Emile Zola
Der Zusammenbruch
Emile Zola

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8

Am Ende der Landstraße von Wadelincourt wurde Jean in dem Gedränge auf dem Platz de Torcy von Maurice getrennt; und so lief er weiter und verirrte sich in dem da hintrabenden Knäuel, ohne ihn wiederfinden zu können. Das war wirklich ein unglücklicher Zufall, denn er war auf das Angebot des jungen Mannes, ihn mit zu seiner Schwester zu nehmen, eingegangen: da wollten sie sich ausruhen, sie würden sogar in einem guten Bett schlafen. Die Unordnung war so groß, alle Regimenter so miteinander verschmolzen und dabei weder Marschbefehle noch Führung vorhanden, daß die Mannschaften fast tun konnten, was sie wollten. Wenn sie nur erst mal ein paar Stunden geschlafen hätten, würden sie immer noch Zeit genug haben, um sich zurechtzufinden und die Kameraden wieder zu treffen.

Ganz bestürzt fand Jean sich auf der Hochbrücke von Torcy wieder, hoch über den weiten Wiesen, die der Gouverneur durch das Wasser des Flusses hatte überstauen lassen. Nachdem er dann noch ein anderes Tor durchschritten hatte, kam er über die Maasbrücke, und da war ihm, als fange trotz der zunehmenden Helligkeit die Nacht wieder an in dieser engen, in ihren Wällen zusammengepferchten Stadt mit ihren feuchten, von hohen Häusern eingefaßten Straßen. Er erinnerte sich nicht einmal des Namens von Maurices Schwager; er wußte nur, daß seine Schwester Henriette hieß. Wo sollte er hin? Wen konnte er fragen? Seine Füße trugen ihn nur noch mit der rein triebhaften Bewegung des Gehens weiter; er fühlte, daß er fallen würde, sobald er anhielte. Wie ein Ertrinkender hörte er nur noch ein dumpfes Brausen; er empfand nur noch das unaufhörliche Brausen dieser Flut von Menschen und Tieren, in der er mitgeführt wurde. Nachdem er in Remilly gegessen hatte, fühlte er jetzt vor allem ein Bedürfnis nach Schlaf; rund um ihn herum überwog gleichfalls die Müdigkeit über den Hunger; die Menge der Schatten stolperte nur noch durch die unbekannten Straßen. Bei jedem Schritt stürzte ein Mann auf dem Fußsteig zusammen oder fiel gegen eine Tür, wo er wie ein Toter festschlafend liegenblieb.

Jean sah in die Höhe und las auf einem Schilde: Avenue de la Souspréfecture. An ihrem Ende stand ein Denkmal in einer Gartenanlage. Und an der Ecke der Avenue sah er einen Reiter, einen Chasseur d'Afrique, der ihm bekannt vorkam. War das nicht Prosper, der Bursche aus Remilly, den er in Vouziers mit Maurice gesehen hatte? Er war von seinem Pferde abgesessen, und das magere Pferd, das zitternd auf den Beinen stand, hatte solchen Hunger, daß es mit vorgestrecktem Hals die Bretter eines der Gepäckwagen benagte, der neben dem Fußsteige stand. Seit zwei Tagen hatten die Pferde kein Futter mehr bekommen; sie starben vor Erschöpfung. Ihre starken Zähne brachten auf dem Holz ein raspelndes Geräusch hervor, und der Jäger weinte.

Als Jean, der weitergegangen war, dann zurückkam in dem Gedanken, der Bursche werde die Wohnung von Maurices Verwandten noch wissen, fand er ihn nicht mehr. Nun war er verzweifelt und irrte von Straße zu Straße umher; er fand sich auf dem Platz vor der Unterpräfektur wieder und ging bis zum Turenneplatz weiter. Dort hielt er sich einen Augenblick für gerettet, als er vor dem Stadthause unmittelbar am Fuße des Denkmals den Leutnant Rochas mit ein paar Leuten der Kompagnie erblickte. Wenn er seinen Freund nicht wiederfinden konnte, wollte er sich wenigstens seinem Regiment wieder anschließen und im Zelte schlafen. Hauptmann Beaudouin hatten sie noch nicht wiedergesehen; der war für sich allein verschlagen und anderswo gescheitert; der Leutnant versuchte seine Leute wieder zusammenzubringen und durch vergebliche Fragen den Standort seiner Division zu erfahren. Aber je weiter er in die Stadt hineinkam, desto kleiner wurde die Kompanie, anstatt zuzunehmen. Ein Soldat lief mit irrsinnigen Gebärden in eine Herberge und kam nicht wieder. Drei andere blieben vor der Tür eines Ladens stehen, wo sie von Zuaven festgehalten wurden, die einem Fäßchen Branntwein den Boden eingeschlagen hatten. Viele lagen schon im Rinnstein, andere wollten weiter und fielen vernichtet, blöde zusammen. Chouteau und Loubet stießen sich mit dem Ellbogen an und verschwanden dann sofort in der Tiefe einer dunklen Gasse hinter einer dicken Frau, die ein Brot trug. So waren bei dem Leutnant nur noch Pache und Lapoulle und ein Dutzend Kameraden.

Am Fuß des Bronzestandbildes Turennes machte Rochas gewaltige Anstrengungen, um sich mit offenen Augen aufrechtzuhalten. Als er Jean erkannte, sagte er leise:

»Ach, Sie sind's, Korporal! Und Ihre Leute?«

Jean machte eine ausweichende Bewegung, wie um zu sagen, das wüßte er nicht. Pache aber wies auf Lapoulle und antwortete, von einem Tränenstrom überwältigt:

»Da sind wir, wir sind nur noch zwei Mann ... Möge der liebe Gott sich unser erbarmen; das ist zu jammervoll!«

Der andere, der Freßsack, sah mit einem gefräßigen Blick nach Jeans Händen, außer sich darüber, daß er sie jetzt immer leer fand. Vielleicht hatte er in seiner Schlaftrunkenheit geträumt, der Korporal sei zur Verteilung gegangen.

»Verfluchte Geschichte!« brummte er, »muß man sich wieder mal den Bauch zusammenschnüren!«

Der Hornist Gaude, der auf den Befehl zum Sammeln zu blasen wartete, glitt mit einem Rutsch aus und schlief auf dem Rücken ausgestreckt ein. Einer nach dem andern fielen sie alle um und schnarchten mit geballten Fäusten. Nur der Sergeant Sapin mit seiner kleinen spitzen Nase in dem blassen Gesicht hielt die Augen noch weit offen, als lese er vom Horizont dieser unbekannten Stadt sein Schicksal ab.

Nun gab auch Leutnant Rochas dem unwiderstehlichen Zwang nach, sich auf die Erde zu setzen. Er wollte einen Befehl geben.

»Sergeant, es muß ... es muß ...«

Er fand keine Worte mehr, der Mund war von Müdigkeit wie verklebt, und plötzlich streckte er sich, vom Schlaf übermannt, gleichfalls aus.

Auch Jean fürchtete aufs Pflaster niederzufallen und ging weiter. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, ein Bett zu suchen. Auf der andern Seite des Platzes hatte er in einem Fenster des Wirtshauses Zum goldenen Kreuz den General Bourgain-Desfeuilles gesehen, der schon in Hemdsärmeln bereit war, zwischen seine schönen weißen Bettücher zu rutschen. Was sollte er sich noch quälen und sich weiter Gewalt antun? Da empfand er eine plötzliche Freude, ein Name sprang in seinem Gedächtnis empor, der des Tuchfabrikanten, bei dem Maurices Schwager angestellt war: Herr Delaherche, jawohl! das war es ja. Er hielt einen alten Mann an, der vorüberging.

»Herr Delaherche?«

»Rue Maqua, dicht an der Ecke der Rue au Beurre, ein schönes großes Haus mit Bildhauereien.«

Dann lief der alte Mann hinter ihm her und holte ihn ein.

»Sagen Sie mal. Sie sind ja 106er ... Wenn Sie Ihr Regiment suchen, das liegt beim Schloß, da unten ... Ich hab' eben den Oberst getroffen, Herrn von Vineuil, den ich ganz gut kannte, als er noch in Mézières stand.«

Aber Jean ging mit einer wütenden, ungeduldigen Gebärde weiter. Nein, nein! jetzt, wo er sicher war, Maurice wiederzufinden, wollte er nicht auf der harten Erde schlafen. Aber im Innern quälten ihn Gewissensbisse, denn er sah den Oberst mit seiner hohen Figur vor sich, wie er trotz seines Alters hart gegen jede körperliche Müdigkeit gleich seinen Leuten im Zelte schlief. Schleunigst lief er in die Große Straße und verlor sich abermals in dem wachsenden Gewirr der Stadt, um sich schließlich an einen kleinen Jungen zu wenden, der ihn nach der Rue Maqua brachte.

Ein Großonkel des jetzigen Delaherche hatte dort im letzten Jahrhundert eine wirklich sehenswerte Fabrik gebaut, die seit hundertundsechzig Jahren nicht aus der Familie gekommen war. So gibt es in Sedan noch Tuchfabriken aus den ersten Jahren Ludwigs XV., wie der Louvre so groß, mit Außenseiten von königlicher Pracht. Die in der Rue Maqua hatte drei Stockwerke mit hohen Fenstern, die von ernsten Bildhauerarbeiten eingerahmt waren; ein Palasthof im Innern war noch mit gewaltigen alten Ulmenbäumen aus der Zeit der Gründung bepflanzt. Drei Geschlechter von Delaherches hatten hier beträchtliche Vermögen erworben. Da Julius, der Vater des jetzigen Inhabers, die Fabrik von einem kinderlos verstorbenen Vetter geerbt hatte, herrschte jetzt ein jüngerer Zweig. Dieser Vater hatte viel für das Gedeihen des Hauses getan, aber er war von lockeren Sitten und hatte seine Frau sehr unglücklich gemacht. Als diese daher Witwe geworden war, bestrebte sie sich, in dem Gedanken, ihr Sohn könne dieselben Dummheiten beginnen, ihn bis über sein fünfzigstes Jahr hinaus wie einen großen, vernünftigen Jungen in Abhängigkeit zu halten, nachdem sie ihn mit einer sehr einfachen und frommen Frau verheiratet hatte. Nun ist es aber schlimm, daß das Leben sich schrecklich zu rächen pflegt. Als seine Frau kaum gestorben war, verliebte sich Delaherche, der ja nun seine Jugend hinter sich hatte, rasend in eine junge Witwe aus Charleville, die hübsche Frau Maginot, über die man sich allerlei Geschichten zutuschelte, und heiratete sie schließlich im letzten Herbst trotz der Einwendungen seiner Mutter. Das äußerst puritanische Sedan hat Charleville, die Stadt des Lachens und der Feste, immer mit großer Strenge beurteilt. Die Heirat wäre übrigens auch nie zustande gekommen, wenn Frau Maginot nicht den Oberst von Vineuil zum Onkel geholt hätte, der vor seiner Beförderung zum General stand. Diese Verwandtschaft, vor allem der Gedanke, in eine Soldatenfamilie hineinzukommen, waren dem Tuchfabrikanten höchst schmeichelhaft.

Als Delaherche am Morgen hörte, daß das Heer durch Mouzon kommen werde, harte er mit seinem Buchhalter Weiß in seinem Wagen die Spazierfahrt dorthin gemacht, von der Vater Fouchard Maurice erzählt hatte. Dick und groß, mit kräftigen Farben, starker Nase und dicken Lippen, war er sehr mitteilsam veranlagt und besaß die vergnügte Neugierde des bürgerlichen Franzosen, der eine schöne Truppenschau so sehr liebt. Nachdem er von dem Apotheker von Mouzon erfahren hatte, daß der Kaiser sich auf dem Hofe Baybel befinde, war er dort hinaufgestiegen und hatte ihn gesehen, hatte beinahe sogar mit ihm gesprochen, eine ganz riesige Geschichte, und er wurde seit seiner Rückkehr nicht müde, sie zu erzählen. Wie schrecklich aber war diese Rückkehr inmitten der Panik von Beaumont auf den von Flüchtlingen vollgestopften Wegen! Wieder und wieder war sein leichter Wagen fast in den Graben gestoßen worden. Infolge immer neu auftretender Schwierigkeiten kamen die beiden Männer erst nachts wieder nach Hause. Und diese Vergnügungsfahrt, dieser zwei Meilen lange Vorbeimarsch der Truppen, den Delaherche sich ansehen wollte und der ihn dann in die rasende Hetzjagd ihres Rückzuges hineinzog, dies ganze unvorgesehene, tieftraurige Abenteuer ließ ihn zehnmal nacheinander auf dem Wege wiederholen:

»Und dabei glaubte ich, sie waren auf dem Marsch nach Verdun und wollte nur die Gelegenheit nicht verpassen, sie vorbeimarschieren zu sehen! ... Na ja, gesehen hab' ich sie, und ich glaube, wir werden in Sedan noch mehr von ihnen sehen als uns lieb ist!«

Als er um fünf Uhr morgens durch das laute Brausen wie von einer geöffneten Schleuse, das das siebente Korps beim Durchzug durch die Stadt verursachte, aufgeweckt war, hatte er sich schleunigst angezogen; und in dem ersten Menschen, den er auf dem Turenneplatz traf, hatte er Hauptmann Beaudouin erkannt. Das Jahr vorher in Charleville war der Hauptmann einer der Vertrauten der hübschen Frau Maginot gewesen; so vertraut, daß Gilberte ihn ihm vor der Hochzeit vorgestellt hatte. Die Geschichte, die man sich damals zuraunte, besagte, daß dem Hauptmann nichts mehr zu wünschen übriggeblieben sei, und daß er sich jetzt vor dem Tuchfabrikanten aus Zartgefühl zurückgezogen habe, da er seine Freundin nicht des sehr beträchtlichen Vermögens habe berauben wollen. »Was? Sie sind's?« schrie Delaherche, »und in was für einem Zustande, lieber Gott!«

Beaudouin, der für gewöhnlich so ordentlich und hübsch aussah, machte in der Tat einen bejammernswerten Eindruck in seiner schmutzigen Uniform und mit schwarzem Gesicht und Händen. Voller Verzweiflung hatte er den Weg mit Turkos zurücklegen müssen, ohne sich erklären zu können, wie er seine Kompanie verloren habe. Wie alle übrigen kam er vor Hunger und Mattigkeit um; aber das brachte seine Verzweiflung nicht so auf den Höhepunkt; er litt am meisten darunter, daß er seit Reims sein Hemd nicht hatte wechseln können.

»Denken Sie sich,« war gleich sein erster Seufzer, »in Vouziers haben sie mir mein Gepäck weggebracht. Die Schädel möchte ich ihnen einschlagen, diesen Irrsinnigen, diesen Lumpen, wenn ich sie nur fassen könnte! ... Nichts habe ich mehr, kein Taschentuch, kein Paar Strümpfe! Verrückt könnte man werden, auf Ehre!«

Delaherche bestand darauf, ihn sofort mit zu sich zu nehmen. Aber dem widersprach er: nein, nein! er sah ja gar nicht mehr wie ein Mensch aus, er wollte niemand bange machen. Der Fabrikant mußte ihm schwören, daß weder seine Mutter noch seine Frau schon auf wären. Übrigens würde er ihm Wasser, Seife, Wäsche, kurz alles Nötige geben.

Es schlug sieben Uhr, als Hauptmann Beaudouin gewaschen und abgebürstet, mit einem Hemd des Ehemanns unter der Uniform, in das mit grauem Holz getäfelte Speisezimmer mit seiner hohen Decke trat. Die alte Frau Delaherche war schon da, denn sie stand trotz ihrer siebzig Jahre immer mit Tagesanbruch auf. Sie war ganz weiß, ihre Nase wurde schon schärfer, und der Mund in dem langen, mageren Gesicht lachte nicht mehr. Sie erhob sich und lud den Hauptmann sehr höflich ein, vor einer der schon eingeschenkten Tassen Kaffee mit Milch Platz zu nehmen.

»Vielleicht würden Sie nach all diesen Anstrengungen lieber etwas Fleisch und Wein mögen, mein Herr?«

Dagegen erhob er lauten Einspruch.

»Nein, danke tausendmal, gnädige Frau, etwas Milch mit Brot und Butter würde mir das Liebste sein.«

In diesem Augenblick wurde eine Tür lebhaft geöffnet und Gilberte trat mit ausgestreckter Hand herein. Delaherche hatte ihr wohl Bescheid gesagt, denn für gewöhnlich stand sie nie vor zehn Uhr auf. Sie war groß, mit schmiegsamem, kräftigem Körper, schönen schwarzen Haaren und Augen und dabei rosiger Hautfarbe; ihr Gesicht zeigte ein etwas albernes, aber keineswegs boshaftes Lachen. Ihr Morgenrock aus ungefärbter Wolle mit roter Seidenstickerei kam aus Paris.

»Ach, Herr Hauptmann!« sagte sie lebhaft, als sie dem jungen Manne die Hand schüttelte, »wie nett von Ihnen, daß Sie in unserer armen Provinzecke halt gemacht haben!«

Sie war übrigens die erste, die über diesen unbedachten Ausdruck lachte.

»Was? Bin ich dumm! Sie würden sicher lieber was anderes tun, als unter diesen Umständen durch Sedan zu kommen. Aber ich freue mich ja so, Sie wiederzusehen!«

Wirklich strahlten ihre Augen vor Vergnügen. Und Frau Delaherche, der die Reden der bösen Zungen von Charleville bekannt sein mußten, beobachtete die beiden unausgesetzt mit starrer Miene. Der Hauptmann gab sich im übrigen nur als taktvoller Mensch, der dem Hause, in dem er ehemals so gastlich aufgenommen worden war, ein gutes Andenken bewahrt hatte.

Sie frühstückten, und Delaherche kam sofort wieder auf seine Spazierfahrt vom Tage vorher; er konnte dem Gelüst, sie abermals zu erzählen, nicht länger widerstehen.

»Wissen Sie, daß ich in Baybel den Kaiser gesehen habe?«

Er schoß los; jetzt konnte ihn nichts mehr zurückhalten. Zuerst kam eine Beschreibung des Hofes, ein großes viereckiges Gebäude mit einem durch ein Gitter abgeschlossenen Hof im Innern, das Ganze auf einem Mouzon überragenden kleinen Hügel links an der Straße nach Carignan. Dann kam er auf das zwölfte Korps zurück, das er durchkreuzt hatte, als es zwischen den Weinbergen an den Hügeln lagerte, die Truppen, prächtig, im Sonnenschein leuchtend, so daß ihr Anblick ihn mit mächtiger, patriotischer Freude erfüllt hatte.

»Da stand ich nun, Herr Hauptmann, als der Kaiser mit einemmal aus dem Hofe trat, wo er hatte haltmachen lassen, um sich auszuruhen und zu frühstücken. Er hatte einen Überzieher über seine Generalsuniform geworfen, obwohl es in der Sonne sehr heiß war. Ein Diener trug hinter ihm einen Klappstuhl ... Ich fand, er sah nicht gut aus, ach nein! Er ging so gebückt und so langsam, sein Gesicht war so gelb, kurz: ein kranker Mann ... Und das überraschte mich auch nicht, denn der Apotheker von Mouzon, der mir riet, bis Baybel weiterzugehen, der hatte mir schon erzählt, ein Adjutant wäre angelaufen gekommen und hätte Medizin gekauft ... na, Sie wissen wohl, Medizin gegen ...«

Die Anwesenheit seiner Mutter und seiner Frau hielten ihn davon ab, die Dysenterie klarer zu bezeichnen, an der der Kaiser seit le Chêne litt und die ihn zwang, in den Höfen am Wege derart haltzumachen.

»Kurz, da stellte nun der Diener den Klappstuhl auf am Rande eines Kornfeldes, an der Ecke eines großen Busches, und da setzte der Kaiser sich hin ... Er blieb unbeweglich vornübergebeugt; wie ein kleiner Rentier sah er aus, der seine Schmerzen in den warmen Sonnenschein bringt. Mit seinem traurigen Blick sah er über den weiten Horizont, wie unten die Maas durchs Tal lief, und drüben über die Waldhügel, deren Gipfel sich in der Ferne verlieren, den Gipfel der Wälder von Dieulet links, den Kopf von Sommauthe rechts ... Adjutanten und höhere Offiziere standen um ihn herum, und ein Dragoneroberst, der sich schon bei mir nach dem Gelände erkundigt hatte, machte mir schon ein Zeichen, ich sollte nicht weggehen. Da plötzlich ...«

Delaherche stand auf, denn jetzt kam er zu dem Höhepunkt seiner Geschichte und mußte etwas Gebärdenspiel mit seinen Worten verbinden.

»... plötzlich ertönten Kanonenschläge, und man sah gerade gegenüber von dem Walde von Dieulet Granaten in hohem Bogen durch den Himmel fliegen ... Auf mein Wort! mir kam's vor wie ein künstliches Feuerwerk, das sie am hellichten Tage abbrannten ... In der Umgebung des Kaisers fingen sie natürlich an zu rufen und unruhig zu werden. Mein Dragoneroberst kam schon auf mich zugeraunt, ob ich ihm nicht genau sagen könnte, wo das Gefecht stattfinde. Ich sagte sofort: ›Das ist bei Beaumont, da gibt's gar keinen Zweifel.‹

Er wendet sich wieder zu dem Kaiser, auf dessen Knien ein Adjutant eine Karte ausbreitete. Der Kaiser wollte nicht glauben, daß sie sich bei Beaumont schlugen. Aber, nicht wahr? ich konnte doch nur dabei bleiben, um so mehr, als die Granaten, die durch den Himmel flogen, an der Straße von Mouzon entlang immer näher kamen ... Und da, so klar wie ich Sie selbst sehe, Herr Hauptmann, da sah ich, wie der Kaiser sein blasses Gesicht nach mir herumdrehte. Ja, er sah mich einen Augenblick mit seinen trüben Augen an, die sehr trotzig und traurig aussahen. Und dann sank ihm der Kopf wieder auf die Karte und er rührte sich nicht mehr.«

Obwohl Delaherche zur Zeit des Plebiszits glühender Bonapartist gewesen war, gab er nach den ersten Niederlagen doch zu, daß das Kaiserreich Fehler gemacht hätte. Das Herrscherhaus verteidigte er aber noch und beklagte Napoleon III., weil ihn alle Welt betröge. Wenn man ihn so reden hörte, waren die wirklichen Urheber unseres Unglücks niemand anderes als die republikanischen Abgeordneten der Minderheit, die verhindert hatten, daß ihm die nötigen Mannschaften und Vorschüsse bewilligt wurden.

»Und ging der Kaiser nach dem Hofe zurück?« fragte Hauptmann Beaudouin.

»Wirklich, Herr Hauptmann, das weiß ich nicht, ich habe ihn auf seinem Klappstuhl sitzen lassen ... Es war Mittag, die Schlacht kam näher, und ich fing an, mir Gedanken über meinen Rückweg zu machen ... Alles, was ich weiter sagen kann, ist, daß ein General, dem ich Carignan von weitem in der Ebene zeigte, ganz verdutzt schien, als er merkte, daß die belgische Grenze da drüben in ein paar Kilometer Entfernung läge ... Ach, der arme Kaiser, der hat tüchtige Leute!«

Gilberte lächelte; sie beschäftigte sich mit dem Hauptmann und fühlte sich so wohl wie in ihrem Witwengemach, in dem sie ihn ehemals empfing, und reichte ihm geröstetes Brot und Butter. Sie verlangte unbedingt, daß er ein Zimmer und ein Bett annehme; aber er weigerte sich, und sie kamen überein, daß er sich nur ein paar Stunden auf dem Sofa im Zimmer Delaherches ausruhen solle, ehe er wieder zu seinem Regiment ginge. In dem Augenblick, als er aus den Händen der jungen Frau den Zuckertopf nahm, sah Frau Delaherche, die die Augen nicht von ihnen abwandte, ganz deutlich, wie sie sich die Finger drückten; nun zweifelte sie nicht länger.

Da trat ein Dienstmädchen ein.

»Herr, unten steht ein Soldat, der nach der Wohnung von Herrn Weiß fragt.«

Delaherche war nicht hochmütig, wie es hieß; er liebte es, sich mit den Geringen dieser Welt zu unterhalten, denn er neigte dazu, sich durch solches Schwatzen volkstümlich zu machen.

»Weiß, Wohnung, wart' mal! das ist doch komisch ... Lassen Sie den Soldaten mal reinkommen.«

Jean trat herein, so erschöpft, daß er schwankte. Als er seinen Hauptmann mit zwei Damen bei Tische sah, kam eine leichte Überraschung über ihn, und er zog die Hand zurück, die er schon ganz gedankenlos ausgestreckt hatte, um sich auf einen Stuhl zu stützen. Dann beantwortete er kurz die Fragen des Fabrikanten, der sich als guter Kerl und Soldatenfreund gab. Er erklärte mit einem Wort seine Kameradschaft mit Maurice und warum er ihn suche.

»Das ist ein Korporal aus meiner Kompanie«, sagte schließlich der Hauptmann, um die Sache kurz zu machen.

Er fragte ihn nun auch, weil er gern wissen wollte, was aus dem Regiment geworden sei. Und als Jean erzählte, er habe den Oberst an der Spitze des Restes seiner Leute durch die Stadt reiten sehen, um im Norden Lager zu beziehen, da fing Gilberte wie alle niedlichen Frauen wieder an, ohne jedes Nachdenken loszuplappern.

»Ach, mein Oheim, warum ist denn der nicht zum Frühstück zu uns gekommen? Wir hätten ihm doch ein Zimmer eingerichtet ... Sollen wir ihn holen lassen?«

Frau Delaherche aber gab durch eine Handbewegung ihre unbedingte Machtvollkommenheit zu erkennen. In ihren Adern rollte das alte Bürgerblut der Grenzstädte mit all den männlichen Tugenden einer starren Heimatsliebe. So brach sie ihr strenges Schweigen jetzt nur zu der Äußerung:

»Lassen Sie doch Herrn von Vineuil, der tut nur seine Pflicht.«

Das rief Unbehagen hervor. Delaherche brachte den Hauptmann in sein Zimmer, wo er ihn persönlich auf dem Sofa unterbringen wollte; und Gilberte ging mit der Lehre, die sie erhalten hatte, von dannen wie ein Vogel, der trotz des Gewitters vergnügt die Flügel schüttelt; das Dienstmädchen aber, dem Jean anvertraut wurde, führte diesen über den Fabrikhof durch ein Gewirr von Gängen und Treppen.

Die Weiß wohnten in der Rue des Voyards; das Haus, das Delaherche gehörte, stand jedoch mit dem Prachtbau in der Rue Maqua in Verbindung. Die Rue des Voyards war eine der allerschmalsten in Sedan, ein enges, feuchtes, durch die benachbarten Wälle, an denen es sich entlangzog, verdunkeltes Gäßchen. Die Dächer der hohen Vorderseiten berührten sich beinahe; die schwarzen Hausflure sahen wie Kellermündungen aus, vor allem an der Ecke, wo sich die hohe Mauer der Schule aufbaute. Weiß hatte hier freie Wohnung und Heizung; er bewohnte den ganzen dritten Stock und war infolgedessen ganz zufrieden; er hatte seine Diensträume in der Nähe und konnte in Pantoffeln dorthin gelangen, ohne über die Straße gehen zu müssen. Er war ein glücklicher Mann seit der Hochzeit mit Henriette, nach der er sich lange hatte sehnen müssen, seit er sie in le Chêne bei ihrem Vater, dem Lehrer, kennengelernt hatte, wo sie schon mit sechs Jahren den Haushalt führte und ihre tote Mutter vertrat; er war in die Raffinerie Générale fast als Hausknecht eingetreten, bildete sich aber weiter und schwang sich in der Buchführung durch harte Arbeit empor. Um seinen Traum zu verwirklichen, mußte aber zuerst noch der Vater sterben und der Bruder, eben dieser Maurice, in Paris grobe Dummheiten machen; als dessen Zwillingsschwester fühlte sie sich ein wenig als seine Dienerin und hatte sich gänzlich aufgeopfert, um aus ihm einen Herrn zu machen. Sie war als Aschenbrödel im Hause erzogen und konnte, wenn es hoch kam, lesen und schreiben, und hatte nun gerade das Haus und Einrichtung verkauft, ohne doch den vor den Torheiten des jungen Mannes sich auftuenden Schlund füllen zu können, als der gute Weiß herbeigelaufen kam und ihr seine ganze Habe zugleich mit seinen gesunden Armen und seinem Herzen anbot; bis zu Tränen gerührt von seiner Zuneigung war sie darauf eingegangen, ihn zu heiraten, voll verständiger Überlegung und zarter Hochschätzung, wenn auch nicht gerade verliebter Leidenschaft. Jetzt lachte ihnen das Glück, denn Delaherche sprach davon, Weiß zum Teilhaber des Hauses zu machen. Wenn nun nur erst Kinder da sein würden, wäre ihr Glück vollkommen.

»Vorsicht!« sagte das Dienstmädchen zu Jean, »die Treppe ist steil!«

Tatsächlich wuchs die Dunkelheit, je höher sie kamen, bis eine plötzlich geöffnete Tür die Stufen mit einer Flut von Licht überströmte. Und er hörte, wie eine sanfte Stimme sagte:

»Er ist's!«

»Frau Weiß,« rief das Dienstmädchen, »hier ist ein Soldat, der nach Ihnen fragt.«

Er lachte leise vor sich hin vor Befriedigung, und die sanfte Stimme antwortete:

»Gut! gut! Ich weiß, wer es ist.«

Dann stand der Korporal verlegen und atemlos auf der Schwelle.

»Kommen Sie herein, Herr Jean ... Maurice ist schon zwei Stunden hier, und wir warten auf Sie, oh! mit solcher Ungeduld.«

Bei dem bleichen Licht, das im Zimmer herrschte, fand er eine treffende Ähnlichkeit zwischen ihr und Maurice, die merkwürdige Ähnlichkeit von Zwillingen, die wie die Verdoppelung eines Gesichtes wirkt. Sie war nur noch kleiner, noch zarter und sah mit ihrem etwas großen Munde, den seinen Zügen unter ihrem wunderschönen Blondhaar, das das helle Blond reifen Hafers trug, noch gebrechlicher aus. Was sie vor allem von ihm unterschied, waren ihre grauen Augen, in deren ruhiger Tapferkeit die ganze Heldenseele ihres Großvaters, des Helden der großen Armee, wieder auflebte. Sie sprach wenig, ging ohne jedes Geräusch, aber mit steter Geschäftigkeit und einer lächelnden Sanftheit umher, so daß die Luft, wenn sie an einem vorbeiging, sich wie eine Liebkosung anfühlte.

»Warten Sie, kommen Sie hier herein, Herr Jean,« wiederholte sie. »Gleich ist alles fertig.«

In seiner Rührung über diesen brüderlichen Empfang stotterte er und fand keine Worte, um ihr auch nur zu danken. Seine Augenlider schlossen sich auch schon, und in der unüberwindlichen Schläfrigkeit, die ihn gepackt hatte, sah er nur noch eine Art Nebel, in dem sie undeutlich, von der Erde losgelöst, umherschwebte. War das nicht eine entzückende Erscheinung, diese hilfreiche junge Frau, die ihm mit solcher Selbstverständlichkeit zulächelte? Es kam ihm vor, als berührte sie seine Hand, als faßte er die ihrige, so klein und fest, aber von der Zuverlässigkeit eines alten Freundes.

Von diesem Augenblick an verlor Jean jedes klare Bewußtsein für die Dinge um ihn her. Sie waren im Speisezimmer, Brot und Fleisch standen auf dem Tische; aber er fand nicht mehr die Kraft, einen Bissen zum Munde zu führen. Da war ein Mann, der auf einem Stuhle saß. Dann erkannte er Weiß, den er bei Mülhausen gesehen hatte. Aber er begriff nicht, was der Mann in so kummervoller Weise, mit so langsamen, müden Bewegungen erzählte. In einem vor dem Ofen aufgeschlagenen Feldbett schlief Maurice bereits mit unbeweglichen Zügen wie ein Toter. Und Henriette war eifrig an einem Ruhebett beschäftigt, auf das sie eine Matratze gelegt hatte; sie brachte ein Schrägpfühl, ein Kopfkissen und Decken; dann breitete sie mitgeschickten, raschen Händen weiße Laken, wundervolle Laken, weiß wie Schnee, darüber.

Ach! diese weißen Laken, diese so heißersehnten weißen Laken! Jean sah nichts mehr als sie. Seit sechs Wochen hatte er sich nicht mehr ausgezogen, in keinem Bett mehr geschlafen. Ein Gelüst, eine kindliche Ungeduld, eine unwiderstehliche Leidenschaft überkam ihn, in diese Weiße, diese Frische zu gleiten und sich darin zu verlieren. Sowie sie ihn allein gelassen hatten, stand er barfuß im Hemde und legte sich mit dem befriedigten Grunzen eines sich wohlfühlenden Tieres nieder. Das blasse Morgenlicht fiel durch das hohe Fenster; und als er schon ganz vom Schlaf überwältigt die Augen noch einmal halb öffnete, hatte er wieder eine Erscheinung Henriettes, einer unbestimmteren, wesenloseren Henriette, die auf den Fußspitzen hereinkam, um auf den Tisch neben ihm eine Wasserflasche und ein Glas zu setzen, die vergessen worden waren. Sie schien einige Sekunden dort stehenzubleiben und sie beide, ihren Bruder und ihn, mit ihrem stillen, so unendlich gütigen Lächeln zu betrachten. Dann zerging sie. Und er schlief in seinen weißen Laken wie ein Toter.

Stunden, Jahre vergingen. Traumlos, ohne Bewußtsein des schwachen Klopfens ihrer Adern bestanden Jean und Maurice gar nicht länger. Zehn Jahre oder zehn Minuten, die Zeit hat aufgehört zu zählen; es war, als verlange der Körper für seine Überanstrengung Genugtuung und fände sie in dem Aufhören ihres ganzen Wesens. Plötzlich fuhren beide unter demselben Antrieb wach in die Höhe. Was war denn los? Was ging da vor, wie lange schliefen sie denn schon? Dieselbe bleiche Helligkeit strömte durch das hohe Fenster. Sie fühlten sich zerbrochen, die Gelenke steif, die Glieder matter und im Munde eine größere Bitterkeit als beim Niederlegen. Glücklicherweise konnten sie erst eine Stunde geschlafen haben. Sie wunderten sich auch gar nicht. Weiß auf dem gleichen Stuhl vorzufinden; er schien mit seiner gleichbleibenden, niedergeschlagenen Miene auf ihr Erwachen zu warten.

»Donner ja!« stammelte Jean, »wir müssen doch wohl aufstehen und vor Mittag wieder zum Regiment gehen.«

Mit einem leisen Schmerzensschrei sprang er auf die Fliesen und zog sich an.

»Vor Mittag!« wiederholte Weiß. »Wissen Sie wohl, daß es sieben Uhr abends ist und daß Sie fast zwölf Stunden geschlafen haben?«

Sieben Uhr, lieber Gott! Das gab eine Bestürzung. Jean war schon angezogen und wollte weglaufen, während Maurice noch im Bette lag und jammerte, er könne kein Glied rühren. Wie sollten sie die Kameraden wiederfinden? War denn die Armee nicht weitergezogen? Und sie waren beide ärgerlich; man hätte sie nicht so lange schlafen lassen sollen. Aber da machte Weiß eine Gebärde der Verzweiflung.

»Lieber Gott, bei dieser Entwicklung der Dinge hätten Sie auch ruhig liegenbleiben können.«

Er war seit dem Morgen durch Sedan und die Umgebung gerannt. Er war gerade nach Hause gekommen, ganz trostlos über die Untätigkeit der Truppen an diesem so kostbaren 31., den man in unerklärlichem Warten verlor. Eine einzige Erklärung war nur möglich, die hochgradige Abmattung der Truppen, die unbedingt Ruhe verlangten; und er konnte dennoch nicht begreifen, warum der Rückzug nicht nach ein paar notwendigen Stunden Schlaf weiter fortgesetzt worden sei.

»Ich erhebe ja gar nicht den Anspruch,« fuhr er fort, »mich darauf zu verstehen, aber ich fühle, jawohl! ich fühle, daß das Heer in Sedan sehr schlecht untergebracht ist ... Das zwölfte Korps steht in Bazeilles, wo sie heute morgen auch schon ein wenig gefochten haben; das erste liegt an der Givonne entlang, von dem Dorfe Moncelle bis an das Garenne-Gehölz; und das siebente lagert auf der Hochebene von Floing, während das halbvernichtete fünfte sich unter den Wällen nach der Seite des Schlosses zusammendrängt ... Und gerade das macht mich bange, wenn ich sie so in Erwartung der Preußen um die Stadt herum aufgestellt sehe. Oh! ich wäre unbedingt sofort auf Mézières weitergezogen. Ich kenne das Gelände, es gibt gar keine andere Rückzugslinie, wenn man sich nicht nach Belgien hineinjagen lassen will ... Und dann! Kommen Sie mal, ich will Ihnen mal was zeigen ...«

Er hatte Jean bei der Hand genommen und ihn zum Fenster geführt.

»Sehen Sie mal da hinten, oben auf den Hügeln.«

Über die Wälle und die benachbarten Häuser hinweg ging das Fenster nach dem Süden von Sedan über das Maastal hinaus. Da wälzte sich der Fluß durch die weiten Wiesen, dort links lag Remilly, Pont-Maugis und Wadelincourt gerade gegenüber, rechts davon Frénois; und die Hügel breiteten ihre grünen Abhänge aus, zuerst der Liry, dann die Marfée und die Croix-Piau mit ihren mächtigen Wäldern. In dem schwindenden Tageslicht lag eine tiefe Süße über dem weiten Horizont, der so durchsichtig wie Kristall war.

»Sehen Sie nicht da hinten an den Gipfeln entlang diese sich bewegenden schwarzen Striche, diese kribbelnden Ameisenhaufen?«

Jean strengte seine Augen an, während Maurice im Bette kniete und den Hals vorbeugte.

»Ah ja!« riefen sie beide zugleich. »Da ist so 'n Strich, und da noch einer, und noch einer, und noch einer! Überall sind sie.«

»Na ja!« sagte Weiß, »das sind die Preußen ... Seit heute morgen beobachte ich sie, und es werden immer, immer mehr. Das kann ich Ihnen sagen, wenn unsere Soldaten auf die da warten, die haben es eilig genug, heranzukommen! ... Und alle Leute in der Stadt haben es ebensogut gesehen wie ich; nur die Generale haben die Augen zu. Gerade eben sprach ich mit einem General, der zuckte die Achseln und sagte, der Marschall Mac Mahon wäre fest überzeugt, er hätte kaum sechzigtausend Mann vor sich. Wollte Gott, er wäre gut unterrichtet!... Aber sehen Sie doch mal, die ganze Erde ist voll von ihnen, sie kommen, sie kommen, die schwarzen Ameisen!«

Maurice warf sich in diesem Augenblick auf sein Bett zurück und brach in lautes Weinen aus. Henriette kam mit ihrem Lächeln wie am Abend vorher herein. Voller Unruhe trat sie lebhaft auf ihn zu.

»Was ist denn?«

Aber er stieß sie mit einer Bewegung zurück.

»Nein, laß mich, geh weg von mir, ich habe dir immer nur Kummer gemacht. Wenn ich bedenke, daß du dir keine Kleider gönntest und ich dafür studierte! Ach, jawohl! von meiner Bildung habe ich viel gehabt! Und dann, unsern Namen hätte ich beinahe in Unehre gebracht; ich wüßte gar nicht, wo ich jetzt wäre, wenn du dir nicht alle vier Gliedmaßen blutig gearbeitet hättest, um meine Dummheiten wieder gutzumachen.«

Da kam ihr Lächeln wieder.

»Du wachst wirklich nicht gerade vergnügt auf, mein armes Kerlchen ... Das ist doch alles längst vorbei und vergessen! Tust du denn jetzt nicht deine Pflicht als guter Franzose? Ich versichere dich, seit du dich gestellt hast, bin ich sehr stolz auf dich.«

Sie wandte sich zu Jean, wie um seine Hilfe zu erbitten. Der sah sie etwas überrascht an, da er sie nicht so hübsch fand wie am Morgen vorher, kleiner und blasser, jetzt, wo er sie nicht mehr durch den Nebelschleier seiner Mattigkeit sah. Was auf ihn einen dauernden Eindruck machte, war die Ähnlichkeit mit ihrem Bruder; dabei machte sich aber der Unterschied in ihrer Veranlagung gerade jetzt sehr stark geltend: er unterlag mit seiner weiblichen Nervosität, von der Zeitkrankheit ergriffen, der geschichtlichen, sozialen Umwälzung seines Volkes, das von einem Augenblick zum andern der höchsten Begeisterung und der schlimmsten Entmutigung fähig ist; sie, so schmächtig in ihrer Aschenbrödel-Zurückgezogenheit, mit der sich bescheidenden Miene der kleinen Hausfrau, bei ihrer starken Stirn über den tapfern Augen, war von dem heiligen Holze, aus dem Märtyrer geschnitzt werden.

»Stolz auf mich!« schrie Maurice. »Das ist ja ganz unmöglich, wahrhaftig! Seit einem Monat fliehen wir da herum, wir Feiglinge.«

»Das wäre schön!« sagte Jean mit seinem gesunden Menschenverstand. »Wir sind doch nicht die einzigen, wir machen es doch auch nur wie die andern.«

Aber die Abspannung des jungen Mannes mußte sich noch heftiger austoben.

»Weiß Gott, ich habe genug davon! ... Sollte man nicht blutige Tränen weinen über diese ewigen Niederlagen, diese schwachsinnigen Führer, die Soldaten, die man stumpfsinnig wie Herden ins Schlachthaus treibt? ... Da stecken wir nun in einer schönen Sackgasse. Ihr seht ja selbst ganz genau, wie die Preußen von allen Seiten herankommen; und wir müssen uns vernichten lassen, das Heer ist verloren ... Nein, nein! ich bleibe hier, ich lasse mich lieber als Fahnenflüchtiger erschießen ... Jean, du kannst nur ohne mich gehen. Nein! ich komme nicht mit, ich bleibe hier.«

Ein neuer Tränenstrom warf ihn auf sein Kopfkissen nieder. Es war eine unwiderstehliche, nervöse Abspannung, die alles über den Haufen wirft, in der er plötzlich in die tiefste Verzweiflung stürzte, in Verachtung der Welt und seiner selbst, wie das so häufig bei ihm vorkam. Seine Schwester kannte ihn indessen zu gut und blieb ganz ruhig.

»Das wäre sehr häßlich, mein lieber Maurice, wenn du im Augenblick der Gefahr deinen Posten verließest.«

Mit einem Stoß setzte er sich aufrecht.

»Na gut, dann gib mir mein Gewehr, ich will mir selbst das Gehirn ausblasen, das geht ebensoschnell.«

Dann zeigte er mit ausgestrecktem Arm auf Weiß, der schweigend und unbeweglich dastand:

»Seht, der da ist der einzig vernünftige Mensch, jawohl! der einzige, der klar gesehen hat... Weißt du noch, Jean, was er vor einem Monat vor Mülhausen zu mir sagte?«

»Ja, das ist wahr,« bestätigte der Korporal, »der Herr hat gesagt, wir würden geschlagen werden.«

Und die Vorgänge wurden wieder vor ihm lebendig, die ängstliche Nacht, das angstvolle Warten, das ganze Unglück von Fröschweiler, das schon an dem trüben Himmel daherzog, wahrend Weiß ihnen seine Befürchtungen auseinandersetzte, wie Deutschland vorbereitet, besser geführt, besser bewaffnet sei, von riesiger vaterländischer Begeisterung erhoben, während Frankreich voller Bestürzung, der Unordnung ausgeliefert, zu spät komme, sittlich verderbt dastände und weder Führer noch Mannschaften noch die notwendigen Waffen habe. Und nun verwirklichte sich diese entsetzliche Vorhersage.

Weiß hob seine zitternden Hände. Sein gutes Hundegesicht drückte tiefen Schmerz aus.

»Ach! ich fühle mich gar nicht wie ein Sieger, weil ich recht gehabt habe,« murmelte er. »Ich bin nur ein Dummkopf; aber es war ja so klar für jeden, der nur etwas Sinn und Verstand hat... Aber wenn wir auch geschlagen sind, deshalb können wir doch noch genug von diesen Unglückspreußen totschlagen. Das ist noch ein Trost, und ich glaube auch, daß wir auch diesmal wieder dabei liegenbleiben; aber ich möchte, daß auch ein Haufen Preußen da liegenbliebe, ganze Haufen Preußen, seht ihr! so daß man dahinten die Erde damit bedecken kann.«

Er war aufgestanden und zeigte mit einer Handbewegung über das Maastal. In seinen kurzsichtigen Augen, die ihn verhindert hatten zu dienen, schlug eine helle Flamme empor.

»Gottsdonnerwetter, ja! ich würde fechten, wenn ich frei wäre... Ich weiß nicht, ob das daher kommt, weil sie jetzt Herren in meiner Heimat sind, in dem Elsaß, in dem die Kosaken schon soviel Unheil angerichtet haben; aber ich kann nicht an sie denken oder sie mir bei uns vorstellen, in unfern Häusern, ohne daß mich sofort die wütende Lust packt, ein Dutzend von ihnen abzuschlachten... Ach, wenn man mich doch nicht zurückgewiesen hätte, wenn ich doch Soldat wäre!«

Und dann nach einem kurzen Stillschweigen:

»Aber wer weiß übrigens?...«

Das war die Hoffnung, das Bedürfnis, immer noch an die Möglichkeit eines Sieges zu glauben, auch bei denen, die die Augen am weitesten geöffnet hielten. Maurice schämte sich bereits seiner Tränen, als er ihn hörte, und klammerte sich jetzt gleichfalls an diesen Traum. War nicht am Abend vorher tatsächlich das Gerücht umgelaufen, Vazaine stände bei Verdun? Das Glück schuldete Frankreich, das es solange mit Ruhm bedeckt hatte, ein Wunder. Henriette war stumm sogleich wieder verschwunden; und als sie wieder hereintrat, wunderte sie sich gar nicht, ihren Bruder angezogen und marschbereit dastehen zu sehen. Sie wollte sie aber erst unbedingt essen sehen, Jean und ihn. Sie mußten sich an den Tisch setzen, aber die Bissen erstickten sie, sie fühlten einen Brechreiz, so betäubt waren sie noch von ihrem tiefen Schlafe. Als vorsichtiger Mann schnitt Jean ein Brot entzwei und steckte die eine Hälfte in Maurices, die andere in seinen eigenen Tornister. Der Tag neigte sich, sie mußten gehen. Henriette, die vor dem großen Fenster stehengeblieben war, um in der Ferne auf der Marfée die preußischen Truppen, die schwarzen Ameisen, ohne Unterlaß heranziehen und sich allmählich auf dem dunkler werdenden Grunde verlieren zu sehen, brach jetzt unwillkürlich in Klagen aus.

»Ach, der Krieg, der gräßliche Krieg!«

Nun scherzte Maurice über sie und holte sich Genugtuung.

»Was denn? Schwesterlein, du verlangst, daß wir fechten, und dann verwünschst du den Krieg!«

Sie wandte sich um und antwortete ihm ins Gesicht mit ihrer gewöhnlichen Tapferkeit:

»Gewiß, ich verabscheue ihn, ich finde ihn unrecht und gräßlich, ... Vielleicht kommt das einfach, weil ich eine Frau bin. Solche Schlachtereien stoßen mich ab. Warum kann man sich nicht auseinandersetzen, sich verständigen?«

Jean, der tapfere Kerl, stimmte ihr mit einem Kopfnicken zu. Nichts schien ihm einfacher, ihm, dem Ungebildeten, als daß alle miteinander übereinstimmen würden, wenn sie nur erst mal ihre guten Gründe ausgetauscht hätten. Maurice aber, aufs neue von seiner Wissenschaft gepackt, dachte wie notwendig der Krieg sei, wie der Krieg das Leben selbst, das Gesetz der Welt darstelle. Hat nicht erst der Mensch mit seinem Mitleid die Gedanken an Gerechtigkeit und Frieden eingeführt, während die empfindungslose Natur nichts als ein fortgesetztes Schlachtfeld darstellt?

»Sich verständigen!« schrie er. »Ja, in Jahrhunderten. Wenn alle Völker nur noch ein Volk bilden, dann könnte man im Ernst an das Heraufkommen dieses goldenen Zeitalters denken; würde aber nicht wieder das Ende des Krieges das Ende der Menschheit selbst bedeuten? ... Ich war eben ein Schwachkopf; wir müssen kämpfen, da das ein Gesetz ist.«

Nun lachte er seinerseits und wiederholte Weiß' Worte.

»Aber wer weiß übrigens... ?«

Von neuem fesselte ihn seine lebhafte Einbildungskraft, ein wahrer Zwang, nichts sehen zu wollen bei der krankhaften Übertreibungssucht seiner nervösen Reizbarkeit.

»Bei der Gelegenheit,« fing er wieder an, »was macht denn Vetter Günther?«

»Vetter Günther sieht doch in der preußischen Garde,« sagte Henriette. »Ist die Garde auch hier in der Nähe?«

Weiß gab durch eine Bewegung zu erkennen, daß er das nicht wisse, und die beiden Soldaten machten es ebenso, denn sie konnten keine Antwort geben, da selbst die Generale nicht wußten, was für feindliche Truppen sie vor sich hatten.

»Wir wollen gehen, ich will euch führen,« erklärte er. »Ich habe gerade eben erfahren, wo die 106er liegen.«

Und dann sagte er zu seiner Frau, er werde nicht nach Hause kommen, da er in Vazeilles schlafen wolle. Er hatte dort gerade ein kleines Haus gekauft und es eben fertig eingerichtet, um bis zum Eintritt der kalten Zeit dort wohnen zu können. Es lag neben einer Herrn Delaherche gehörenden Färberei. Er empfand Unruhe wegen der Vorräte, die er bereits in den Keller gebracht hatte, ein Faß Wein, zwei Säcke Kartoffeln, und war sicher, daß die Plünderer, wie er sagte, das Haus berauben würden, wenn es leer bliebe, während er es zweifellos retten könne, wenn er diese Nacht selbst dabliebe. Während er sprach, sah seine Frau ihn fest an.

»Sei ruhig,« sagte er lächelnd, »ich will wirklich nur auf unsere Siebensachen aufpassen. Und ich verspreche dir, ich komme sofort zurück, falls die Stadt angegriffen wird oder irgendwelche Gefahr sich zeigt.«

»Geh!« sagte sie. »Aber komm wieder, oder ich hole dich.«

In der Tür umarmte Maurice Henriette zärtlich. Dann gab sie Jean die Hand und hielt die seine ein paar Sekunden mit einem freundschaftlichen Druck fest.

»Ich vertraue Ihnen meinen Bruder wieder an... Ja, er hat mir viel davon erzählt, wie rührend Sie gegen ihn gewesen sind, und ich habe Sie sehr lieb.«

Er war so bewegt, daß er sich darauf beschränken mußte, ihr die kleine zierliche, feste Hand zu drücken. Und die Empfindung bei seiner Ankunft kam wieder über ihn, die Henriette mit Haaren wie reifer Hafer, so leicht, so freundlich in ihrer Zurückgezogenheit, daß sie die Luft um sich her wie mit Liebkosungen erfüllte.

Unten fielen sie nun wieder in das dunkle Sedan des Morgens. Dämmerung erfüllte schon die engen Gassen und ein wüstes Getriebe versperrte die Fußsteige. Die meisten Läden waren geschlossen, die Häuser schienen wie tot, während man sich draußen mordete. Sie hatten indessen den Platz vor dem Stadthause ohne besondere Beschwerden erreicht, als sie Delaherche trafen, der neugierig umherbummelte. Sofort rief er sie an und war scheinbar entzückt, Maurice wiederzusehen; er erzählte ihnen, er hätte gerade Hauptmann Beaudouin nach Floing hinübergebracht, wo das Regiment läge; seine gewohnheitsmäßige Zufriedenheit wuchs noch, als er hörte, daß Weiß in Bazeilles schlafen wolle; denn er selbst hatte sich, wie er eben noch dem Hauptmann erzählt hatte, dahin entschlossen, gleichfalls die Nacht in seiner Färberei zuzubringen, um dort nach dem Rechten zu sehen.

»Weiß, wir gehen zusammen ... Aber vorher könnten wir noch mal bis zur Unterpräfektur gehen; vielleicht sehen wir den Kaiser.«

Seit er bei dem Hofe von Baybel beinahe mit ihm gesprochen hatte, beschäftigte er sich nur noch mit Napoleon III.; und so schleppte er schließlich sogar die beiden Soldaten mit. Nur ein paar Gruppen standen flüsternd auf dem Platze vor der Unterpräfektur, aus der von Zeit zu Zeit Offiziere voller Verstörtheit herausstürzten. Ein melancholisches Dunkel nahm den Bäumen schon ihre Färbung, und laut tönte das Rauschen der rechts am Fuße dahinfließenden Maas. In der Menge erzählte man sich, wie man den Kaiser am Abend vorher mit Mühe zu dem Entschluß hätte bringen können, gegen elf Uhr aus Carignan wegzugehen, und daß er sich unbedingt geweigert hätte, bis Mézières weiterzugehen, weil er die Soldaten nicht entmutigen, sondern ihre Gefahren teilen wollte. Andere sagten wieder, er selbst wäre gar nicht mehr da, er wäre geflohen und hätte als Strohmann einen seiner Leutnants dagelassen, der seine Uniform angezogen hatte und ihm so treffend ähnlich sähe, daß das Heer dadurch getäuscht würde. Wieder andere versicherten auf ihr Ehrenwort, sie hätten gesehen, wie der kaiserliche Schatz in den Garten der Unterpräfektur gebracht worden sei, hundert Millionen in Gold, in lauter neuen Zwanzigfrancsstücken. In Wirklichkeit war das nichts anderes als das Gerät für den kaiserlichen Haushalt, der Jagdwagen, die beiden Kutschen, die zwölf Gepäckwagen, deren Durchkommen ja auch die Dörfer Courcelles, le Chêne, Raucourt auf den Kopf gestellt hatte und die in der Einbildung immer größer wurden; sie wuchsen sich zu einem Riesenschwanz aus, der überall im Wege war, die Truppen aufhielt, um nun endlich hier, mit Fluch und Schmach bedeckt, zu scheitern und sich vor den Blicken der Öffentlichkeit hinter den Fliederbüschen des Unterpräfekten zu verstecken.

Delaherche reckte sich in die Höhe, um die Fenster des Erdgeschosses zu beobachten, und eine alte Frau neben ihm, wohl eine Tagelöhnerin aus der Nachbarschaft, mit schiefen Hüften und krummen, zerarbeiteten Händen, brummte zwischen den Zähnen:

»Ein Kaiser... ich möchte wohl mal einen sehen... ja, bloß um zu sehen...«

Plötzlich packte Delaherche Maurice am Arm und stieß einen Ruf aus:

»Sehen Sie! das ist er... da, sehen Sie, am Fenster links ... Oh, ich irre mich nicht, ich habe ihn gestern so nahe gesehen, ich erkenne ihn sehr gut wieder... Er hat den Vorhang aufgezogen, jawohl, das blasse Gesicht da an der Fensterscheibe.«

Die alte Frau hatte zugehört und blieb mit offenem Munde stehen. Da wurde wirklich an der Fensterscheibe ein leichenhaftes Gesicht mit erloschenen Augen und verwesten Zügen sichtbar; der Schnurrbart war in dieser letzten Todesangst gebleicht. Die Alte war ganz baff; sie drehte sich sofort um und ging weg mit einer äußerst mißachtenden Bewegung.

»Das ein Kaiser! Ein Biest ist das.«

Da stand eine Zuave, einer der versprengten Soldaten, die keine Eile hatten, wieder zu ihrer Truppe zu kommen. Er schwang seinen Chassepot unter drohenden Flüchen; und zu einem Kameraden sagte er:

»Wart', ich jage ihm eine Kugel durch den Schädel!«

Delaherche fuhr zornig dazwischen. Der Kaiser war aber schon verschwunden. Das laute Rauschen der Maas tönte fort, eine Klage voll unendlicher Traurigkeit schien durch die wachsende Dunkelheit daherzuschweben. In der Ferne wurden hier und da andere Rufe laut. War es das: Vorwärts! vorwärts! der schreckliche Befehl aus Paris, der den Mann dort Schritt für Schritt weiterstieß, der das Spottbild seiner kaiserlichen Umgebung auf dem Wege zur Niederlage mit sich schleppte, der nun in das gräßliche Unglück hineingedrängt wurde, das er kommen sah und an dem er seinen Anteil suchte? Wieviel tapfere Männer mußten um seines Fehlers willen sterben, wie mußte sich in diesem Kranken, in diesem gefühlvollen, schweigsamen Träumer sein ganzes Wesen bei der traurigen Erwartung seines Schicksals umkehren!

Weiß und Delaherche begleiteten die beiden Soldaten bis auf die Hochebene von Floing.

»Lebewohl!« sagte Maurice, als er seinen Schwager umarmte.

»Nein, zum Teufel, auf Wiedersehen!« rief der Fabrikant lustig. Jean fand mit seiner Witterung sofort die 106er, deren Zelte sich am Abhange der Hochebene hinter dem Friedhof ausdehnten. Es war fast Nacht geworden; aber man erkannte noch an den großen Massen die schwarzen Gruppen der Dächer in der Stadt, dann weiterhin Balan und Bazeilles in den Wiesen, die sich bis an die Hügelreihe von Remilly bis Frenois dahinzogen; zur Linken dehnte sich dagegen die dunkle Masse des Garennegehölzes aus und rechts unten leuchtete das breite, blasse Band der Maas. Maurice sah einen Augenblick, wie dieser weite Rundblick sich in der Finsternis auflöste.

»Ah, da ist ja der Korporal!« sagte Chouteau. »Kommt er wohl von der Verteilung?«

Es wurde laut. Den ganzen Tag hatten sich die Mannschaften, die einzeln, andere wieder in kleinen Gruppen in einer solchen Verwirrung zusammengefunden, daß schließlich auch die Führer darauf verzichteten, Erklärungen zu verlangen. Sie drückten ein Auge zu und waren froh, wenigstens die wieder zu bekommen, die gutwillig zurückkamen.

Hauptmann Beaudouin war übrigens eben erst gekommen, und Leutnant Rochas hatte erst gegen zwei Uhr die aufgelöste Kompanie, die nur noch zwei Drittel ihrer Stärke hatte, heraufgeführt. Jetzt war sie wieder beinahe vollzählig. Einige Soldaten waren betrunken, andere hatten noch nichts gegessen, da sie sich nicht einmal ein Stückchen Brot hatten verschaffen können; und eine Verteilung hatte wieder mal nicht stattgefunden. Loubets Erfindergeist war indessen darauf gekommen, Kohl zu kochen, den er in einem benachbarten Garten ausgerissen hatte; da er aber weder Salz noch Fett hatte, schrien ihre Magen doch noch vor Hunger.

»Sehen Sie mal, Herr Korporal, was Sie für ein Schlaukopf sind!« wiederholte Chouteau spöttisch. »Oh, es ist ja nicht meinetwegen, ich habe ja mit Loubet sehr fein bei einer Dame gegessen.«

Angsterfüllte Gesichter wandten sich Jean zu; die Korporalschaft hatte auf ihn gewartet, vor allen Lapoulle und Pache, die kein Glück gehabt und nichts bekommen hatten und nun auf ihn zählten, der Mehl aus den Steinen ziehen konnte, wie sie sagten. Jean überkam Mitleid, und außerdem quälte ihn sein Gewissen, daß er seine Leute verlassen hatte, und er teilte ihnen die Hälfte des Brotes aus seinem Tornister zu.

»Herrgott nochmal! Herrgott nochmal!« wiederholte Lapoulle, als er es herunterschlang, denn andere Worte fand er nicht vor befriedigtem Grunzen, während Pache ganz leise ein Pater und ein Ave hersagte, um sicher zu sein, daß der Himmel ihm auch morgen wieder seine Nahrung schicken würde.

Der Hornist Gaude hatte soeben mit aller Kraft zum Appell geblasen. Aber Zapfenstreich gab es nicht; das Lager verfiel sofort in tiefes Schweigen. Da war es, daß der Sergeant Sapin, der eben die Vollzähligkeit seines Halbzuges festgestellt hatte, mit seinem winzigen, kränklichen Gesicht und der spitzen Nase in sanftem Tone sagte:

»Morgen abend werden welche fehlen.«

Als Jean ihn ansah, fügte er dann mit ruhiger Bestimmtheit, die Augen weit in die dunkle Ferne gerichtet, hinzu:

»Oh, ich bin morgen auch tot.«

Es war neun Uhr, die Nacht drohte eisig kalt zu werden, denn aus der Maas hatte sich bereits der Nebel erhoben und verdeckte die Sterne. Und Maurice, der dicht neben Jean hinter einer Hecke lag, schauerte zusammen und meinte, sie legten sich doch wohl besser im Zelt hin. Aber ganz zerbrochen und zerschlagen, wie sie nach der genossenen Ruhe waren, konnte weder der eine noch der andere schlafen. Sie beneideten Leutnant Rochas neben ihnen, der unbekümmert um jeden Schutz, bloß in seinen Mantel eingewickelt, wie ein Held auf der feuchten Erde schnarchte. Lange Zeit beobachteten sie noch voller Aufmerksamkeit die kleine Flamme einer Kerze, die in einem großen Zelte brannte, wo der Oberst und einige Offiziere wachten. Herr von Vineuil war scheinbar den ganzen Abend sehr unruhig gewesen, weil keine Befehle für den nächsten Morgen kamen. Er fühlte sein Regiment in der Luft hängen, zu sehr vorgeschoben, obwohl er sich von dem am Morgen eingenommenen, noch weiter vorgeschobenen Posten bereits zurückgezogen hatte. Der General Bourgain-Desteuilles war nicht erschienen; er lag, wie es hieß, krank im Wirtshause Zum Goldenen Kreuz, und der Oberst mußte sich entscheiden, einen Offizier zu ihm zu schicken und ihm zu melden, daß ihm seine neue Stellung bei der Verzettelung des siebenten Korps zu gefährlich scheine, daß er eine zu dünn auseinandergezogene Linie von der Maasschleife bis zum Garennegehölz verteidigen müsse. Bei Tagesanbruch würde die Schlacht sicher beginnen. Man hatte nur noch sechs oder sieben Stunden tiefer, ruhiger Dunkelheit vor sich. Nachdem das kleine Flämmchen im Zelte des Obersten verlöscht war, merkte Maurice zu seinem großen Erstaunen, wie der Hauptmann Beaudouin nahe bei ihm an der Hecke entlang mit verstohlenem Schritt vorbeiging und in der Richtung auf Sedan verschwand.

Die Nacht verdichtete sich mehr und mehr, da die starken, vom Flusse aufsteigenden Dünste sie mit einem trüben Nebel verdunkelten.

»Schläfst du, Jean?«

Jean schlief, und Maurice blieb nun allein. Der Gedanke, zu Lapoulle und den andern ins Zelt zu kriechen, machte ihn übel. Er hörte ihr Schnarchen, mit dem sie Rochas Antwort gaben, und beneidete sie. Wenn große Führer am Abend vor der Schlacht gut schlafen, ist das vielleicht einfach nichts weiter als ihre Abspannung. Aus dem riesigen, in Finsternis getauchten Lager hörte er weiter nichts als diesen mächtigen Atem des Schlummers, diesen gewaltigen, sanften Hauch. Weiter gab es nichts mehr; er wußte nur, daß das fünfte Korps dort unter den Wällen lagern mußte, daß das erste sich vom Garennegehölz bis an das Dorf la Moncelle erstreckte, während das zwölfte auf der andern Seite die Stadt Bazeilles besetzt hielt; und dies Ganze schlief; von den ersten bis zu den letzten Zelten stieg über eine Meile hin diese ruhige, leichte Bewegung aus dem unbestimmten Grunde des Dunkels empor. Auf der andern Seite lag dann ein anderes Unbekanntes, von dem zuweilen so ferne, leichte Geräusche zu ihm hinübertönten, daß er sie für sein eigenes Ohrensausen hätte halten mögen: verhallender Galopp von Kavallerie, schwaches Rollen von Artillerie und vor allem der gewichtige Marschtritt von Menschen, das Hinüberquellen dieses schwarzen, menschlichen Ameisenhaufens über die Höhen, diese Einschnürung, die auch die Nacht nicht aufhalten konnte. Und verlöschten dort unten nicht ganz plötzlich Feuer, tönten nicht hier und da Schreie, wuchs nicht die Angst und erfüllte diese letzte Nacht mit furchtbarer Erwartung des Tages?

Maurice hatte tastend Jeans Hand gefaßt. Nun endlich fühlte er sich ruhiger und schlief ein. Und nun tönten nur noch aus der Ferne von einem Glockenturm in Sedan die Stunden eine nach der andern herüber.



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