluß zwischen seine Heeresgruppe und den Feind bringen wollte, daß es wieder weiter nach Norden hinaufginge. Koste es, was es wolle, er mußte abends auf dem rechten Ufer stehen. Und die Vorhut war noch in Oches, als eine preußische Batterie von einem entfernten Gipfel aus der Richtung von Saint-Pierremont her mit ihren Schüssen das Spiel vom Abend vorher wieder begann. Zuerst antwortete man dummerweise; dann zogen die letzten Truppen ab.

Bis gegen elf Uhr folgten die 106er langsam der Straße, die sich auf dem Grunde des Passes von Stonne zwischen hohen Hügeln hinwindet. Links steigen die Gipfel nackt und abschüssig an, während von den sanfteren Abhängen rechts sich Wälder herunterziehen. Die Sonne war wieder durchgekommen; es war sehr heiß in diesem engen Tal mit seiner drückenden Einsamkeit. Hinter la Berlière, das von einem hohen, traurigen Kalvarienberg überragt wird, gab es weiter keinen Hof mehr, keine Seele, kein Tier mehr auf den Weiden. Und die Mannschaften, so müde und so hungrig schon vom Abend vorher, hatten kaum geschlafen, nichts gegessen und schleppten die Füße mutlos weiter, während ein dumpfer Zorn in ihnen die Oberhand gewann.

Bei einer Rast am Wegesrande ertönte dann plötzlich von rechts Geschützdonner. Die Schüsse klangen so klar und tief, daß der Kampf nicht weiter als zwei Meilen entfernt sein konnte. Ihre Wirkung auf die Leute, die es so satt hatten, sich immer zurückzuziehen, und von dem vielen Halten so entnervt waren, war außerordentlich. Alle gerieten auf die Beine und vergaßen zitternd ihre Müdigkeit: warum ging es nicht weiter? Sie wollten fechten, sich eher den Schädel einschlagen lassen, als so in Verwirrung weiterfliehen, ohne zu wissen, wohin noch warum. General Bourgain-Desfeuilles war sofort rechts auf einen Hügel gestiegen und hatte den Oberst von Vineuil mitgenommen, um sich über das Gelände klar zu werden. Man sah sie da oben zwischen zwei kleinen Gehölzen ihre Feldstecher gebrauchen; und sofort sandten sie einen sich bei ihnen befindenden Adjutanten mit dem Befehl, die Franktireurs zu ihnen zu schicken, falls sie noch da wären. Ein paar Leute, Jean, Maurice und noch einige, begleiteten sie für den Fall, daß noch irgendwelche Hilfe nötig sein würde.

Sowie der General Sambuc bemerkte, schrie er:

»Was für ein verdammtes Land mit diesen Hügeln und diesen ewigen Wäldern! ... Hören Sie, wo ist das, wo fechten sie?«

Sambuc, dem Ducat und Cabasse nicht von den Hacken wichen, horchte und prüfte einen Augenblick den weiten Horizont, ohne zu antworten. Nahe bei ihm betrachtete Maurice gleichfalls die gewaltig sich hinziehenden Täler und Wälder. Man hätte sagen mögen: ein riesiges, unendliches Meer mit mächtigen, langsamen Wellen. Die Wälder bildeten dunkelgrüne Flecke auf dem gelben Erdboden, während die entfernteren Hänge in der glühenden Sonne in einem rötlichen Dunst versanken. Und ohne daß man irgend etwas sehen konnte, selbst nicht einmal eine kleine Rauchwolke am klaren Himmel, donnerten die Geschütze immerfort mit all dem Lärm eines entfernten, heranziehenden Gewitters.

»Da rechts liegt Sommauthe,« sagte Sambuc endlich, indem er auf einen hohen, grünbekränzten Gipfel wies. » Yonca liegt da, nach links... Sie schlagen sich bei Beaumont, Herr General.«

»Ja, bei Varniforêt oder bei Beaumont«, bekräftigte Ducat. Der General brummelte leise vor sich hin.

»Beaumont, Beaumont, in diesem verfluchten Lande weiß man nie...«

Dann ganz laut:

»Und wie weit liegt dies Beaumont von hier?«

»Etwa zehn Kilometer, wenn man den Weg von le Chêne nach Stenay nimmt, der da unten vorbeigeht.«

Das Geschütz schwieg nicht, sondern schien von Westen nach Osten in einem ununterbrochenen Donnerrollen fortzuschreiten. Und Sambuc setzte hinzu:

»Verflucht, das wird heiß... Ich hatte es aber erwartet; ich hatte Ihnen heute morgen schon gesagt, Herr General: das sind sicher die Batterien, die wir im Gehölz von Dieulet gesehen haben. Jetzt muß das fünfte Korps die ganze Abteilung auf dem Halse haben, die über Buzancy und Beauclair herankam.«

Eine Pause entstand, während der die Schlacht in der Ferne immer lauter grollte. Eine wütende Sucht zu weinen packte Maurice, und er biß die Zähne zusammen. Warum marschierten sie nicht sofort ohne viel Worte auf den Geschützlärm zu? Noch nie hatte er sich so aufgeregt gefühlt. Jeder Schuß tönte in seiner Brust wider, brachte ihn in Wallung und ließ es ihn wie einen Zwang empfinden, sogleich dort unten dabei zu sein, Schluß zu machen. Wollten sie auch an dieser Schlacht wieder nur entlangziehen, sie mit dem Ellbogen berühren, ohne einen Schuß abzufeuern? Er handelte sich wohl um eine Wette, daß man sie seit der Kriegserklärung dauernd so auf der Flucht herumschleppte? In Vouziers hatten sie nur die Schüsse der Nachhut gehört. In Oches hatte der Feind sie nur einen Augenblick von hinten beschossen. Und sie sollten ausreißen und den Kameraden diesmal nicht im Laufschritt zu Hilfe eilen? Maurice blickte auf Jean, der ebenso wie er selbst sehr blaß mit fieberhaft leuchtenden Augen dastand. Bei diesem lauten Hilferuf des Geschützes hüpften die Herzen in aller Brust.

Aber es entstand eine neue Pause, denn ein Stabsoffizier kam über den engen Pfad den Hügel herauf. Es war General Douay, der mit besorgter Miene auf sie zulief. Und als er persönlich die Franktireurs ausgefragt hatte, entrang sich ihm ein Schrei der Verzweiflung. Wenn er auch am Morgen schon benachrichtigt worden wäre, hätte er überhaupt noch helfen können? Der Marschall hatte seinen Willen förmlich ausgesprochen, er müsse die Maas vor Abend, einerlei um welchen Preis, überschreiten. Wie sollte er dann jetzt seine auf dem Marsch nach Raucourt auseinandergezogenen Truppen zusammenholen, um sie in der Eile auf Beaumont zu werfen? Käme er nicht sicher zu spät? Das fünfte Korps mußte schon auf dem Rückzuge in der Richtung auf Mouzon sein; und das Geschütz zeigte ganz klar an, daß es sich weiter und weiter gegen Osten zog wie ein vernichtender Hagelsturm, der kommt und vorüberzieht. General Douay hob in wütender Ohnmacht beide Arme gegen die Hügel und Täler, die Felder und Wälder am weiten Horizont; und dann gab er den Befehl zur Fortsetzung des Marsches auf Raucourt.

Ach! dieser Marsch unten durch den Paß von Stonne zwischen den hohen Gipfeln, während von rechts hinter den Wäldern her der Geschützdonner fortdauerte! Oberst von Vineuil hielt sich an der Spitze der 106er steif auf seinem Pferde, das blasse Gesicht geradeaus gewandt; die Augenlider zitterten ihm, als ob er die Tränen zurückhalten müsse. Hauptmann Beaudouin biß stumm auf seinen Schnurrbart, und Leutnant Rochas kaute halblaut auf Grobheiten, er schimpfte auf alle und auf sich selber. Selbst in den Soldaten, die keine Neigung zum Fechten in sich fühlten, in den wenigst tapferen, stieg der Wunsch zum Schimpfen und Hauen auf vor Zorn über die ewigen Niederlagen, vor Wut, wieder einmal langsamen, schwankenden Schrittes davonzulaufen, während die verdammten Preußen da hinten die Kameraden abschlachteten.

Unterhalb Stonnes, von wo der Weg sich in Windungen zwischen kleinen Hügeln herabzieht, verbreiterte sich die Straße; die Truppen kamen über offenes, von kleinen Gehölzen durchschnittenes Gelände. Seit Oches befanden sich die 106er nun fortwährend in der Nachhut und erwarteten angegriffen zu werden; denn der Feind folgte der Abteilung Schritt für Schritt, überwachte sie und spähte offenbar nach dem günstigsten Augenblick, um sie beim Schwanze zu packen. Kavallerie, die sich die geringsten Geländefalten zunutze machte, suchte ihre Seiten zu überflügeln. Man sah mehrere Schwadronen preußischer Garde hinter einem Gehölz auftauchen; aber sie hielten vor der Gegenbewegung eines Husarenregiments, das wie ein Sturmwind die Straße entlangfegend vorging. Dank diesem Aufschub ging der Rückzug in verhältnismäßig guter Ordnung weiter, und sie näherten sich Raucourt, als ein neues Schauspiel ihre Angst verdoppelte und die Soldaten vollends entmutigte. Sie sahen plötzlich aus einem Seitenwege ein Gewimmel von verwundeten Offizieren, zerstreuten, waffenlosen Soldaten auf sich losstürzen, dahinjagende Trainfuhrwerke, Menschen und Tiere, wie verrückt unter dem Sturmwind des Unheils dahinfließend. Es waren Trümmer einer Brigade der ersten Division, die den am Morgen über la Besace nach Mouzon aufgebrochenen Troß begleitete. Ein Fehler im Marschbefehl, ein schauderhafter, unglücklicher Zufall hatte diese Brigade und einen Teil des Trosses bei Varniforêt, nahe bei Beaumont, in die volle Auflösung des fünften Korps hineinfallen lassen. Überraschend in der Seite angegriffen, erlagen sie der Überzahl und flohen, und die Panik riß sie blutend, verstört, halb närrisch weiter, bis sie durch ihre Furcht auch die Kameraden über den Haufen warf. Ihre Erzählungen verbreiteten Schrecken; es war, als habe der Geschützdonner, den man seit Mittag ununterbrochen hörte, sie herangeführt.

Beim Durchmarsch durch Raucourt herrschte daher ein ängstliches, bestürztes Gedränge. Sollte man sich rechts gegen Autrecourt wenden, um bei Villers über die Maas zu gehen, wie es beschlossen war? General Douay zauderte voller Unruhe, in der Befürchtung, die Brücke dort verstopft, vielleicht schon in den Händen der Preußen zu finden. Er zog also vor, geradeaus durch den Paß von Haraucourt zu marschieren, um vor Nacht Remilly zu erreichen. Nach Mouzon Villers und nach Villers Remilly: immer höher ging es, und die Ulanen galoppierten hinter ihnen her. Sie hatten nur sechs Kilometer zurückzulegen, aber es war schon fünf Uhr und die Mattigkeit, ach, wie vernichtend! Seit dem Morgengrauen waren sie auf den Beinen; sie hatten zwölf Stunden gebraucht, um kaum drei Meilen zu machen, zwischen endlosen Pausen hin und her trappelnd und sich durch lebhafteste Aufregungen und Befürchtungen erschöpfend. Die letzten beiden Nächte hatten die Leute kaum geschlafen und seit Vouziers bei allem Hunger nichts gegessen. Sie fielen vor Mattigkeit. In Raucourt wurde es jammervoll.

Die kleine Stadt mit ihren zahlreichen Fabriken ist reich, ihre Hauptstraße an beiden Seiten gut bebaut, und sie hat eine gefällige Kirche und Mairie. Aber in der Nacht waren der Kaiser und der Marschall Mac Mahon mit dem ganzen Ballast ihres Stabes und des kaiserlichen Haushaltes durchgekommen, und der folgende Durchzug des ganzen ersten Korps, der den ganzen Vormittag in einem Fluß über die Straße dahingezogen war, hatten schließlich alle Hilfsmittel erschöpft, alle Bäckereien und Kramläden geleert und die Bürgerhäuser bis zur letzten Krume ausgefegt. Man fand kein Brot mehr, keinen Wein, keinen Zucker, nichts Trink- oder Eßbares. Man hatte Damen vor ihren Haustüren Wein glasweise und Fleischbrühe in Tassen bis zum letzten Tropfen ihrer Fässer und Kessel verteilen sehen. Aber nun war's zu Ende, und als gegen drei Uhr die ersten Regimenter des siebenten Korps durchzumarschieren begannen, entstand wahre Verzweiflung. Was nun? Ging es von neuem an, kamen immer noch mehr? Von neuem führte die Hauptstraße erschöpfte, staubbedeckte Menschen daher, die vor Hunger starben, ohne daß man ihnen einen Bissen reichen konnte. Viele blieben stehen, streckten die Arme nach den Fenstern empor und flehten, man möge ihnen ein Stück Brot herunterwerfen. Manche Frauen weinten und machten ihnen Zeichen, sie könnten ja nicht, sie hätten nichts mehr.

An der Ecke der Rue des Dir-Potiers taumelte Maurice, vom Schwindel gepackt. Und als Jean sich um ihn bemühen wollte:

»Nein, laß mich, das ist das Ende... Ich will lieber hier verrecken.«

Er hatte sich auf eine Bordschwelle fallen lassen. Da spielte der Korporal den rauhen, unzufriedenen Vorgesetzten.

»Herrgott nochmal! Hat man mir je so einen Kerl aufgehängt! ... Sollen die Preußen dich aufheben? Vorwärts, hoch!«

Als er sah, daß der junge Mann leichenblaß, mit geschlossenen Augen, halb ohnmächtig, nicht mehr antwortete, fluchte er zwar weiter, aber in unendlich mitleidigem Tonfall:

»Herrgott nochmal! Herrgott nochmal!«

Und er lief zu einem nahestehenden Springbrunnen, füllte seinen Napf mit Wasser und begann ihm das Gesicht zu waschen. Schließlich holte er, ohne es diesmal zu verbergen, seinen letzten, wie einen Schatz bewahrten Zwieback aus dem Tornister und fing an, ihn in kleine Stücke zu brechen, die er ihm zwischen die Zähne steckte. Der Verhungerte verschlang sie und öffnete die Augen.

»Aber,« sagte er, sich mit einemmal erinnernd, »hast du ihn denn nicht vergessen?«

»Ach!« erwiderte Jean, »ich habe eine dickere Pelle, ich kann warten ... Ein ordentlicher Schluck Froschlaich, und ich bin wieder hoch!«

Er hatte sich seinen Napf von neuem gefüllt und leerte ihn auf einen Zug, wobei er mit der Zunge schnalzte. Und dabei war auch sein Gesicht von erdfarbiger Blässe, denn der Hunger zehrte so an ihm, daß ihm die Hände zitterten.

»Vorwärts, mein Junge, wir müssen die Kameraden wieder einholen!«

Maurice überließ sich seinem Arm und ließ sich wie ein Kind führen. Nie hatte ihn ein Frauenarm so warm am Herzen gehalten. Wo nun alles inmitten dieses äußersten Elends, den Tod vor sich, zerbröckelte, war es für ihn ein köstlicher Trost, sich von einem lebenden Wesen so geliebt und versorgt zu fühlen; und vielleicht fügte gerade der Gedanke seiner Erkenntlichkeit eine so unendliche Süße hinzu, daß dies so ganz ihm allein gehörige Herz das eines einfachen Gemütes, eines mit der Erde im Zusammenhang gebliebenen Bauern war, gegen den er zuerst Abscheu empfunden hatte. War das nicht die Brüderlichkeit der ersten Tage der Welt, die vor jeder Kultur und allen Klassen bestehende Freundschaft, diese Freundschaft, die die beiden Männer in dem gemeinsamen Wunsche nach wechselseitigem Beistand angesichts der Drohungen der feindlichen Natur vereinigte und verschmolz? Er hörte sein Menschentum in Jeans Brust schlagen und war stolz, ihn so stark zu wissen, während er ihm so hingebend half; dagegen empfand Jean, ohne seine Gefühle weiter zu untersuchen, eine große Freude darüber, in seinem Freunde eine solche Anmut, eine so große Klugheit zu beschützen, die in ihm selbst unentwickelt geblieben waren. Seit dem gewaltsamen Tode seiner von einem schrecklichen Vorgange hingerafften Frau glaubte er, er habe kein Herz mehr; er hatte sich geschworen, nie wieder einen Blick auf eins dieser Geschöpfe zu werfen, unter denen man so sehr leidet, selbst wenn sie nicht böse sind. Ihre Freundschaft kam ihnen beiden wie eine Freisprechung vor: sie brauchten sich nicht zu umarmen, sie berührten sich in der Tiefe, fanden sich einer im andern, so verschieden sie auch waren, auf diesem Schreckenswege nach Remilly; einer stützte den andern und wurde mit ihm zu einem einzigen Wesen voller Mitleid und Duldung.

Als die Nachhut Raucourt verließ, zogen die Deutschen am andern Ende ein; und zwei ihrer Batterien hatten sich im Handumdrehen auf den Höhen links eingenistet und feuerten. Nun befanden sich die 106er, solange sie auf der sich an der Emmane entlangziehenden Straße dahinmarschierten, in Schußlinie. Eine Granate brach eine Pappel am Ufer des Flusses ab; eine zweite grub sich auf einer Wiese neben Hauptmann Beaudouin ein, ohne zu bersten. Aber der Paß verengerte sich bis Haraucourt hinunter und endete dort in einem sehr engen, auf beiden Seiten von baumbedeckten Abhängen beherrschten Hohlwege; wenn sich hier eine Handvoll Preußen in einen Hinterhalt gelegt hatte, mußte ein Unglück geschehen. Von hinten unter Geschützfeuer, rechts und links die Drohung eines möglichen Angriffs, kamen die Truppen nur unter wachsender Ängstlichkeit vorwärts und beeilten sich, aus diesem gefährlichen Durchgang herauszukommen. Ein letztes Emporflammen von Tatkraft war auch über die Müdesten gekommen. Die Soldaten, die sich eben noch in Raucourt von Tür zu Tür geschleppt hatten, schritten jetzt unter dem glühenden Ansporn der Gefahr munter und neu belebt voran. Es schien, als begriffen selbst die Pferde, daß jede verlorene Minute teuer bezahlt werden müßte. Die Spitze der Abteilung mußte schon in Remilly sein, als das Ganze plötzlich ins Stocken geriet.

»Verflucht!« sagte Chouteau, »wollen die uns hier liegen lassen?«

Die 106er hatten Haraucourt noch nicht erreicht, und es regnete jetzt fortgesetzt Granaten.

Während das Regiment in Erwartung des Weitermarsches auf der Stelle trat, platzte rechts eine, die glücklicherweise niemand verletzte. Fünf endlose, schreckliche Minuten verrannen. Aber es ging nicht aus der Stelle; da unten mußte ein Hindernis den Weg versperren, mußte sich plötzlich eine Mauer erhoben haben. Der Oberst stand aufrecht in den Bügeln und sah zitternd nach vom, denn er fühlte, wie sich hinter ihm die Panik seiner Leute erhob.

»Alle Welt weiß ja doch, daß wir verkauft sind«, wiederholte Chouteau voller Wut.

Gemurmel wurde laut, das wachsende Grollen der Verzweiflung unter der Peitsche der Furcht. Ja, ja, sie waren hierher gebracht, um sie zu verkaufen, um sie den Preußen auszuliefern. In der Erbitterung über die unglücklichen Zufälle und bei dem Übermaß an begangenen Fehlern hatte in ihren Gehirnen kein anderer Gedanke mehr Platz, um eine solche Reihe von Unglücksfällen zu erklären, als der an Verrat.

»Wir sind verkauft!« ertönte es überall wie närrisch.

Und Loubet kam eine Ahnung.

»Da liegt das Schwein von Kaiser mit seinem Gepäck, da unten auf der Straße und hält uns auf,«

Das verbreitete sich sofort. Ganz sicher wußten sie, das Hindernis bestände in dem Durchzug des kaiserlichen Haushalts, der ihre Abteilung abschnitte. Es erhob sich ein Gefluche in scheußlichen Worten, in denen sich all der Haß gegen die unverschämten Leute des Kaisers ausdrückte, die die Städte belegten, in denen sie übernachten sollten, und ihre Vorräte, ihre Weinkörbe, ihr Silbergeschirr vor den von allem entblößten Soldaten auspackten, die die Küchen zum Glühen brachten, während sie arme Teufel sich den Bauch zusammenschnüren könnten. Ach! dieser elende Kaiser, ohne Thron jetzt und ohne Befehlsgewalt, einem ausgesetzten Kinde gleich in seinem Reiche, den man wie einen unnützen Packen zwischen dem Gepäck seiner Truppen mitschleppte, dazu verurteilt, das Trugbild seines kaiserlichen Hofstaates hinter sich herzuschleppen, seine Hundertgarden, seine Kutschen, seine Pferde, Köche, Gepäckwagen, den ganzen Glanz seines mit Bienen bestickten Krönungsmantels, der nun von den Straßen das Blut und den Schmutz der Niederlage auffegen konnte!

Schlag auf Schlag fielen zwei weitere Granaten. Die eine nahm Leutnant Rochas beim Bersten sein Käppi mit weg. Die Reihen preßten sich zusammen, es bildete sich ein mächtiger Andrang, eine plötzliche Welle aus, deren Rücklauf sich weithin bemerkbar machte. Die Stimmen erstickten, Lapoulle schrie wie ein Besessener, sie sollten vorwärts gehen. Vielleicht noch eine Minute, und es wäre zu einem furchtbaren Unheil gekommen, zu einem Rette-sich-wer-kann, das die Leute auf dem Grunde dieses engen Hohlweges in fürchterlichem Gemenge zerdrückt hätte.

Ganz blaß wandte der Oberst sich um.

»Kinder, Kinder, noch ein wenig Geduld! Ich habe schon jemand geschickt, der nachsehen soll ... Es geht schon weiter.«

Es ging nicht weiter, und die Sekunden wurden zu Jahrhunderten. Jean hatte schon Maurice in seiner schönen Kaltblütigkeit bei der Hand genommen und ihm ins Ohr geflüstert, daß, wenn die Kameraden drängten, sie beide nach links springen und zwischen den Wäldern am andern Flußufer heraufklettern wollten. Seine Blicke suchten die Franktireurs in dem Gedanken, daß diese die Wege kennen müßten; aber es wurde ihm gesagt, sie wären beim Durchzug durch Raucourt verschwunden. Und mit einemmal ging es weiter, sie kamen um eine Ecke des Weges und waren von da an unter Schutz vor den deutschen Batterien. In der Verwirrung dieses Unglückstages erfuhren sie späterhin, daß es die vier Kürassierregimenter der Brigade Bonnemain gewesen seien, die das siebente Korps derartig durchschnitten und aufgehalten hatten.

Die Nacht kam herauf, als die 106er durch Angecourt zogen. Rechts zogen sich weitere Gipfel hin; aber der Paß erweiterte sich links, in der Ferne erschien ein bläuliches Tal. Endlich sah man von den Höhen von Remilly in den Abendnebeln ein blaßsilbernes Band zwischen endlos weit sich hinziehenden Wiesen und Feldern. Das war die Maas, die so heißersehnte Maas, von der her ihnen der Sieg zu winken schien.

Und indem Maurice den Arm gegen die kleinen Lichter in der Ferne ausstreckte, die fröhlich im Grünen auf dem fruchtbaren Talboden funkelten, von köstlichem Reiz in der sanften Dämmerung, da sagte er in der freudigen Erleichterung jemandes, der ein geliebtes Land wiederfindet, zu Jean:

»Siehst du da unten... das ist Sedan!«


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