Emile Zola
Der Zusammenbruch
Emile Zola

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Erster Teil

1

Zwei Kilometer von Mülhausen nach dem Rhein hinüber war das Lager inmitten der fruchtbaren Ebene aufgeschlagen. Unter dem schwindenden Tageslicht dieses Augustabends, unter dem trüben, von schweren Wolken durchfegten Himmel lagen die Zeltreihen und funkelten die zusammengestellten Gewehre, genau nach der ersten Zeltreihe ausgerichtet, während die Posten sie mit geladenem Gewehr bewachten, unbeweglich den Blick in den violetten, von dem großen Flusse aufsteigenden Nebeln des fernen Horizontes verloren.

Gegen fünf waren sie von Belfort gekommen. Jetzt war es acht, und die Mannschaften hatten versucht, abzukochen. Aber das Holz mußte wohl auf Abwege geraten sein, denn es konnte keins verteilt werden. Unmöglich daher, ein Feuer anzuzünden und Suppe zu kochen. Sie hatten sich damit zufriedengeben müssen, ihren Zwieback trocken herunterzukauen und ihn mit großen Schlucken Branntwein anzufeuchten, was ihnen die von Müdigkeit so schon schlaffen Beine endgültig zermürbte. Zwei Soldaten vor den Gewehrpyramiden bei der Kantine jedoch hatten es sich in den Kopf gesetzt, einen Haufen grünes Holz anzustecken, junge Baumstämme, die sie mit ihren Haubajonetten zerschlagen hatten und die ganz und gar nicht brennen wollten. Ein dicker schwarzer Rauch erhob sich langsam, unendlich schwermütig in die Luft.

Nur zwölftausend Mann lagen hier, alles was General Felix Douay vom siebenten Armeekorps bei sich hatte. Die erste Division war auf Anfordern am Tage vorher nach Fröschweiler abgegangen; die dritte befand sich noch in Lyon, und er hatte sich entschlossen, sich von Belfort aus mit der zweiten Division, der Reserveartillerie und einer unvollzähligen Kavalleriedivision vorzuschieben. Bei Lörrach waren Wachtfeuer bemerkt. Ein Telegramm des Unterpräfekten von Schlettstadt meldete, die Preußen hätten bei Markolsheim den Rhein überschritten. Der General, der sich auf dem äußersten rechten Flügel der übrigen Korps infolge des Fehlens jeder Verbindung mit ihnen zu sehr in der Luft hängen fühlte, beeilte seine Bewegung gegen die Grenze um so mehr, als am Abend vorher die Nachricht von dem unglücklichen Überfall bei Weißenburg gekommen war. Von Stunde zu Stunde konnte er befürchten, dem ersten Korps zu Hilfe gerufen zu werden, wenn er nicht selbst den Feind zurückzustoßen hätte. Irgendwo in der Nähe von Fröschweiler mußte es heute an diesem unruhigen, stürmischen Sonnabend, den 6. August, zum Gefecht gekommen sein: das lag so in diesem angstvollen, niederdrückenden Himmel, aus dem sich plötzliche Schauer, heftige, mit Angst geschwängerte Windstöße erhoben. Und seit zwei Tagen bereits glaubte die Division, es ginge ins Gefecht, dachten die Leute, die Preußen am Ende dieses Gewaltmarsches von Belfort nach Mülhausen vor sich zu finden.

Der Abend sank, der Zapfenstreich begann an einer entfernten Ecke des Lagers mit Trommelwirbel und noch schwachen, von der Luft herübergetragenen Horntönen. Und Jean Macquart, der dabei war, sein Zelt etwas besser zu sichern, indem er die Haltepflöcke tiefer einschlug, richtete sich auf. Beim ersten Kriegslärm hatte er Rognes verlassen, das Herz noch blutend von dem Trauerspiel, durch das er gerade seine Frau Franziska und die von ihr zugebrachten Ländereien verloren hatte; mit neununddreißig Jahren hatte er sich wieder gestellt, hatte seine Korporalstreifen wiederbekommen und war sofort dem 106. Linienregiment zugeteilt worden, dessen Verbände aufgefüllt wurden; manchmal wunderte er sich noch, wieder im bunten Rock zu stecken; denn nach Solferino war er so froh gewesen, den Dienst aufzugeben, nicht länger den Säbel schleppen zu brauchen, kein Menschenschlächter mehr zu sein! Aber was sollte er machen? wenn man kein Geschäft mehr hat, weder Weib noch irgendwelche Habe unter der Sonne, und das Herz einem vor Kummer und Zorn in die Kehle fährt? Dann konnte er auch ebenso wieder auf den Feind loshauen, wenn der ihm zu dumm kam. Und er dachte an seinen Kriegsruf: ah! gut Blut! Wenn er auch keinen Mut mehr hatte, sie zu bebauen, dann wollte er sie doch mit verteidigen, die alte französische Erde.

Jean stand und warf noch einen Blick über das Lager, in dem nun eine letzte Bewegung entstand. Einzelne Leute rannten umher. Andere, die schon geschlafen hatten, streckten sich in einer Art gereizter Schlaffheit. Er erwartete den Appell geduldig mit der Gemütsruhe, dem schönen, verständigen, seelischen Gleichgewicht, das ihn zu einem so vorzüglichen Soldaten machte. Die Kameraden sagten, mit etwas Nachhilfe hätte er es weit bringen können. Aber wenn er auch ganz gut lesen und schreiben konnte, sein Ehrgeiz ging nicht bis zum Sergeanten. Bauer bleibt Bauer.

Aber der Anblick des Feuers aus grünem Holz, das immer noch qualmte, regte ihn an, und er rief Lapoulle und Loubet, die beiden Leute, die sich damit abquälten und beide zu seiner Korporalschaft gehörten:

»Laßt das doch! Ihr vergiftet uns ja nur!«

Loubet, ein magerer, lebhafter Spaßvogel, grinste.

»Das geht schon an, Korporal, sicher ... Blas doch, du!«

Und er schubste Lapoulle, einen Riesen, der sich mit Backen wie ein paar Blasbalge abquälte, einen wahren Sturm zu entfesseln, das Gesicht hochrot, die Augen blutunterlaufen und voll Tränen.

Zwei andere Leute der Korporalschaft, Chouteau und Pache, der eine auf dem Rücken ausgestreckt, ein Nichtstuer, der es sich bequem zu machen liebte, der andere auf den Hacken kauernd, eifrig mit dem sorgfältigen Stopfen eines Risses in seiner Hose beschäftigt, platzten vor Freude über die scheußliche Fratze des Untiers Lapoulle los.

»Dreh' dich doch um, puste mal von der andern Seite, dann geht's besser!« schrie Chouteau.

Jean ließ sie lachen. Vielleicht fänden sie später nicht mehr so oft Gelegenheit dazu; und er, der große ernste Kerl mit dem vollen, regelmäßigen Gesicht, neigte schließlich doch auch nicht zu Trübseligkeit und drückte bei den Späßen seiner Leute gern ein Auge zu. Aber dann fesselte ihn eine andere Gruppe, noch ein Mann seiner Korporalschaft, Maurice Levasseur, der sich schon fast eine Stunde lang mit einem Zivilisten unterhielt, einem rosigen Herrn von etwa sechsunddreißig Jahren, mit einem Gesicht wie ein guter Hund, etwas vorstehenden, großen blauen Augen, so kurzsichtig, daß sie ihn dienstuntauglich gemacht hatten. Ein Reserveartillerist, ein verwegener, zuversichtlich aussehender Wachtmeister mit braunem Schnurr- und Kinnbart, hatte sich zu ihnen gefunden; und so, ganz unter sich, überhörten sie alle drei, was vorging.

Jean hielt sich für verpflichtet, sie zu unterbrechen, um ihnen einen etwaigen Verweis zu ersparen.

»Sie gehen jetzt besser, Herr; hören Sie, der Zapfenstreich, und wenn der Leutnant Sie sieht ...«

Maurice ließ ihn nicht ausreden.

»Bleib' nur, Weiß.«

Und zu dem Korporal ganz trocken: »Der Herr ist mein Schwager. Er hat Erlaubnis vom Oberst, mit dem er bekannt ist.«

Was ging das diesen Bauern an, dessen Hände noch nach Mist rochen? Er selbst war im vorigen Herbst Rechtsanwalt geworden, hatte sich freiwillig gestellt und war durch die Gunst des Obersten den 106ern zugeteilt worden, ohne erst gemustert zu werden, trug aber den Tornister ganz gern; aber vom ersten Augenblick an kehrte er sich voller Widerwillen, in einer dumpfen Empörung gegen diesen ungebildeten Flegel, der sein Vorgesetzter war.

»Gut,« erwiderte Jean m seinem ruhigen Tonfall, »lassen Sie sich fassen; ich quäle mich nicht drum.«

Damit drehte er sich um, sah aber, daß Maurice nicht log; denn im selben Augenblick ging der Oberst, Herr von Vineuil, vorbei, stolz und vornehm mit seinem langen, gelben, von einem dicken weißen Schnurrbart in zwei Hälften geteilten Gesicht; er hatte Weiß und den Soldaten mit einem Lächeln gegrüßt. Der Oberst ging lebhaft auf einen Hof zu, den man in zwei- oder dreihundert Schritt Entfernung zwischen Pflaumenbäumen liegen sah; dort war der Stab für die Nacht untergebracht. Man wußte nicht, ob der Kommandant des siebenten Korps bei der schrecklichen Trauer, mit der ihn der Tod seines bei Weißenburg gefallenen Bruders erfüllte, auch dort sei. Aber der Brigadegeneral Bourgain-Desfeuilles, der die 106er unter sich hatte, war sicher da, ein Großmaul wie immer, der seinen dicken Körper auf ein paar kurzen Beinen vorwärtsrollte und den bei seinen blühenden Lebemannsfarben sein bißchen Gehirn nicht drückte. Um den Hof herum entstand eine zunehmende Bewegung, Meldereiter kamen und gingen jede Minute, alles war in fieberhafter Erwartung von Meldungen aus der großen Schlacht, von der jeder seit dem Morgen fühlte, daß sie verhängnisvoll verlief, irgendwo dicht bei ihnen. Wo wurde sie wohl geliefert, und wie mochte sie augenblicklich stehen? Mit sinkender Nacht schien es, als ob sich über den Obstgarten, über die um die Ställe verstreuten Heuschober die Angst heranrollte und sich wie ein schattenhafter See ausbreitete. Dazu hieß es noch, man hätte eben einen ums Lager schleichenden preußischen Spion gefangen und ihn zum Verhör durch den General in den Hof geschleppt. Vielleicht hatte der Oberst von Veneuil Telegramme bekommen, daß er so lief.

Währenddessen hatte Maurice seine Plauderei mit seinem Schwager Weiß und seinem Vetter Honoré Fouchard, dem Wachtmeister, wieder aufgenommen. Im trübseligen Frieden der Dämmerung lief der Zapfenstreich, weither kommend, allmählich anwachsend, mit Hörnerklang und Trommelwirbel an ihnen vorüber; aber sie hörten ihn scheinbar gar nicht. Als Enkel eines Helden der großen Armee war der junge Mann zu Chêne-Populeur einem Vater geboren, der sich vom Ruhme abgekehrt und sich auf das magere Amt eines Lehrers geworfen hatte. Seine Mutter, eine Bäuerin, war tot und hatte ihn und seine Zwillingsschwester Henriette, die ihn schon von ganz klein an erzog, in der Welt zurückgelassen. Und wenn er jetzt als Freiwilliger hier stand, so war das die Folge großer Fehltritte; in wahrhaft schlaffer und nervöser Gedankenlosigkeit hatte er sein Geld im Spiel, mit Weibern und für all die andern Dummheiten des gefräßigen Paris weggeworfen, als er zum Abschluß seines Rechtsstudiums dorthin gegangen war,– das Geld, für das seine Familie sich geschunden hatte, um aus ihm einen Herrn zu machen. Der Vater war darüber hinweggestorben; der Schwester, die sich von allem entblößt hatte, war das Glück zuteil geworden einen Mann zu bekommen, den guten Kerl da, den Weiß, der lange Zeit Buchhalter in der Raffinerie Générale von Chêne-Populeur, jetzt aber Werkführer bei Herrn Delaherche war, einem der ersten Tuchweber in Sedan. Und Maurice hielt sich für wirklich gebessert, in der Nervosität, mit der er ebensosehr zu Hoffen auf Glück wie zu Entmutigung im Unglück neigte, freigebig, begeisterungsfähig, aber ohne jede Stetigkeit, jedem vorüberwehenden Windhauch unterworfen. Blond, klein, mit stark entwickelter Stirnbildung, zierlicher Nase und Kinn, einem seinen Gesicht, hatte er graue, zärtliche Augen, die manchmal etwas närrisch dreinblicken.

Weiß war am Tage vor Ausbruch der Feindseligkeiten nach Mülhausen gelaufen, weil er dringend wünschte, dort eine Familienangelegenheit zu ordnen; und wenn er sich des guten Willens des Obersten von Vineuil bediente, um seinem Schwager die Hand drücken zu können, so kam das, weil dieser zufällig ein Onkel der jungen Frau Delaherche war, einer niedlichen Witwe, die der Tuchmacher im Jahre vorher geheiratet hatte und die Maurice und Henriette schon als kleines Mädchen gekannt, weil sie zufällig Nachbarn waren. Übrigens hatte Maurice außer dem Obersten auch in seinem Kompagnieführer Hauptmann Beaudouin einen Bekannten Gilbertes, der jungen Frau Delaherche, wiedergetroffen, einen Freund, der, wie es hieß, ihr besonders nahestand, als sie in Mézières noch als Frau Maginot, die Frau des Forstinspektors Maginot, lebte.

»Gib Henriette einen Kuß von mir,« sagte der junge Mann, der seine Schwester leidenschaftlich liebte, abermals zu Weiß. »Sag' ihr, sie soll zufrieden sein, ich will sie endlich stolz auf mich machen.«

Seine Augen füllten sich bei dem Gedanken an seine Torheiten mit Tränen. Sein Schwager, ebenso gerührt wie er, schnitt ihm das Wort ab, indem er sich an Honoré Fouchard, den Artilleristen, wandte.

»Und wenn ich bei Remilly vorbeikomme, will ich zu Ohm Fouchard herauflaufen und ihm sagen, daß ich Sie gesehen habe und daß es Ihnen gut geht.«

Der Ohm Fouchard, ein Bauer, der etwas Land besaß und das Gewerbe eines Wanderschlächters betrieb, war ein Bruder von Henriettens und Maurices Mutter. Er wohnte oberhalb Remillys auf einem Hügel, sechs Meilen von Sedan.

»Gut!« antwortete Honoré ruhig, »Vater macht sich nichts draus, aber gehen Sie nur hin, wenn es Ihnen Spaß macht.«

In diesem Augenblick entstand in der Richtung nach dem Hofe hin eine Bewegung und sie sahen den Herumstreicher frei, nur von einem Offizier geführt, herauskommen, den Mann, der beschuldigt war, ein Spion zu sein. Zweifellos hatte er Papiere vorgezeigt und eine Geschichte erzählt, denn er wurde einfach aus dem Lager geworfen. So von weitem war er in der wachsenden Dunkelheit schlecht zu erkennen, riesig, vierschrötig, mit rötlichem Schädel. Da schrie Maurice auf: »Honoré, sieh mal! Ich möchte fast sagen, der Preuße, der Goliath!«

Dieser Name ließ den Artilleristen auffahren. Er strengte seine glühenden Augen an. Goliath Steinberg, der Knecht, der Mann, der ihn mit seinem Vater auseinandergebracht und ihm Silvine genommen hatte – die ganze gemeine Geschichte, all der scheußliche Schmutz, unter dem er noch litt. Er hatte hinlaufen und ihn erwürgen mögen. Aber der Mensch schritt schon auf der andern Seite der Gewehrpyramiden hin und verschwand in der Nacht.

»Oh! Goliath!« murmelte er, »nicht möglich! Also da drüben bei den andern ist er... Wenn ich den mal treffe!«

Er machte eine drohende Bewegung gegen den von Finsternis umhüllten Horizont, den weiten, blaßvioletten Osten, der für ihn Preußen darstellte. Es wurde still; sie hörten abermals den Zapfenstreich, der sich ganz in der Ferne am andern Ende des Lagers in hinsterbender Zartheit inmitten der undeutlich werdenden Umgebung verlor.

»Donnerwetter!« rief Honoré, »ich komme schön in die Klemme, wenn ich den Appell verpasse... Gute Nacht zusammen!«

Und nachdem er Weiß noch ein letztes Mal die Hand gedrückt hatte, sauste er in großen Sätzen auf den Hügel zu, auf dem der Park der Reserveartillerie lag, ohne noch einmal ein Wort über seinen Vater zu sagen, ohne eine Botschaft an Silvine, deren Name ihm auf den Lippen brannte.

Wieder gingen Minuten hin, und links, nach der zweiten Brigade hinüber, blies ein Horn zum Appell. Ein anderes antwortete näher. Allmählich bliesen sie alle zusammen mit vollen Kräften das klangreiche Signal, bis Gaude, der Hornist der Kompanie, sich auch dazu entschloß. Er war ein großer, magerer, trauriger Bengel, ohne ein Spierchen von Bart, immer schweigsam, und blies seine Signale mit Sturmesatem.

Dann fing der Sergeant Sapin, ein kleiner, verkniffener Mensch mit großen, ausdruckslosen Augen, den Appell an. Seine dünne Stimme stieß die Namen heraus, während die Soldaten in allen Tonfarben vom Cello bis zur Flöte herauf antworteten. Aber es kam zu einer Pause.

»Lapoulle!« wiederholte der Sergeant sehr laut.

Niemand antwortete. Und Jean mußte sich erst nach dem Haufen von grünem Holz hinstürzen, den der Füsilier Lapoulle, von seinen Kameraden angestachelt, anzuzünden sich abmühte. Jetzt lag er platt auf dem Bauch auf der Erde und blies mit brennendem Gesicht den Holzrauch vor sich her, der immer schwärzer wurde.

»Zum Donnerwetter, laß das doch! Antworte beim Appell!« Lapoulle stand ganz verdutzt auf, schien zu begreifen und brüllte sein: Hier! wie ein Wilder, so daß Loubet darüber auf den Hintern fiel, so ulkig kam es ihm vor. Pache, der mit seiner Näherei fertig war, antwortete kaum hörbar mit einem Seufzer, als ob er betete. Chouteau warf das Wort verächtlich hin, ohne auch nur aufzustehen, und streckte sich wieder aus.

Währenddessen wartete der diensttuende Leutnant Rochas unbeweglich in ein paar Schritten Entfernung. Als nach Schluß des Appells der Sergeant Sapin ihm melden wollte, daß niemand fehle, zeigte er so mit dem Kinn auf Weiß, der immer noch mit Maurice redete, und brummte in den Bart: »Aber da ist jemand zu viel; was macht der Mann da, der Spießer?«

»Erlaubnis vom Herrn Oberst, Herr Leutnant«, glaubte Jean, der es gehört hatte, erklären zu müssen. Rochas zuckte wütend die Achseln und ging, ohne ein Wort zu sagen, wieder an den Zelten entlang, um auf das Löschen der Feuer zu warten; und Jean, dem die Beine vom Tagesmarsch wie zerbrochen waren, setzte sich dicht bei Maurice nieder, dessen Worte zunächst nur wie ein Summen zu ihm herübertönten, ohne daß er sie verstand, denn er selbst war in dunkle, auf dem Grunde seines dicken, langsam arbeitenden Gehirns kaum gestaltannehmende Träume versunken.

Maurice war für den Krieg, er hielt ihn für unvermeidlich, für den Bestand der Völker sogar notwendig. Das hatte sich ihm aufgedrängt, seitdem er sich mit dem Gedanken über Entwicklung abgab, mit der Entwicklungslehre, die damals die wissenschaftlich gebildete Jugend leidenschaftlich erregte. Ist denn nicht das Leben in jeder Sekunde ein Kampf? Ist denn nicht sogar der Naturzustand fortgesetzter Kampf, der Sieg des Anpassungsfähigsten, durch Betätigung unterhaltene und erneuerte Kraft, das Leben aus dem Tode immer wieder neugeboren? Und er erinnerte sich des mächtigen Aufschwungs, der ihn gepackt hatte, als ihm der Gedanke gekommen war, Soldat zu werden, zum Kampf an die Grenze zu eilen. Vielleicht wollte das Frankreich des Plebiszits gar nicht den Krieg, als es sich dem Kaiser in die Hände lieferte. Vor acht Tagen hatte er selbst ihn noch für schlecht und dumm erklärt. Man redete von der Bewerbung eines deutschen Prinzen um den spanischen Thron; in der allmählich entstehenden Verwirrung schien jedermann unrecht zu haben, so sehr, daß kein Mensch mehr wußte, von wessen Seite denn die Herausforderung kam, und daß allein das Unvermeidliche bestehen blieb, das verhängnisvolle Gesetz, das zu gegebener Stunde ein Volk auf das andere hetzt. Aber ein großer Schauder war über Paris gegangen; er sah wieder den glühenden Abend, die Mengen, die die Boulevards mit sich führten, die fackelschwingenden Massen, die »Nach Berlin! Nach Berlin!« schrien. Vor dem Rathause sah er noch, wie ein schönes großes Weib, auf einem Kutschbock stehend, mit dem Profil einer Königin, in die Falten einer Fahne gehüllt, die Marseillaise sang. War das denn gelogen? Schlug da nicht das Herz von Paris? Und dann folgten wie immer bei ihm nach dieser nervösen Aufregung Stunden schrecklichen Zweifels und Widerwillens: die Ankunft in der Kaserne, der Adjutant, der ihn empfangen hatte, der Sergeant, der ihn einkleiden ließ, die verpestete und von Schmutz starrende Stube, die Kameradschaft mit den neuen, groben Genossen, der gedankenlose Dienst, der ihm die Glieder zerbrach und das Gehirn so schwer machte. In weniger als einer Woche aber hatte er sich daran gewöhnt und empfand weiter keinen Widerwillen mehr. Und wieder hatte ihn die Begeisterung gepackt, als das Regiment endlich nach Belfort abging.

Vom ersten Tage an war Maurice sicher gewesen, daß sie siegen würden. Der Plan des Kaisers war ihm klar: vierhunderttausend Mann an den Rhein werfen, den Fluß überschreiten, ehe die Preußen fertig wären, und Nord- und Süddeutschland durch einen kräftigen Stoß trennen, und durch einen in die Augen springenden Erfolg Österreich und Italien zwingen, gemeinsame Sache mit Frankreich zu machen. War nicht einen Augenblick das Gerücht umhergelaufen, das siebente Korps solle sich in Brest einschiffen, um in Dänemark zu landen und so eine Seitenbewegung auszuführen, die Preußen zwingen würde, eine seiner Armeen nicht von der Stelle zu rühren? Es sollte überrascht, von allen Seiten übermannt, in wenigen Wochen vernichtet werden. Ein einfacher militärischer Spaziergang von Straßburg nach Berlin. Aber seit dem Aufenthalt in Belfort quälte ihn die Unruhe. Das siebente Korps, dem die Überwachung der Lücke im Schwarzwald oblag, war dort in einer unsagbaren Unordnung eingetroffen, unvollzählig, mit Mangel an allem. Die dritte Division erwartete man erst aus Italien; die zweite Kavalleriebrigade blieb aus Furcht vor einer Bewegung im Volke in Lyon; und drei Batterien hatten sich verkrümelt, man wußte nicht wohin. Dann ergab sich ein ganz ungewöhnlicher Notstand: die Magazine von Belfort, die alles liefern sollten, waren leer: weder Zelte noch Kochgeschirre, weder Flanellbinden noch Medizinkisten, weder Feldschmieden noch Spannfesseln waren vorhanden. Kein Krankenpfleger und kein Arbeiter war da. Im letzten Augenblick kam man dahinter, daß dreißigtausend für die Instandhaltung der Gewehre unbedingt notwendige Ersatzstücke fehlten; und es mußte ein Offizier nach Paris geschickt werden, der fünftausend mühsam zusammenraffte und zurückbrachte. Was ihn auf der andern Seite ängstigte, war die Untätigkeit. Seit zwei Wochen standen sie nun da; warum gingen sie nicht vor? Er fühlte sehr wohl, daß jeder Tag des Wartens eine Möglichkeit bedeute, den Sieg zu verlieren. Und vor dem Plane seines Traumes reckte sich die Wirklichkeit der Durchführung dessen empor, was er später erfahren sollte, was er jetzt nur angstvoll und dunkel ahnte: die sieben an der Grenze von Metz bis Bitsch und Bitsch bis Belfort entlang gestaffelten Armeekorps verzettelt; die Sollbestände überall unvollzählig, die vierhunderttausend Mann auf zweihundertdreißigtausend zurückgeschraubt; die Generäle voll Eifersucht gegeneinander, jeder einzelne fest entschlossen, sich den Marschallstab zu holen, ohne dem andern zu helfen; ein schrecklicher Mangel an Voraussicht; die Mobilmachung und der Aufmarsch, um Zeit zu gewinnen, zu gleicher Zeit vollzogen und zu einem unentwirrbaren Durcheinander führend; endlich die langsame, von oben herunterkommende Lähmung, der Kaiser krank, unfähig, einen raschen Entschluß zu fassen, was sich schließlich doch der ganzen Armee mitteilen mußte, sie zur Unordnung, zur Vernichtung führen, sie den schlimmsten Unfällen entgegentreiben mußte, ohne daß sie sich verteidigen konnte. Und trotzdem – über dieses dumpfe Unbehagen der Erwartung hinaus verblieb ihm in dem gefühlsmäßigen Schauder vor den Dingen, die da kommen sollten, doch die Gewißheit, daß sie siegen würden.

Plötzlich wurde am 3. August die Nachricht von dem am Tage vorher errungenen Siege bei Saarbrücken laut. Ein großer Sieg, soweit man wußte. Aber die Zeitungen schäumten von Begeisterung über: das bedeutete den Einfall in Deutschland, den ersten Schritt auf dem Wege zum Ruhm; und um den kaiserlichen Prinzen, der auf dem Schlachtfelde kaltblütig eine Kugel aufgelesen hatte, begann sich schon ein Sagenkreis zu spinnen. Als dann zwei Tage später die vernichtende Niederlage von Weißenburg bekannt wurde, entrang sich allgemein ein Wutschrei der Brust. Fünftausend Mann in einen Hinterhalt gefallen, und hatten sich noch zehn Stunden lang gegen fünfunddreißigtausend Mann gewehrt: diese feige Schlachterei schrie einfach nach Rache! Zweifellos waren die Führer schuld; sie hatten sich so wenig in acht genommen und nichts vorgesehen. Aber das alles ließ sich wieder gutmachen, und der Marschall Mac Mahon hatte die erste Division des siebenten Korps zu Hilfe gerufen, das erste Korps sollte vom fünften gestützt werden, und die Preußen würden in diesem Augenblick schon wieder über den Rhein sein, mit den Bajonetten unserer Infanterie im Rücken. Und der Gedanke, daß heute wütend gekämpft werde, das immer fieberhaftere Warten auf Nachrichten, all die weitverbreitete Spannung vergrößerte sich jede Minute unter dem weiten, blasser werdenden Himmel.

Das war's, was Maurice Weiß wiederholt gesagt hatte.

»Ah, sie hätten heute sicher eine schöne Tracht Hiebe gekriegt.«

Ohne zu antworten, schüttelte Weiß sorgenvoll den Kopf. Auch er sah nach dem Rhein hinüber, dort nach Osten, wo es schon vollständig dunkel war, eine schwarze Mauer, noch düsterer durch die Geheimnisse, die sie barg. Seit den letzten Klängen des Appells war ein großes Schweigen über das Lager gesunken, selten noch durch Stimmen und Schritte einiger verspäteter Soldaten gestört. Da blitzte in dem Zimmer des Hofes, in dem der Stab in Erwartung der stündlich einlaufenden, immer noch unklaren Depeschen wachte, ein Licht auf, ein funkelnder Stern. Und das endlich verlassene Feuer aus grünem Holz stieß immer noch seinen dicken, traurigen Qualm aus, den ein leichter Wind über den Hof hin gen Himmel trieb, wo er die ersten Sterne trübte.

»Eine Tracht Hiebe!« wiederholte Weiß schließlich, »wollte Gott dich erhören!«

Jean, der immer noch ein paar Schritte abseits saß, spitzte die Ohren, während der Leutnant Rochas, der gerade auf diesen Wunsch hinzukam, in dem ein Ton des Zweifels mitschwang, wie angewurzelt stehen blieb, um zuzuhören.

»Was!« fing Maurice wieder an »du hast kein unbedingtes Zutrauen, du hältst eine Niederlage überhaupt für möglich?«

Sein Schwager brachte ihn mit einer zitternden Handbewegung zum Schweigen, und sein gutes Gesicht wurde mit einemmal ganz fassungslos und bleich.

»Eine Niederlage, Gott bewahre uns! ... Du weißt, ich stamme hier aus der Gegend, mein Großvater und meine Großmutter wurden 1814 von den Kosaken ermordet; und wenn ich an einen Einfall denke, ballen sich meine Fäuste; trotz meines Zivilrockes werde ich schießen wie ein alter Soldat! Eine Niederlage, nein, nein! die will ich nicht für möglich halten!«

Er beruhigte sich, ließ aber doch als Zeichen seiner Niedergeschlagenheit die Schultern hängen.

»Allein, was willst du! Ich habe keine Ruhe mehr ... Ich kenne mein Elsaß schon; habe es eben wieder in Geschäften durchlaufen; und wir haben was gesehen, was den Generälen in die Augen springen sollte, was sie aber nicht sehen wollen ... Ach! wir haben uns ja nach dem Kriege mit Preußen gesehnt; lange haben wir geduldig gewartet, um die alte Geschichte ins reine zu bringen. Aber das verhindert doch nicht unsere Beziehungen zu Baden und Bayern; alle haben wir Verwandte dort drüben über dem Rhein. Wir dachten, sie träumten ebenso wie wir nur davon, den unerträglichen Hochmut der Preußen zu Boden zu schlagen ... Und wir sind doch so ruhig und entschlossen; aber seit vierzehn Tagen packt uns nun schon die Unruhe und Ungeduld, wenn wir sehen, wie alles immer schiefer läuft. Seit der Kriegserklärung hat die feindliche Kavallerie ruhig die Dörfer in Schrecken setzen dürfen, das Gelände aufklären, die Telegraphendrähte abschneiden. Baden und Bayern erheben sich, in der Pfalz haben mächtige Truppenbewegungen stattgefunden; die Auskünfte, die überallher von den Märkten und Messen kommen, beweisen uns, daß die Grenze bedroht wird; und wenn die Einwohner, die Ortsvorsteher in ihrer Angst zu den Offizieren laufen, um ihnen zu erzählen, was vorgeht, zucken die die Achseln: leere Einbildungen von Feiglingen, der Feind ist weit ... Was? während wir keine Stunde verlieren sollten, gehen Tage und abermals Tage hin! Was haben wir nun zu erwarten? Daß uns ganz Deutschland über den Hals kommt!«

Er sprach mit leiser, trostloser Stimme, als ob er diese Geschichten sich selbst wieder vorerzählte, nachdem er lange drüber nachgedacht hätte.

»Ach! Deutschland kenne ich ja auch; und das Schrecklichste ist, daß ihr alle es scheinbar so wenig kennt wie China ... Du erinnerst dich doch noch meines Vetters Günther, Maurice, des jungen Mannes, der im letzten Frühling nach Sedan kam, um mich zu begrüßen. Er ist mein Vetter mütterlicherseits; seine Mutter ist eine Schwester von meiner und hat sich nach Berlin verheiratet; da hinten sitzt er, voll Haß gegen Frankreich. Er steht jetzt als Hauptmann in der preußischen Garde ... Ich höre ihn noch, wie er mir an dem Abend, als ich ihn zur Bahn brachte, mit seiner schneidenden Stimme zurief: ›Wenn Frankreich uns den Krieg erklärt, wird es geschlagen.‹«

Da mit einemmal sprang der Leutnant Rochas, der bis dahin an sich gehalten hatte, wütend vorwärts. »Zum Donnerwetter! was soll das heißen, daß Sie uns hier die Leute flau machen!«

Jean, der sich nicht in den Kram mischen wollte, fand doch, daß er recht habe. Wenn er sich auch anfangs über die lange Verzögerung und die Unordnung gewundert hatte, in der sich alles befand, so zweifelte er doch keinen Augenblick daran, daß die Preußen eine fürchterliche Tracht Hiebe kriegen würden. Das war sicher, deswegen waren sie doch nur gekommen.

»Aber Herr Leutnant,« entgegnete Weiß auf diese Unterbrechung, »ich will doch niemand flau machen ... Im Gegenteil, ich wollte, alle Welt wüßte, was ich weiß; denn es ist doch das beste, daß man alles weiß, um sich in acht nehmen zu können ... Und sehen Sie mal, dies Deutschland ...«

Und er fing wieder an, in seiner verständigen Weise seine Befürchtungen zu erklären: Preußens Vergrößerung nach Sadowa, die volkstümliche Bewegung, die es an die Spitze der übrigen deutschen Staaten brachte, das ganze weite, in Neubildung begriffene Reich, verjüngt, mit dem begeisterten, unwiderstehlichen Antrieb, sich seine Einheit zu erstreiten; die Einrichtung der allgemeinen Wehrpflicht, die das Volk in Waffen bedeutete, das gut unterrichtet, voller Manneszucht, mächtig ausgerüstet, auf den großen Krieg eingedrillt war, noch ruhmbedeckt von seinem zerschmetternden Sieg über Osterreich; die geistigen Fähigkeiten, die sittliche Kraft eines solchen von fast lauter jungen Führern befehligten Heeres, das einem Oberbefehlshaber gehorchte, der die Kriegskunst erneuern zu wollen schien, klug und von vollkommener Voraussicht, einem geradezu wunderbar klaren Verstand. Und diesem Deutschland wagte er dann noch einmal Frankreich gegenüberzustellen: das altersschwache Kaisertum, durch das Plebiszit noch einmal gestärkt, aber an der Wurzel verfault, das jeden Gedanken an ein gemeinsames Vaterland durch Zerstörung der Freiheit geschwächt hatte, zu spät und nur um seinen eigenen Untergang zu erleben, wieder liberal geworden war, bereit zu zerfallen, sobald es die von ihm selbst entfesselte Genußsucht nicht mehr befriedigen konnte; das Heer, gewiß erfüllt mit dem bewundernswerten Mut seiner Rasse, überladen mit den Lorbeern der Krim und Italien, aber durch Stellenkauf verdorben, in der afrikanischen Schule stecken geblieben, zu siegesgewiß, um sich mit neuer Wissenschaft abzugeben; die Generäle schließlich großenteils mittelmäßig, sich in Eifersüchteleien verzehrend, einzelne von erstaunlicher Unwissenheit; und der kaiserliche Dulder an seiner Spitze zaudernd, durch sich selbst und andere über das beginnende schreckliche Abenteuer getäuscht, in das alle sich blind, ohne ernsthafte Vorbereitung hineinstürzten, mit der Bestürzung und der sinnlosen Hast einer zum Schlachthaus geführten Herde.

Rochas hörte mit weitaufgerissenen Augen und offenem Munde zu. Seine ungeheure Nase zuckte. Dann brach er plötzlich in ein Lachen aus, ein ungeheures Lachen, das ihm die Kinnbacken zu zerbrechen drohte.

»Was Sie uns da alles vorplarren! Was sollen denn all diese Dummheiten heißen? ... Das ist ja doch Unsinn! Das ist ja zu dumm, als daß man sich den Kopf darüber zerbrechen sollte ... Erzählen Sie das Rekruten, aber mir doch nicht! mir doch nicht mit meinen siebenundzwanzig Dienstjahren!«

Und er schlug sich mit der Faust vor die Brust. Er war als Sohn eines aus dem Limousin nach Paris gekommenen Maurers in Paris geboren und schämte sich des väterlichen Berufes; mit achtzehn Jahren hatte er sich anwerben lassen. Als Glückssoldat hatte er den Affen geschleppt, war in Afrika Korporal geworden, bei Sebastopol Sergeant, nach Solferino Leutnant und war in fünfzehn Jahren harten Daseins und heldenhaften Mutes so weit gekommen, um sich bis zu dieser Stufe emporzuschwingen; aber er war zu ungebildet, um es je bis zum Hauptmann zu bringen.

»Aber Herr, Sie wissen ja alles, und wissen nicht mal das ... Ja, bei Mazagran, ich war knapp neunzehn, und wir waren nur hundertdreiundzwanzig Mann, keiner mehr, und wir haben uns vier Tage gegen zwölftausend Araber gehalten ... Ach! ja wohl, da unten in Afrika Jahre und Jahre lang, bei Maskara, bei Biskra, bei Delly, später in Groß-Kabylien, und dann bei Laguat, wenn Sie da mit dabei gewesen wären, Herr, da hätten Sie all die schmierigen Mohren wie die Hasen laufen sehen sollen, sobald wir kamen ... Und bei Sebastopol, Herr, verflucht noch mal! da war's wahrhaftig nicht gerade schön! Stürme, um einem die Haare auszureißen, eine Hundekälte, immer auf dem Sprung, weil diese Wilden schließlich alles in die Luft gehen ließen! Das hinderte uns ja nun nicht, sie nicht auch in die Luft zu sprengen, haha! mit Musik in den großen Backofen! ... Und bei Solferino waren Sie doch auch nicht, Herr, was reden Sie denn davon? ja, bei Solferino, wo es so heiß war, trotzdem an dem Tage mehr Wasser vom Himmel herunterkam, als Sie in ihrem Leben gesehen haben! die Tracht Prügel, die die Österreicher bei Solferino bekamen, Sie hätten sie mal sehen sollen, wie sie vor unseren Bajonetten im Galopp über Kopf gingen, um nur schneller zu laufen, als ob sie Feuer unterm Hintern hätten!«

Er platzte förmlich vor Wohlbehagen; die ganze altbekannte Heiterkeit des französischen Soldaten klang aus seinem Siegesgelächter. Da hatten sie die alte Sage, den französischen Soldaten auf dem Marsch durch die Welt zwischen seiner Schönsten und der Weinflasche, die Welt erobernd unter dem Gesang seiner Schwänke. Ein Korporal und vier Mann, die Riesenarmeen in den Staub beißen ließen.

Jetzt mit einem Male dröhnte seine Stimme dumpf:

»Geschlagen ... Frankreich geschlagen! ... diese Schweinehunde von Preußen sollten uns schlagen!«

Er trat heran und packte Weiß beim Rockaufschlag. Seine ganze magere Gestalt eines irrenden Ritters drückte völlige Verachtung jedes Gegners aus, sei er, wer er sei, gänzlich unbekümmert um Zeit und Umgebung.

»Hören Sie wohl, Herr ... wenn die Preußen wagen sollten zu kommen, dann jagen wir sie mit Fußtritten vor den Hintern nach Hause. Verstehen Sie, mit Fußtritten hintenvor bis nach Berlin!«

Er stand groß da mit seiner offenen, kindlichen Stirn, in der ehrlichen Überzeugung eines Ahnungslosen, der nichts weiß und auch nichts fürchtet.

»Teufel nochmal! So ist's, weil es nun mal nicht anders sein kann!«

Weiß beeilte sich, ganz betäubt und fast überzeugt zu erklären, daß er sich nichts Besseres wünsche. Maurice seinerseits schwieg, da er einem Vorgesetzten nicht ins Wort fallen mochte, und stimmte schließlich in sein Lachen ein: dieser Teufelskerl, den er übrigens für einen Dummkopf hielt, machte ihn warm ums Herz. Jean hatte jedes Wort seines Leutnants mit einem Kopfnicken gebilligt. Er war auch bei Solferino gewesen, wo es so sehr geregnet hatte. Das war noch 'ne Rede! Wenn alle Führer sprachen wie der, dann brauchte man sich nicht um fehlende Flanellbinden und Kochgeschirre zu quälen.

Es war schon lange vollständig Nacht, und Rochas fuhr fort, seine langen Gliedmaßen in der Finsternis herumzuschwenken. Er hatte niemals mehr als einen Band der Siege Napoleons durchbuchstabiert, der ihm aus der Kiste eines fliegenden Buchhändlers in den Tornister geraten war. Er konnte sich nicht beruhigen, und all seine Wissenschaft machte sich in stürmischen Ausrufen Luft.

»Österreich bei Marengo verhauen, bei Castiglione, bei Austerlitz, bei Wagram! Preußen verhauen bei Eylau, bei Jena, bei Lützen! Rußland verhauen bei Friedland, bei Smolensk, an der Moskwa! Spanien und England überall verhauen! die ganze Welt verhauen von oben bis unten und weit und breit!... Und nun sollten wir Prügel kriegen? warum denn? wie denn? Hat sich denn die Welt auf den Kopf gestellt?«

Er reckte sich noch höher und erhob seinen Arm wie eine Fahnenstange.

»Sehen Sie mal! heute haben sie sich da hinten geschlagen, wir warten noch auf Meldung. Na schön! die Meldung will ich Ihnen nun mal erstatten!... wir haben die Preußen geschlagen, verhauen, daß sie Arme und Beine liegen ließen, daß man nur so die Fetzen zusammenfegen kann!«

In dem Augenblick tönte durch die dunkle Luft ein langgezogener, schmerzerfüllter Schrei. War es die Klage eines Nachtvogels? War es die tränenschwere, weitherkommende Stimme eines Geheimnisses? Das ganze in Finsternis getauchte Lager schauerte zusammen; die in der Erwartung der Nachrichten, die gar nicht überkommen wollten, sich ausbreitende Angst erreichte Fieberhitze und griff immer mehr um sich. In der Ferne auf dem Hofe brannte die Kerze, die die unruhige Nachtarbeit des Stabes erhellte, immer höher, die gerade, unbewegliche Flamme einer Wachskerze.

Aber es war zehn Uhr, und Gaude erhob sich von dem schwarzen Erdboden, auf dem er verschwunden war, und blies als erster das: »Feuer aus!« Andere Hörner antworteten und verhallten von Ort zu Ort in einem allmählich hinsterbenden Klange, wie schon vom Schlaf überwältigt. Und Weiß, der die späte Stunde ganz vergessen hatte, drückte Maurice zärtlich an die Brust: Hoffnung und guten Mut! Er wollte Henriette von ihrem Bruder einen Kuß geben und Ohm Fouchard allerlei erzählen. Als er dann endlich aufbrach, sprang in fieberhafter Geschwindigkeit ein Gerücht auf. Der Marschall Mac Mahon hatte einen großen Sieg errungen: der Kronprinz von Preußen war mit fünfundzwanzigtausend Mann gefangen, die feindliche Heeresgruppe mit Verlust ihrer Geschütze und der Bagage zurückgeschlagen.

Rochas konnte mit seiner Donnerstimme nur: »Teufel auch!« schreien. Dann lief er ganz glücklich hinter Weiß her, der sich beeilte, wieder nach Mülhausen hereinzukommen.

»Mit Tritten vor den Hintern, Herr, mit Tritten vor den Hintern bis nach Berlin!«

Eine Viertelstunde später meldete eine andere Depesche, die Heeresgruppe hatte Wörth aufgeben müssen und befände sich auf dem Rückzuge. Ach! was für eine Nacht! Rochas hatte sich gerade vor Müdigkeit zu Boden gedrückt in seinen Mantel gewickelt und schlief unbekümmert um jeden Schutz auf der Erde, wie schon so oft. Maurice und Jean waren ins Zelt geschlüpft, wo Loubet, Chouteau, Pache und Lapoulle sich schon drängten, den Kopf auf dem Tornister. Wenn sie die Beine anzogen, hielt das Zelt sechs Mann. Loubet hatte ihnen erst allen ihren Hunger erleichtert, indem er Lapoulle vorerzählte, es würde morgen bei der Verteilung Hühner geben; aber sie waren zu müde, sie schnarchten, und wenn die Preußen gekommen wären. Einen Augenblick hielt sich Jean regungslos gegen Maurice gepreßt; trotz seiner Müdigkeit wollte es mit dem Einschlafen nicht gehen, alles was der Herr ihm erzählt hatte ging ihm im Kopf herum, Deutschland in Waffen, nicht zu zählen, gefräßig; und er fühlte, daß sein Gefährte auch nicht schlief und an dieselben Sachen dachte. Da machte dieser eine ungeduldige, ausweichende Bewegung, und der andere begriff, daß er ihm zuwider war. Zwischen dem Bauern und dem Gelehrten bestand eine gefühlsmäßige Feindschaft, ein Widerwillen wie eine physische Krankheit wegen des Unterschiedes an Stand und Bildung. Dabei empfand der erstere dies mit Scham, im Grunde mit einer gewissen Traurigkeit und machte sich ganz klein in dem Bestreben, der feindlichen Mißachtung, die er auf der andern Seite ahnte, auszuweichen. Wenn die Nacht draußen auch ganz frisch war, im Zelt erstickte man unter dieser Anhäufung von Körpern derartig, daß Maurice außer sich vor Fieber mit einem wilden Satz heraussprang, um sich in einiger Entfernung hinzulegen. Der unglückliche Jean rollte sich in einem Alpdrücken, einem peinlichen Halbschlaf umher, in dem sich der Kummer, daß niemand ihn lieb hätte, mit der Ahnung eines ungeheuren Unglücks vermengte, das er in weiter Ferne auf dem Hintergrunde des Unbekannten heranjagen zu hören glaubte.

Stunden mußten vergangen sein; das ganze schwarze unbewegliche Lager schien wie in einem Nichts aufgelöst unter dem Druck der riesigen, übelwollenden Nacht, die etwas Schreckliches, noch Unbekanntes barg. Plötzliches Auffahren kam aus diesem schattenhaften See, unvermitteltes Schnarchen drang aus einem unsichtbaren Zelte. Dann wieder waren es Geräusche, die man kaum erkennen konnte, das Schnauben eines Pferdes, das Aufschlagen eines Säbels, das Enteilen eines verspäteten Herumtreibers; all diese ganz gewohnten Töne hörten sich wie etwas Drohendes an. Aber plötzlich fuhr nahe bei der Kantine eine mächtige Lohe in die Höhe. Die erste Zeltreihe wurde ganz hell, man unterschied die Reihen der zusammengestellten Gewehre, die glatten, blanken Läufe, auf denen rote Lichter wie Rinnsale frischen Blutes spielten; auch die düstern, aufrechten Gestalten der Posten wurden in dieser plötzlichen Feuersbrunst sichtbar. War das der Feind, den die Führer seit zwei Tagen ankündigten und den sie von Belfort bis Mülhausen gesucht hatten? Da erlosch die Flamme unter einem mächtigen Funkenregen. Es war nur der Haufen grünes Holz gewesen, den Lapoulle so lange getriezt hatte und der nun, nachdem er stundenlang geschwelt hatte, wie ein Strohfeuer emporflammte.

Jean war in seinem Schrecken über die plötzliche Helligkeit Hals über Kopf aus dem Zelte gesprungen, und er mußte notwendig auf Maurice stoßen, der auf den Ellbogen gestützt sich die Sache ansah. Die Nacht schien dunkler wieder herabzusinken, und die beiden Männer blieben ein paar Schritte voneinander auf der Erde hingestreckt liegen. Vor sich hatten sie auf dem dunklen Hintergrunde nur das immer noch erhellte Fenster des Hofes, die einsame Kerze, die bei einem Toten zu wachen schien. Wie viel Uhr mochte es sein? zwei, drei vielleicht? Da hinten der Stab schlief sicher nicht. Sie hörten die Stimme des großmäuligen Generals Bourgain-Desfeuilles, der sich in seiner Wut über diese Nachtwache durch Grog und Zigarren aufrechtzuhalten suchte. Neue Telegramme kamen, die Lage schien sich zu verschlechtern, schattenhaft jagten Meldereiter dahin, plötzlich losschießend und verschwommen. Schritte ertönten, Flüche wie ein erstickter Todesschrei, gefolgt von schrecklichem Schweigen. Was nun? war das das Ende? ein eisiger Hauch lief über das von Schlaf und Angst förmlich vernichtete Lager hin.

Da erkannten Maurice und Jean in einem schnell vorüberhuschenden langen, magern Schatten den Oberst von Vineuil. Er ging offenbar zusammen mit dem Stabsarzt Bouroche, einem Riesen mit einem Löwenkopfe. Die beiden wechselten unzusammenhängende, unvollständige, getuschelte Worte, wie man sie in bösen Träumen hört.

»Sie kommt aus Basel ... Unsere erste Division vernichtet ... Zwölf Stunden Gefecht, die ganze Armee auf dem Rückzuge ...«

Der Schatten des Obersten hielt an, rief einen andern Schatten an, der eilig herankam, leicht, fein und durchaus vorschriftsmäßig.

»Sind Sie's, Beaudouin?«

»Jawohl, Herr Oberst!«

»Ach, lieber Freund, Mac Mahon bei Fröschweiler geschlagen, Frossard bei Spichern geschlagen, de Failly zwischen beiden festgenagelt, ohne Zweck ... Bei Fröschweiler ein Korps gegen eine ganze Armee, ein verlorener Haufe. Und alles verloren, in Unordnung, in Panik, Frankreich liegt offen da ...«

Tränen erstickten seine Stimme, seine Worte verloren sich, die drei Schatten verschwanden im Dunkel wie ertrunken, zerschmolzen.

In seinem ganzen innern Weisen zitternd, stand Maurice auf.

»Mein Gott!« stammelte er.

Weiter konnte er nicht, während Jean, das Herz zu Eis erstarrt, murmelte:

»Oh! diese verfluchte Geschichte! ... Schließlich hatte der Herr da, Ihr Verwandter, doch recht mit seinem Gerede, daß die da stärker sind als wir.«

Maurice war außer sich und hatte ihn erwürgen mögen. Die Preußen stärker als die Franzosen! Das brachte ja gerade seinen Stolz zum Bluten. Der Bauer fuhr aber schon kalt und hartnäckig fort:

»Das macht aber nichts, sehen Sie. Wenn man auch mal einen Klaps kriegt, deshalb braucht man sich noch nicht zu ergeben ... Gerade dann muß man wiederhauen.«

Aber vor ihnen hatte sich eine lange Figur erhoben. Sie erkannten Rochas, noch in seinen Mantel gewickelt, den die vorbeiirrenden Schritte, vielleicht auch der Hauch der Niederlage aus seinem harten Schlaf emporgeschreckt hatten. Er fragte wißbegierig.

Als er mit Mühe und Not begriffen hatte, malte sich in seinen ausdruckslosen Kinderaugen ein gewaltiges Erstaunen. Mehr als zehnmal hintereinander wiederholte er:

»Geschlagen! wieso geschlagen? warum geschlagen?«

Jetzt graute im Osten der Tag in einem unklaren Licht von unendlicher Traurigkeit über den schlummernden Zelten, in deren einem man die erdfarbigen Gesichter von Loubet und Lapoulle, Chouteau und Pache allmählich unterscheiden konnte, die immer noch mit offenem Munde schnarchten. Voller Trauer, in rußige Nebel gehüllt, die sich aus dem entfernten Flusse da hinten erhoben, brach der Tag an.


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