Emile Zola
Der Zusammenbruch
Emile Zola

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8

Nachdem er nun wußte, die Schlacht sei verloren, ging Delaherche in seiner Angst vor den Folgen gegen halb sechs, ehe die Tore geschlossen wurden, abermals nach der Unterpräfektur. Fast drei Stunden lang blieb er dort, trabte auf dem Pflaster des Hofes hin und her und spähte nach allen vorbeikommenden Offizieren, um sie zu fragen; auf diese Weise erfuhr er, wie die Ereignisse sich überstürzt hatten: wie General Wimpffen seine Entlassung eingereicht und wieder zurückgezogen hatte, wie er vom Kaiser Vollmacht erhalten habe, um vom großen Hauptquartier der Preußen zugunsten der besiegten Truppen möglichst wenig entehrende Bedingungen zu erlangen, schließlich vom Zusammentritt des Kriegsrates, dem die Entscheidung darüber oblag, ob man den Kampf weiter fortsetzen und die Festung verteidigen wolle. Während der Beratung, an der etwa zwanzig höhere Offiziere teilnahmen und die ihm hundert Jahre zu dauern schien, stieg der Tuchfabrikant wieder und wieder die Stufen der Freitreppe hinauf. Um ein viertel nach acht sah er plötzlich den General Wimpffen dunkelrot mit ganz geschwollenen Augen, von einem Oberst und zwei Generalen gefolgt, herunterkommen. Sie sprangen in den Sattel und entfernten sich nach der Maasbrücke hin. Das hieß, die Übergabe war angenommen, unvermeidlich.

Nun fühlte Delaherche sich wieder sicher und fand, er sterbe vor Hunger, so daß er beschloß, nach Hause zu gehen. Sobald er sich aber draußen befand, blieb er angesichts der furchtbaren Verstopfung, die sich allmählich vollzogen hatte, zaudernd stehen. Straßen und Plätze waren derart vollgepackt und gestopft mit Menschen, Pferden und Geschützen, daß die ganze feste Masse wie mit Hilfe einer Riesenramme gewaltsam eingestampft erschien. Während auf den Wällen die Regimenter biwakierten, die sich in leidlich guter Ordnung zurückgezogen hatten, waren die dichten Überreste aller Korps, die Flüchtlinge aller Waffengattungen in wimmelndem Gedränge, in einem dicken, schwerflüssigen Strom, in dem man weder Hand noch Fuß rühren konnte, über die Stadt hereingeflutet. Die Geschütze, Munitionswagen und unzählige andere Fuhrwerke hatten sich mit ihren Rädern verheddert. Die mit Peitschen und Stößen nach allen Richtungen gehetzten Pferde hatten weder zum Vorwärtsgehen noch nach rückwärts Raum. Die Mannschaften waren taub gegen alle Drohungen und drangen in die Häuser, wo sie verzehrten, was sie vorfanden, und sich in den Zimmern oder in den Kellern niederlegten, wo sie konnten. Viele brachen auch vor den Türen nieder und versperrten die Zugänge. Andere hatten nicht mehr genügend Kraft, um sich weiterzuschleppen, und lagen auf den Fußsteigen in einem wahren Todesschlaf und standen selbst nicht unter den Tritten auf, die ihre Glieder trafen; sie ließen sich lieber zertrampeln, als sich die Mühe zu machen, ihren Platz zu wechseln.

Nun verstand Delaherche die gebieterische Notwendigkeit der Übergabe. Auf manchen Plätzen stießen die Munitionswagen aneinander; eine einzige zwischen sie gefallene preußische Granate hätte alle miteinander in die Luft gesprengt und ganz Sedan hätte wie eine Fackel gebrannt. Und was sollte mit diesem Haufen von Elenden geschehen, die von Hunger und Ermüdung zermalmt, weder Patronen noch Lebensmittel hatten? Das Aufräumen der Straßen allein hätte mindestens einen ganzen Tag gekostet. Die Festung selbst war unbewaffnet, die Stadt ohne Vorräte. Das waren die Gründe gewesen, die die Verständigsten, die sich trotz ihres großen Schmerzes als gute Patrioten einen klaren Blick für die Sachlage bewahrt hatten, im Kriegsrate zur Geltung gebracht hatten; und die tollkühnsten Offiziere, die anfingen zu zittern, während sie riefen, ein Heer dürfe sich nicht derart übergeben, mußten den Kopf senken, denn sie fanden keine in die Tat umsetzbare Möglichkeit, den Kampf am andern Morgen wieder aufzunehmen.

Auf dem Turenneplatz und dem Uferplatz konnte Delaherche sich schließlich mit vieler Mühe einen Weg durch das Gewirre bahnen. Als er am Gasthause Zum goldenen Kreuz vorbeikam, machte der Speisesaal, in dem eine Anzahl Generale stumm um die leere Tafel herum saßen, auf ihn den Eindruck einer düstern Geistererscheinung. Es gab nichts mehr, nicht einmal Brot. General Bourgain-Desfeuilles indessen, der in der Küche herumtobte, mußte wohl noch etwas gefunden haben, denn er wurde plötzlich ganz still und stieg mit einem fettigen Papier in den Händen schleunigst die Treppe wieder hinauf. Vom Platze aus blickte eine derartige Menge durch die Scheiben auf diese düstere, von der Not reingefegte Wirtstafel, daß der Fabrikant von seinen Ellbogen Gebrauch machen mußte; er war wie angeleimt und verlor manchmal infolge eines plötzlichen Druckes das Stück Weg, das er schon gewonnen hatte. In der Großen Straße aber wurde die Menge undurchdringlich, und einen Augenblick packte ihn Verzweiflung. Alle Geschütze einer Batterie schienen hier übereinandergeworfen zu sein. Er entschloß sich, über die Lafetten zu klettern, stieg auf die Geschütze und sprang auf die Gefahr hin, sich die Beine zu brechen, von Rad zu Rad. Schließlich versperrten die Pferde ihm den Weg; er bückte sich und kroch zwischen den Beinen und unter den Bäuchen der elenden, vor Hunger halb toten Geschöpfe durch. Als er dann so nach einer mühseligen Viertelstunde auf die Höhe der Rue Saint-Michel gelangte, jagten ihm die immer mehr zunehmenden Schwierigkeiten einen mächtigen Schreck ein, und er dachte schon daran, sich in diese Straße zu werfen, um dann weiter durch die Rue des Laboureurs zu gehen; er hoffte, diese entlegenen Straßen würden weniger verstopft sein. Das Unglück wollte aber, daß sich hier ein übelberüchtigtes Haus befand, das von einer Bande betrunkener Soldaten belagert wurde; und da er befürchtete, in dieser Drängelei noch Prügel zu bekommen, kehrte er auf der Stelle um. Jetzt wurde er aber hartnäckig und quetschte sich durch die Große Straße bis ans Ende durch, indem er bald auf Wagendeichseln entlang turnte, bald über Gepäckwagen kletterte. Auf dem Schulplatze wurde er etwa dreißig Meter weit auf den Schultern anderer weitergetragen. Dann sank er wieder herunter, die Seiten wurden ihm beinahe eingedrückt, und er konnte sich nur dadurch retten, daß er sich an den Stäben eines Gitters hochzog. Als er schließlich schweißbedeckt und zerfetzt die Rue Macqua erreichte, hatte er sich seit seinem Fortgang aus der Unterpräfektur über eine Stunde abgequält, um einen Weg zurückzulegen, zu dem er gewöhnlich weniger als fünf Minuten brauchte.

Der Stabsarzt Bouroche hatte eine Überfüllung des Gartens und des Lazaretts vermeiden wollen und daher zur Vorsicht zwei Posten vor den Eingang gestellt. Das war für Delaherche bei dem Gedanken, sein Haus könnte am Ende ausgeplündert werden, ein großer Trost. Der Anblick des nur spärlich durch ein paar Laternen erhellten Lazaretts im Garten, das einen üblen Fiebergeruch ausströmte, jagte ihm wieder Eiseskälte ins Herz. Er stieß gegen einen auf dem Pflaster schlafenden Soldaten, und da kam ihm die Kriegskasse des siebenten Korps wieder ins Gedächtnis, die dieser Mann zu bewachen hatte; er war offenbar von seinen Vorgesetzten vergessen worden und nun derartig von Müdigkeit überwältigt, daß er sich hingelegt hatte und eingeschlafen war. Das Haus schien übrigens ganz leer, das Erdgeschoß war dunkel, alle Türen standen offen. Die Dienstboten hatten wohl im Lazarett bleiben müssen, denn in der Küche, wo eine kleine Lampe trübe schwelte, war kein Mensch. Er zündete sich eine Kerze an und stieg leise die Treppe hinauf, um seine Mutter und seine Frau nicht aufzuwecken, die er dringend gebeten hatte, sich nach diesem so arbeitsreichen und aufregenden Tage zu Bett zu legen.

Aber als er in sein Zimmer trat, fuhr er zusammen. Auf dem Sofa, auf dem Hauptmann Beaudouin am Tage vorher ein paar Stunden geschlafen hatte, fand er einen Soldaten ausgestreckt; er verstand die Sachlage erst, als er Maurice, Henriettes Bruder, erkannte. Noch klarer wurde sie ihm, als er beim Umdrehen auf dem Teppich einen in einen Mantel gewickelten zweiten Soldaten erblickte, nämlich Jean, den er vor der Schlacht gesehen hatte. Alle beide schienen tot vor Erschöpfung. Er blieb nicht stehen, sondern ging in das danebenliegende Schlafzimmer seiner Frau. Auf der Ecke eines Tisches stand hier eine brennende Lampe und es herrschte ein schauriges Schweigen. Gilberte hatte sich, zweifellos in der Befürchtung eines kommenden Unheils, vollständig angezogen aufs Bett geworfen. Sie schlief indessen ganz ruhig, während neben ihr auf einem Stuhle, den Kopf gegen ihre Matratze gesunken, Henriette gleichfalls schlief; aber ihr Schlummer wurde von schweren Träumen beunruhigt, und große Tränen hingen ihr an den Lidern. Er sah einen Augenblick auf sie nieder und kam in Versuchung, sie aus Wißbegierde aufzuwecken. War sie wohl bis Bazeilles gekommen? Wenn er sie fragte, konnte sie ihm vielleicht Nachricht über seine Färberei geben? Aber Mitleid packte ihn, und er zog sich zurück, als seine Mutter auf der Schwelle erschien und ihm schweigend ein Zeichen machte, ihr zu folgen.

Als sie darauf durch das Speisezimmer gingen, gab er ihr sein Erstaunen zu erkennen.

»Was? Du hast dich nicht hingelegt?«

Zuerst machte sie nur ein verneinendes Zeichen mit dem Kopfe; dann antwortete sie mit unterdrückter Stimme:

»Ich kann nicht schlafen, ich habe mich in einen Lehnstuhl zum Oberst gesetzt ... Er hat vor kurzem sehr heftiges Fieber bekommen und wacht alle Augenblicke auf und fragt mich ... Und ich weiß doch nicht, was ich ihm sagen soll ... Komm mal herein und sieh ihn dir an.«

Herr von Vineuil war schon wieder eingeschlafen. Auf dem Kopfkissen war sein langes rotes Gesicht nur undeutlich zu erkennen, sein Schnurrbart schnitt es wie mit einer schneeigen Flut ab; Frau Delaherche hatte eine Zeitung vor die Lampe gestellt, und so war diese ganze Ecke der Kammer in Halbdunkel gehüllt; nur auf sie fiel ein lebhaftes Licht, als sie so ernst in ihrem Lehnstuhle dasaß, die Hände herabgesunken und die Augen in trauriger Träumerei in der Ferne verloren.

»Warte,« sagte sie leise, »ich glaube, er hat dich gehört; da wacht er schon wieder auf.«

In der Tat öffnete der Oberst die Augen und heftete sie, ohne den Kopf zu bewegen, auf Delaherche. Er erkannte ihn und fragte ihn sofort mit vor Fieber zitternder Stimme:

»Es ist aus, nicht wahr? Wir übergeben uns?«

Der Fabrikant fing einen Blick seiner Mutter auf und war im Begriff zu lügen. Aber wozu? Er machte eine verzweifelnde Handbewegung.

»Was sollen sie denn machen? Wenn Sie die Straßen in der Stadt sehen könnten! ... General Wimpffen hat sich eben wieder ins preußische Hauptquartier begeben, um über die Bedingungen zu verhandeln.«

Herrn von Vineuils Augen hatten sich wieder geschlossen, ein langer Schauder ergriff ihn und es entfuhr ihm die leise Klage:

»O mein Gott, mein Gott!«

Ohne die Augen wieder zu öffnen, fuhr er in abgerissenen Sätzen fort:

»Ach, was ich vorhatte, hätten sie gestern durchführen müssen ... Ja, ich kenne doch das Gelände und hatte dem General meine Befürchtungen mitgeteilt; aber auf den haben sie ja auch nicht gehört ... Da oben die Höhen oberhalb Saint-Menges bis Fleigneux besetzt, beherrscht die Armee Sedan und bleibt im Besitze des Passes von Saint-Albert ... Dort warten wir, unsere Stellungen sind nicht zu nehmen, der Weg nach Mézières steht uns offen ...«

Seine Sprache verwirrte sich, er stotterte noch ein paar unverständliche Worte, während das vom Fieber erzeugte Bild der Schlacht sich allmählich verdunkelte und vom Schlaf fortgescheucht wurde. Er schlief und fuhr am Ende fort, von Sieg zu träumen.

»Sagt der Stabsarzt gut für ihn?« fragte Delaherche mit leiser Stimme.

Frau Delaherche machte mit dem Kopfe ein bejahendes Zeichen.

»Einerlei, diese Verwundungen am Fuße sind gräßlich,« fuhr er fort. »Er muß doch sicher lange im Bett bleiben, nicht wahr?«

Diesmal blieb sie still, wie versunken in den Schmerz über die Niederlage. Sie stammte ja auch aus einem andern Zeitalter, aus jenem alten, rauhen Bürgertum der Grenze, das seine Städte ehemals so glühend verteidigt hatte. In dem hellen Lampenlicht lag auf ihrem strengen Gesicht mit der dürren Nase und den schmalen Lippen der ganze Ausdruck ihres Zornes und ihrer Leiden, dies gänzliche sich Aufbäumen, das sie am Schlafen hinderte.

Nun fühlte Delaherche sich ganz vereinsamt und von furchtbarer Traurigkeit erfüllt. Unerträglicher Hunger packte ihn und er meinte, nur diese Schwäche nähme ihm den Mut. Auf den Zehenspitzen verließ er die Kammer und ging abermals mit seiner Kerze in die Küche hinunter. Hier fand er es noch trauriger, der Herd war ausgegangen, die Anrichte leer, die Aufwaschtücher in Unordnung, als wäre auch hier der Windhauch des Unglücks hindurchgefahren und hätte die ganze lebhafte Freudigkeit an Essen und Trinken mit sich fortgenommen. Zuerst glaubte er schon, er werde keine Brotrinde mehr finden, denn alle Brotreste waren mit der Suppe ins Lazarett gewandert. Dann fand er aber hinten in einem Schranke noch vom Tage vorher vergessene Bohnen. Er aß sie ohne Butter, ohne Brot im Stehen, denn um eine solche Mahlzeit mochte er nicht wieder nach oben gehen; aber so in der traurigen Küche, die die kleine flackernde Lampe mit ihrem Petroleumgeruch verpestete, beeilte er sich doch nach Möglichkeit.

Es war erst etwas nach zehn, und Delaherche wartete nun in Muße, ob die Übergabe endlich vollzogen sei. Die Unruhe, die Furcht, der Kampf möchte wieder aufgenommen werden, dauerte in ihm fort, all die Angst vor dem, was dann vor sich gehen mußte, wovon er zwar nicht sprach, was ihm aber doch schwer auf dem Herzen lag. Als er dann wieder in sein Zimmer hinaufgegangen war, wo Maurice und Jean sich noch nicht gerührt hatten, versuchte er vergeblich, sich in einem Lehnstuhl auszustrecken; der Schlaf floh ihn, das Platzen von Granaten ließ ihn plötzlich auffahren, so daß er glaubte, er müßte den Verstand verlieren. Das war der entsetzliche Geschützdonner des ganzen Tages, den er noch in den Ohren hatte; er horchte einen Augenblick und saß dann zitternd vor dem gewaltigen Schweigen da, das jetzt herrschte. Weil er also doch nicht schlafen konnte, ging er lieber in den dunklen Zimmern umher, ohne jedoch in die Kammer zu gehen, in der seine Mutter bei dem Oberst wachte; denn der starre Blick, mit dem sie seinen Bewegungen folgte, wurde ihm schließlich peinlich. Zweimal war er schon umgekehrt, um zu sehen, ob Henriette nicht aufgewacht wäre, und blieb vor dem so friedlichen Gesicht der jungen Frau stehen. Bis zwei Uhr morgens ging er so herauf und hinunter, von einem Platze zum andern, weil er nicht wußte, was er machen sollte.

Das konnte so nicht weitergehen. Delaherche entschloß sich, wieder nach der Unterpräfektur zu gehen, denn er fühlte doch, jede Ruhe sei für ihn unmöglich, solange er keine Gewißheit hätte. Unten in der verrammelten Straße packte ihn aber Verzweiflung: er würde niemals die Kraft finden, durch alle diese Hindernisse hin- und zurückzugehen, an die der bloße Gedanke ihm schon die Beine zerbrach. Und so zauderte er, bis er den Stabsarzt Bouroche pustend und fluchend daherkommen sah.

»Gottsdonnerwetter! Da sollte man ja die Beine bei liegenlassen!«

Er hatte zum Stadthaus gehen müssen, um sich dort vom Bürgermeister Chloroform zu erbetteln, das ihm gleich bei Tagesanbruch geschickt werden müßte, denn sein Vorrat war erschöpft und es warteten dringende Operationen; er befürchtete daher gezwungen zu sein, die armen Teufel zu schlachten, ohne sie einschläfern zu können, wie er sagte.

»Na und?« fragte Delaherche.

»Na und sie wissen nicht mal, ob die Apotheker noch welches haben!«

Aber dem Fabrikanten war Chloroform ganz gleichgültig. Er fing wieder an:

»Nein, nein! ... Ist es zu Ende da draußen? Haben sie mit den Preußen unterzeichnet?«

Der Stabsarzt machte eine wütende Bewegung.

»Nichts ist geschehen!« schrie er. »Wimpffen kommt gerade wieder herein ... Es scheint, die Räuber da stellen Bedingungen, daß man ihnen ein paar Ohrfeigen runterhauen möchte ... Ach! dann laß es doch wieder losgehen und uns alle verrecken, das wäre noch besser!«

Delaherche hörte erbleichend zu.

»Aber ist das wirklich wahr, was Sie mir da erzählen?«

»Ich hörte es von einem dieser Zivilisten da aus dem Stadtrat, die haben ja Dauersitzung ... Es kam gerade ein Offizier aus der Unterpräfektur, der es ihnen gesagt hatte.«

Und dann brachte er noch Einzelheiten. Die Zusammenkunft hätte im Schlosse Bellevue bei Donchery stattgefunden, und zwar zwischen General von Wimpffen, General von Moltke und Bismarck. Ein schrecklicher Mensch, dieser Moltke, trocken und hart, mit dem glatten Gesicht eines rechnenden Chemikers, der eine Schlacht in der Einsamkeit seines Studierzimmers mit Hilfe der Algebra gewann. Er hatte sofort zu entwickeln begonnen, er halte die Stellung der französischen Truppen für verzweifelt: keine Lebensmittel, kein Schießbedarf, Entmutigung und Unordnung, völlige Unmöglichkeit, den eisernen Kreis zu durchbrechen, der sie einschnürte; wogegen die deutschen Heere die stärksten Stellungen besetzt hielten und die Stadt in zwei Stunden in Flammen aufgehen lassen konnten. Er hatte kaltblütig seinen Willen erklärt: das ganze französische Heer mit Waffen und Gepäck gefangen. Bismarck mit seinem gutmütigen Hundegesicht hätte ihn lediglich unterstützt. Nun hatte General Wimpffen sich in Bekämpfung dieser Bedingungen erschöpft, die rohesten, die je einem geschlagenen Heere auferlegt waren. Er hatte von seinem Unglück gesprochen, von der heldenmütigen Tapferkeit der Soldaten, von der Gefahr, ein stolzes Volk zum äußersten zu treiben; drei Stunden lang hatte er gedroht und gefleht, mit verzweifelter, glänzender Beredsamkeit gesprochen und verlangt, sie sollten sich damit zufriedengeben, daß das Heer an der äußersten Grenze Frankreichs, selbst in Algier, außer Gefecht gesetzt wurde; der einzige Nachlaß, den er endlich erreicht hatte, wäre der gewesen, daß die Offiziere, die sich durch ihr schriftlich abgegebenes Ehrenwort verpflichteten, nicht weiter zu dienen, an ihren häuslichen Herd zurückkehren könnten. Schließlich sollte der Waffenstillstand bis zum andern Morgen um zehn Uhr verlängert werden. Wenn um diese Zeit die Bedingungen nicht angenommen wären, würden die preußischen Batterien ihr Feuer wieder eröffnen und die Stadt würde verbrannt.

»Das ist doch zu dumm!« schrie Delaherche. »Man verbrennt doch keine Stadt, wenn sie es nicht verdient hat.«

Der Stabsarzt brachte ihn schließlich noch ganz außer sich durch den Zusatz, ein paar Offiziere, die er im Wirtshause de l'Europe gesehen hätte, hätten von einem Massenausfall vor Tagesanbruch geredet. Seit Bekanntwerden der deutschen Forderungen machte sich die höchste Erregung geltend und man befürchtete die ausschweifendsten Pläne. Und der Gedanke, es wäre doch nicht ehrenhaft, die Dunkelheit zu einem Bruche des Waffenstillstandes zu benutzen, ohne ihn vorher zu kündigen, werde keinen Menschen abhalten; ganz verrückte Pläne liefen um, den Marsch auf Carignan über die Bayern hinweg im Schutze der dunklen Nacht wieder aufzunehmen, die Hochebene von Illy durch einen Überfall wieder einzunehmen, die Wiedereröffnung des Weges nach Mézières oder sogar ein unwiderstehlicher Durchbruch, um sich mit einem Satze nach Belgien hineinzuwerfen. Andere, das wäre wahr, hätten gar nichts gesagt, sie hätten das Verhängnisvolle dieses Schicksalsschlages gefühlt und jede Bedingung angenommen und unterzeichnet und vor Freude über die Erleichterung noch aufgejauchzt.

»Guten Abend!« schloß Bouroche. »Ich will versuchen, zwei Stunden zu schlafen, denn ich habe es sehr nötig.«

Als Delaherche nun allein blieb, ging ihm der Atem aus. Was? Sollte das wahr sein, würden sie wieder anfangen zu fechten und Sedan in Brand stecken und dem Boden gleichmachen lassen? Das würde ganz unvermeidlich sein, und sobald die Sonne hoch genug stehen würde, um alle Schrecken des Gemetzels beleuchten zu können, würde das Gräßliche geschehen. Ganz unbewußt stieg er noch einmal die steile Treppe zum Boden empor und stand zwischen den Schornsteinen, am Rande der Plattform, die die Stadt überblickte. Um diese Stunde befand er sich da oben in tiefster Finsternis, in einem unendlichen Meer dahinrollender, düsterer Wolken, in dem er zunächst nichts unterscheiden konnte. Dann sah er die Gebäude seiner Fabrik unter sich liegen, sie lösten sich zuerst in unbestimmten Massen soweit los, daß er sie erkennen konnte: den Maschinenraum, den Aufbereitungsraum, die Trockenräume, die Vorratsräume, und dieser Anblick, diese gewaltige Masse der seinen Stolz und seinen Reichtum bildenden Baulichkeiten überwältigten ihn vor Mitleid mit sich selbst, wenn er daran dachte, daß von diesem allen vielleicht schon in ein paar Stunden nichts als ein Aschenhaufen mehr übrig sein würde. Seine Blicke erhoben sich wieder gegen den Horizont und schweiften in der gewaltigen Dunkelheit umher, in der die Drohung für morgen schlummerte. Im Süden, auf der Seite nach Bazeilles hin, flogen Funkengarben über den in der Glut versunkenen Häusern in die Höhe; im Norden brannte der Hof La Garenne, der abends in Brand geraten war, immer noch und übergoß die Bäume mit einem blutroten Licht. Außer diesen beiden flammte kein anderes Feuer auf; sonst lag ein unergründlicher Abgrund da, in dem eine durch alle möglichen Gerüchte erzeugte Furcht umherschwirrte. Dort hinten, sehr weit entfernt von ihm, vielleicht am Ende auf den Wällen, weinte jemand. Vergeblich suchte er den Schleier zu durchdringen und die Marfée, den Liry, die Batterien von Frénois oder Wadelincourt zu erkennen, diesen Gürtel bronzener Bestien, deren vorgebeugten Hals mit dem offenen Rachen er dort ahnte. Und als er seinen Blick nach der Stadt zurückwandte, hörte er die Angst um sich her atmen. Es war nicht allein der schlechte Schlaf der auf dem Straßenpflaster liegenden Soldaten, das dumpfe Geräusch dieser Masse von Menschen, Pferden und Geschützen. Was er zu empfinden glaubte, war vielmehr die angsterfüllte Schlaflosigkeit seiner Mitbürger und Nachbarn, die gleich ihm vom Fieber geschüttelt wurden und aus Angst vor dem kommenden Tage nicht schlafen konnten. Sie mußten alle wissen, daß die Übergabe nicht unterzeichnet wäre, und alle zählten sie die Stunden und zitterten bei dem Gedanken, daß, wenn sie nicht unterzeichnet würde, sie nur in ihre Keller hinabsteigen könnten und dort sterben, vernichtet, in die Trümmer ihrer Häuser eingemauert. Scheinbar aus der Rue des Voyards schallte eine Stimme zu ihm empor, die inmitten eines plötzlichen Waffengeklirres »Mord!« schrie. Er beugte sich vor und hing so in der finstern Nacht in dem nebeligen, sternenlosen Himmel; ein Schauder packte ihn, daß ihm die Haut am ganzen Körper erschauerte.

Maurice wachte unten auf dem Sofa bei Tagesanbruch auf. Ganz verkrümmt, die Augen auf die Fensterscheiben gerichtet, die sich allmählich in der bleiernen Dämmerung erhellten, rührte er sich nicht. In der scharfen Klarheit des Erwachens tauchten ihm schreckliche Erinnerungen wieder auf, die verlorene Schlacht, die Flucht, all das Unheil. Er sah alles, auch die geringsten Kleinigkeiten, und litt entsetzlich unter der Niederlage, deren Nachhall so sehr bis zu den Wurzeln seines Wesens herunterreichte, daß er sich fühlte, als habe er selbst sie verschuldet. Und immer weiter dachte er über all dies Unheil nach und fand seine Selbstvernichtungsfähigkeit bei dieser Untersuchung nur noch geschärft. Bot er denn nicht das beste Beispiel, war er nicht ein echtes Zeitkind, gewiß von glänzender Bildung, aber auch unglaublicher Unwissenheit auf allen Gebieten, die er hätte verstehen müssen, und prahlte er nicht mit seinem Wissen derartig, daß er sich selbst blendete und ihm der Kopf durch die Sucht nach Vergnügen und das trügerische Wohlleben seiner Zeit völlig verdreht wurde? Dann tauchte etwas anderes vor ihm auf: sein Großvater, im Jahre 1780 geboren, einer der Helden der großen Armee, einer der Sieger von Austerlitz, Wagram und Friedland; sein Vater, geboren 1811, als kleiner Beamter dem Bureaukratismus verfallen, Lehrer in Chêne-Populeur, wo er sich vernutzte; er selbst, 1842 geboren, wie ein Herr erzogen, als Rechtsanwalt eingetragen, fähig der schlimmsten Dummheiten und der höchsten Begeisterung, besiegt bei Sedan in einem Schicksalsschlage, den er für gewaltig, ja für den Abschluß einer Welt hielt; und dies Herunterkommen seines Geschlechts, das ihm erklärte, wie das in den Großvätern siegreiche Frankreich in seinen Enkeln geschlagen werden, konnte, zermalmte sein Herz wie ein Unglücksfall in der eigenen Familie, der langsam immer schlimmer werdend, schließlich, sobald die Stunde schlug, in verhängnisvoller Vernichtung das Ende herbeiführte. Im Falle eines Sieges hätte er sich so. tapfer und triumphierend gefühlt! Angesichts der Niederlage verfiel er in weibischer Nervenschwäche in einen jener fürchterlichen Anfälle von Verzweiflung, in denen die ganze Welt zugrunde geht. Es war alles aus, Frankreich war tot. Schluchzen erstickte ihn, er weinte und rang die Hände und fand die stammelnden Laute seines Kindergebetes wieder:

»Mein Gott, nimm mich zu dir... Mein Gott, nimm alle die Unglücklichen, die leiden, zu dir...«

Jean, der auf der Erde in einen Mantel gewickelt dalag, begann sich zu rühren. Schließlich setzte er sich erstaunt aufrecht.

»Nanu, Junge, bist du krank?«

Als er aber merkte, es seien nur wieder Gedanken zum Jungehundekriegen, wie er sagte, wurde ihm ganz väterlich zumute.

»Na, na, was hast du denn? Mußt doch nicht um nichts so heulen.«

»Ach!« jammerte Maurice, »jetzt ist alles aus! Geh' doch, wir können nur alle Preußen werden!«

Und als sein Waffengefährte sich mit dem Hartschädel des Ungebildeten hierüber ganz erstaunt zeigte, versuchte er ihm die Erschöpfung ihrer Rasse klarzumachen, ihr Verschwinden unter der notwendig kommenden Flut neuen Blutes. Aber der Bauer wies eine derartige Erklärung mit hartnäckigem Kopfschütteln von sich ab.

»Was? Mein Feld sollte mir nicht mehr gehören? Ich sollte es mir von den Preußen nehmen lassen, solange ich noch nicht vollständig tot bin und noch meine beiden Arme habe?... Geh doch los!«

Dann gab er ihm, so gut er konnte, seine Auffassung zum besten. Sicher hätten sie mächtige Hiebe gekriegt, das war gewiß! Aber vielleicht waren doch noch nicht alle totgeschlagen, es waren doch wohl noch ein paar über, und die würden schon genügen, um das Haus wieder aufzubauen, wenn sie nur fixe Kerls wären, die hart arbeiteten und ihren Lohn nicht gleich wieder versöffen. Mit einer Familie kann man sich, wenn man sich Mühe gibt und etwas beiseite legt, immer aus der Klemme ziehen, auch in den schlimmsten Unglücksfällen. Zuweilen ist es auch gar nicht übel, wenn man mal ordentlich eins an die Ohren kriegt: das macht nachdenklich. Und mein Gott! Wenn wirklich etwas an ihnen faul wäre, ein paar unter ihnen verrottet, na ja! Dann wäre es doch besser, wenn die mit der Art abgehauen würden, als daß sie alle wie an der Cholera verreckten.

»Verloren? Ach nein, nein!« wiederholte er mehrmals hintereinander. »Ich bin gar nicht verloren, so fühle ich mich ganz und gar nicht!«

Und steif, wie er war, denn die Haare waren ihm noch von dem Blut aus seiner Schramme zusammengeklebt, richtete er sich in seinem Lebensdrange hoch auf; er wollte wieder zu seinem Arbeitszeug oder zum Pfluge greifen, um nach seinen Worten sein Haus wieder aufzubauen. Er stammte von dem alten verständigen, ausdauernden Boden her, dem alten Lande der Vernunft, der Arbeit und der Sparsamkeit.

»Aber das ist einerlei,« fuhr er fort, »für den Kaiser tut es mir doch leid... Es sah doch so aus, als gingen die Geschäfte gut, das Getreide wurde gut bezahlt... Aber er war sicher zu dumm, auf solche Geschichten läßt man sich doch nicht ein!«

Maurice aber blieb niedergeschlagen und machte nur eine trostlose Handbewegung.

»Ach, der Kaiser! Doch, ja, eigentlich hatte ich ihn trotz meiner Ansichten über Freiheit und Republik ganz lieb ... Ja, das liegt mir so im Blut, ich habe es wohl noch von meinem Großvater her... Aber nun ist auf dieser Seite auch alles faul; wohin werden wir bloß fallen?«

Seine Augen irrten umher und seine Klagen waren so schmerzerfüllt, daß Jean sich in seiner Besorgnis entschloß aufzustehen, als er Henriette hereinkommen sah. Sie war gerade von dem Geräusch von Stimmen im Nebenzimmer aufgewacht. Ein blasses Tageslicht erhellte jetzt das Zimmer.

»Sie kommen wie gerufen, um ihn auszuschelten,« sagte er und tat, als lachte er. »Er ist ganz unvernünftig.«

Aber der Anblick seiner Schwester, so blaß, so kummervoll, brachte in Maurice bei seiner zärtlichen Zuneigung zu ihr eine heilsame Wendung hervor. Er öffnete die Arme und zog sie an seine Brust; und als sie sich ihm an den Hals warf, durchdrang ihn eine große Süßigkeit. Auch sie weinte nun, und ihre Tränen vermengten sich.

»Ach, mein armer, armer Liebling, wie hasse ich mich, daß ich dich nicht besser trösten kann!... Der gute Weiß, dein Mann, der dich so liebhatte! Was soll nun aus dir werden? Du warst auch immer das Opferlamm und hast dich nie beklagt... Und ich habe dir auch schon soviel Kummer gemacht, und wer weiß, ob ich dir nicht noch mehr machen werde?«

Sie brachte ihn zum Schweigen, indem sie ihm die Hand auf den Mund legte, als Delaherche eintrat, ganz verstört und außer sich. Er war schließlich von der Plattform wieder nach unten gegangen, da ihn ein nervöser Heißhunger packte, den die Übermüdung noch bis zur Verzweiflung steigerte; und als er in die Küche gegangen war, um irgend etwas Warmes zu trinken, hatte er dort bei der Köchin einen ihrer Verwandten gefunden, einen Tischler aus Bazeilles, der als einer der letzten Einwohner dortgeblieben war, und der hatte ihm erzählt, daß seine Färberei vollständig zerstört, ein Trümmerhaufen sei.

»Was? Solche Räuber, sollte man's glauben?« wandte er sich stammelnd zu Maurice und Jean. »Alles ist verloren, heute morgen werden sie Sedan in Brand stecken, wie sie gestern Bazeilles angesteckt haben... Ich bin zugrunde gerichtet, ich bin zugrunde gerichtet!«

Henriettes Stirnwunde erregte seine Aufmerksamkeit, und er erinnerte sich, daß er noch gar nicht mit ihr gesprochen habe.

»Richtig, Sie sind ja dorthin gegangen und haben das dabei abgekriegt... Ach, der arme Weiß!« Und als er an den roten Augen der jungen Frau plötzlich sah, daß sie von dem Tode ihres Mannes unterrichtet sei, schoß er mit einer greulichen Begebenheit los, die ihm der Tischler gerade erzählt hatte.

»Der arme Weiß! Scheinbar haben sie ihn verbrannt... Ja, sie haben die Körper der erschossenen Einwohner gesammelt und sie in die Glut eines brennenden Hauses geworfen, das mit Petroleum besprengt war.«

Von Entsetzen ergriffen hörte Henriette ihn an. Mein Gott! Nicht einmal den Trost sollte sie haben, ihren lieben Toten zurückholen und beerdigen zu können, seine Asche würde nun der Wind verwehen! Maurice schloß sie wieder in seine Arme, er nannte sie mit zärtlicher Stimme sein armes Aschenbrödel und flehte sie an, sich nicht so zu grämen, sie wäre ja doch so tapfer.

Nach einer stummen Pause wandte sich Delaherche, der vom Fenster aus beobachtete, wie das Tageslicht zunahm, zu den beiden Soldaten und sagte zu ihnen voller Lebhaftigkeit:

»Bei der Gelegenheit, das hätte ich fast vergessen... Ich kam herauf, um Ihnen zu sagen, unten im Wagenschuppen, wo die Kriegskasse untergebracht war, ist ein Offizier gerade dabei, das Geld unter die Mannschaften zu verteilen, damit die Preußen es nicht kriegen ... Sie sollten hinuntergehen, etwas Geld kann Ihnen sehr nützlich werden, wenn wir heute abend nicht alle tot sind.«

Der Rat war gut, Maurice und Jean gingen hinunter, nachdem Henriette eingewilligt hatte, ihres Bruders Platz auf dem Sofa einzunehmen. Delaherche ging in das Zimmer nebenan, wo er Gilberte mit ruhigem Gesicht immer noch in ihrem Kinderschlafe vorfand, ohne daß das Geräusch der Stimmen und das Schluchzen sie auch nur ihre Stellung hätten ändern lassen. Hierauf steckte er den Kopf in das Zimmer, wo seine Mutter bei Herrn von Vineuil wachte; aber die war nun in ihren Lehnstuhl zurückgesunken und eingeschlummert, während der Oberst mit geschlossenen Lidern, vom Fieber ermattet, sich nicht rührte.

Jetzt riß er die Augen weit auf und fragte:

»Nun, es ist aus, nicht wahr?«

Da ihm diese Frage sehr in die Quere kam, weil er sich gerade im selben Augenblick festgehalten sah, als er entschlüpfen wollte, machte Delaherche eine wütende Bewegung und die Stimme versagte ihm:

»Ach, ja wohl! Zu Ende! Bis es wieder anfängt... Nichts ist unterzeichnet.«

Mit sehr leiser Stimme fuhr der Oberst nun in beginnendem Irrsein fort:

»Mein Gott, könnte ich doch sterben, ehe es vorbei ist!... Ich höre kein Geschütz mehr. Warum schießen sie denn nicht mehr? ... Da oben bei Saint-Menges und Fleigneur beherrschen wir alle Straßen, wir können die Preußen in die Maas werfen, wenn sie Sedan umgehen wollen, um uns anzugreifen. Die Stadt liegt zu unsern Füßen und bildet so ein Hindernis, das unsere Stellungen noch verstärkt... Vorwärts! Das siebente Korps nimmt die Spitze, das zwölfte soll den Rückzug decken...«

Und seine Hände fuhren auf der Decke herum und bewegten sich wie beim Trabe seines Pferdes, das ihn im Traume trug. Allmählich wurden ihre Bewegungen langsamer, je schwerfälliger ihm beim Wiedereinschlafen die Worte kamen. Sie standen still, und ohne einen Atemzug lag er wie ein Toter da. »Ruhen Sie sich nur aus,« flüsterte Delaherche ihm noch zu, »ich komme wieder, sobald ich etwas Neues weiß.«

Nachdem er sich dann noch vergewissert hatte, daß er seine Mutter nicht aufgeweckt hätte, machte er sich davon und verschwand.

Unten im Wagenschuppen fanden Jean und Maurice tatsächlich auf einem Küchenstuhl sitzend einen Zahlmeister, der nur durch einen kleinen weißgescheuerten Tisch vor sich geschützt war und ohne Feder, ohne Empfangsbescheinigung, ohne irgendwelches Papier seine Schätze verteilte. Er schöpfte einfach die Goldstücke aus den überquellenden Säcken heraus und schüttete sie, ohne sich auch nur die Mühe des Zählens zu machen, mit raschen Handgriffen in die Käppis der an ihm vorbeiziehenden Sergeanten des siebenten Korps. Es war vereinbart, die Sergeanten sollten sie dann weiter unter die Leute ihrer Halbzüge verteilen. Alle empfingen das Gold mit linkischer Miene wie ihr Teil Kaffee oder Eßwaren und zogen dann ab, nachdem sie vorher noch ganz verlegen die Käppis in ihre Taschen entleerten, damit sie sich nicht mit all dem Gold bei hellichtem Tage auf der Straße sehen lassen brauchten. Kein Wort wurde gesprochen, es war nichts zu hören als das metallische Rieseln der Goldstücke, so starr waren alle diese armen Teufel bei der plötzlichen Überflutung durch einen solchen Reichtum, und dabei gab es doch in der ganzen Stadt kein Brot und keinen Liter Wein mehr zu kaufen.

Als Jean und Maurice vortraten, zog der Zahlmeister zuerst die Handvoll Goldstücke, die er gerade vorstreckte, wieder zurück.

»Sie sind alle beide keine Sergeanten... Nur Sergeanten dürfen Geld in Empfang nehmen...« Aber er war schon müde und wollte schnell fertig werden:

»Na, Korporal, nehmen Sie nur immerhin ... Schnell, der nächste!«

Und er ließ die Goldstücke in das von Jean hingehaltene Käppi fallen. Der war ganz aufgeregt über die Höhe der erhaltenen Summe, fast sechshundert Francs, und verlangte sofort, Maurice solle die Hälfte davon nehmen. Man könnte doch nicht wissen, sie konnten plötzlich voneinander getrennt werden.

Im Garten vor dem Lazarett nahmen sie die Teilung vor; dann gingen sie hinein und fanden da auf dem Stroh dicht bei der Tür den Trommler ihrer Kompanie, Bastian, einen dicken, vergnügten Bengel, der das Pech gehabt hatte, gegen fünf Uhr, als die Schlacht schon zu Ende war, eine verirrte Kugel in die Leistengegend zu kriegen. Er lag seit gestern abend im Todeskampf.

Der Anblick des Lazaretts, jetzt im Augenblick des Erwachens, beim ersten matten Tageslicht, ließ sie zu Eis erstarren. Drei Verwundete waren während der Nacht noch gestorben, ohne daß man es gemerkt hätte; und die Lazarettgehilfen waren schnell bei der Hand, um Platz für andere zu schaffen, indem sie die Leichen wegtrugen. Die gestern Operierten rissen in ihrer Schlaftrunkenheit die Augen weit auf und sahen verstört in diesem weiten Schlafsaal des Leidens umher, wo auch eine ganze Herde Verstümmelter auf der Streu lag. Es nützte wenig, daß am Abend vorher noch einmal ausgefegt war, daß nach der blutigen Kocherei der Operationen noch etwas große Wäsche gehalten wurde: der schlecht aufgewischte Boden zeigte doch noch Blutspuren, ein großer Schwamm mit Blutflecken, der wie ein Gehirn aussah, trieb in einem Eimer umher; eine Hand mit abgerissenen Fingern war vergessen worden und lag dicht bei der Schuppentür. So sah der Abfall beim Schlachten, sahen die gräßlichen Überbleibsel des Gemetzels tags zuvor in der trüben Morgendämmerung aus. Und die Aufregung, der stürmische Drang nach dem Leben der ersten Stunden war unter dem dumpfen Druck des Fiebers einer Art Erschöpfung gewichen. In dem schwülen Schweigen erhob sich kaum eine leise, schlaftrunken gestammelte Klage. Die glasigen Augen gerieten beim Wiedererblicken des Tageslichtes in Verwirrung, die verklebten Mundhöhlen stießen einen üblen Geruch aus, der ganze Saal war jener endlosen Reihe bleigrauer, ekelerregender Tage voller Todeskämpfe verfallen, die diese armen Verstümmelten nun durchmachen mußten, um, falls sie sich noch durch sie hindurchquälten, schließlich nach zwei oder drei Monaten mit Verlust eines Gliedes dazustehen.

Bouroche, der nach ein paar Stunden Ruhe seine Beobachtungen begann, blieb vor dem Trommler Bastian stehen und ging dann mit einem unmerklichen Achselzucken weiter. Nichts zu machen! Der Trommler hatte indessen die Augen weit aufgerissen; und als ob er wieder ins Leben zurückgerufen wäre, verfolgte er mit lebhaftem Blick einen Sergeanten, der auf den glücklichen Gedanken verfallen war, mit seinem Käppi voll Gold hineinzukommen, um zu sehen, ob sich nicht ein paar von seinen Leuten unter den armen Teufeln befänden. Richtig fand er auch zwei und gab ihnen jedem zwanzig Francs. Andere Sergeanten folgten ihm, und das Gold begann nur so auf das Stroh herniederzuregnen. Und Bastian, dem es endlich gelungen war, sich wieder aufzurichten, streckte auch seine im Todeskampf zitternden Hände aus.

»Mir auch! Mir auch!«

Der Sergeant wollte ihn wie Bouroche übergehen. Aber warum? Er gab daher einer Regung seines Menschlichkeitsgefühls nach und warf ihm eine Anzahl Goldstücke, ohne sie zu zählen, in die bereits erkalteten Hände.

»Mir auch! Mir auch!«

Bastian war wieder hintenübergefallen. Er versuchte das ihm entfallene Gold wieder zu greifen und tastete lange mit steifen Fingern umher. Dann starb er.

»'n Abend! Der Herr hat seine Kerze ausgepustet!« sagte sein Nachbar, ein kleiner dürrer Zuave. »So was ist ärgerlich, wenn man gerade etwas bekommt, um sich einen Schnaps zu bezahlen!«

Ihm war der linke Fuß in eine Schiene eingeschnallt. Er konnte sich jedoch soweit aufrichten, um sich auf Knien und Ellbogen weiterschleppen zu können; und als er bis zu dem Toten gekommen war, sammelte er alles auf und untersuchte ihm sogar die Hände und den Rock. Als er wieder auf seinen Platz gekommen war und fand, daß man ihn beobachtet hatte, sagte er lediglich:

»Ist doch nicht nötig, nicht wahr, daß so was verlorengeht?«

Maurice, dessen Herz beim Anblick all dieses menschlichen Jammers erstickte, beeilte sich, Jean hinwegzuziehen. Als sie den Operationsschuppen durchschritten, sahen sie Bouroche ganz verzweifelt darüber, daß er kein Chloroform bekommen konnte, und trotzdem hatte er sich gerade entschlossen, einem armen Kerlchen von zwanzig Jahren ein Bein abzunehmen. Sie liefen weg, um nichts davon zu hören.

Gerade in dieser Minute kam Delaherche von der Straße zurück. Er winkte sie heran und rief:

»Rasch, rasch, kommen Sie herauf!... Wir wollen frühstücken, die Köchin hat es fertiggebracht, etwas Milch zu bekommen! Wirklich, das soll uns nicht schaden, wir haben wahrhaftig alle etwas Warmes nötig!«

Aber trotz aller Bemühungen konnte er seine hervorquellende Freude nicht ganz unterdrücken. Er senkte die Stimme und fügte strahlend hinzu:

»Diesmal haben wir's! General von Wimpffen ist gerade wieder weggeritten, um die Übergabe zu unterzeichnen!«

Ach, was für ein Riesentrost, seine Fabrik gerettet, das Leben konnte weitergehen, schmerzerfüllt zwar, aber schließlich doch das Leben, das Leben. Es hatte gerade neun geschlagen, da war die kleine Rose angelaufen gekommen, um von einer Tante, die eine Bäckerei in diesem Viertel hatte, etwas Brot zu holen, und die hatte ihm die Vorgänge von heute morgen in der Unterpräfektur erzählt. Um acht Uhr hatte General von Wimpffen einen neuen Kriegsrat zusammengerufen, über dreißig Generale, denen er die Ergebnisse seiner Unterhandlungen, all die unnützen Bemühungen und die harten Forderungen des Feindes vorgelegt hatte. Die Hände zitterten ihm, und vor heftiger Erregung hatten ihm die Augen voll Tränen gestanden. Er hatte noch gesprochen, als ein preußischer Offizier gekommen war, um sich namens des Generals von Moltke als Parlamentär vorzustellen und daran zu erinnern, daß, falls um zehn Uhr noch kein Beschluß gefaßt sei, das Feuer auf die Stadt Sedan wieder eröffnet werden würde. Angesichts dieses schrecklichen Zwanges hatte der Kriegsrat den General nur ermächtigen können, sich abermals nach dem Schlosse Bellevue zu begeben und auf alles einzugehen. Der General mußte dort schon sein, und das ganze französische Heer war mit Waffen und Gepäck gefangen. Nun hatte Rosa sich genauer über die außerordentliche, durch diese Nachricht in der Stadt hervorgerufene Erregung verbreitet. In der Unterpräfektur hatte sie gesehen, wie Offiziere sich die Achselstücke abrissen und wie Kinder in Tränen vergingen. Auf der Brücke warfen Kürassiere ihre Pallasche in die Maas; ein ganzes Regiment war entlanggezogen und jeder Mann hatte den seinigen weggeschleudert, hatte zugesehen, wie das Wasser aufspritzte und sich wieder schloß. In den Straßen packten die Soldaten ihre Gewehre beim Lauf und zerschmetterten die Kolben an den Mauern; die Artilleristen dagegen nahmen die Verschlüsse der Mitrailleusen heraus und warfen sie in die Kanäle. Manche hatten Fahnen verbrannt oder vergraben. Auf dem Turenneplatz war ein alter Sergeant auf einen Prellstein gestiegen und hatte die Führer beschimpft und sie Feiglinge genannt, als ob er plötzlich verrückt geworden wäre. Andere standen ganz verstört mit dicken Tränen in den Augen umher. Aber wieder andern, und zwar den meisten, das mußte sie auch zugeben, hatten die Augen ordentlich geleuchtet vor Zufriedenheit und ihr ganzes Wesen hatte rasende Freude ausgedrückt. Schließlich war ihr Elend doch nun zu Ende, sie waren Gefangene und brauchten nicht mehr zu fechten! Wie hatten sie all die Tage unter den übertriebenen Märschen und dem Nahrungsmangel gelitten! Wozu sollten sie übrigens auch noch fechten, wenn sie doch nicht die Stärkeren waren? Wenn die Führer sie verkauft hatten, um so besser, denn dann war nun alles auf einmal vorbei! Es war so köstlich, sich sagen zu dürfen, nun könnte man wieder Weißbrot essen und in einem Bette schlafen!

Als Delaherche oben mit Jean und Maurice ins Eßzimmer trat, rief seine Mutter ihn zu sich.

»Komm doch mal, der Oberst macht mir solche Sorge.«

Herr von Vineuil lag wieder mit weit offenen Augen in keuchenden Fieberträumen.

»Was liegt daran, wenn die Preußen uns von Mézières abschneiden ... Hier kommen sie schon um das Falizettegehölz herum, und andere klettern schon am Givonnebach herauf ... Die Grenze liegt hinter uns, wir können mit einem Satze hinüber, sobald wir ihnen möglichst viele getötet haben ... Das wollte ich gestern schon ...«

Aber da trafen seine glühenden Blicke Delaherche. Er erkannte ihn und schien zu sich zu kommen, aus seinem verworrenen Traumleben aufzuwachen; und so fiel er wieder in die schreckliche Wirklichkeit zurück und fragte zum drittenmal:

»Nicht wahr? Es ist aus!«

Dieser Plötzlichkeit gegenüber konnte der Tuchfabrikant das Hervorbrechen seiner Zufriedenheit nicht unterdrücken.

»Ach ja, Gott sei Dank! Ganz und gar aus ... Die Übergabe muß jetzt bereits unterzeichnet sein.«

Heftig richtete der Oberst sich trotz seines verbundenen Fußes auf; er faßte seinen auf dem Stuhle liegenden Degen und wollte ihn mit aller Kraft zerbrechen. Aber seine Hände zitterten zu sehr und der Stahl entglitt ihm.

»Paß auf! Er wird sich schneiden!« rief Delaherche. »Das ist zu gefährlich, nimm ihn ihm doch weg!«

Nun bemächtigte Frau Delaherche sich des Degens. Aber anstatt ihn, wie ihr Sohn ihr riet, zu verstecken, zerbrach sie ihn bei der sichtlichen Verzweiflung Herrn von Vineuils mit einem kurzen Ruck über ihrem Knie mit ungewöhnlicher Kraft, deren sie selbst ihre armen Hände gar nicht mehr für fähig gehalten hatte. Der Oberst war wieder zurückgesunken, er weinte und sah auf seine alte Freundin mit einem Ausdruck unendlicher Güte.

Währenddessen hatte die Köchin im Eßzimmer Tassen mit Kaffee und Milch für alle eingeschenkt. Henriette und Gilberte waren aufgewacht, die letztere durch ihren guten Schlaf völlig ausgeruht, mit klarem Gesicht und fröhlichen Augen; sie umarmte ihre Freundin zärtlich und beklagte sie aus tiefstem Herzen, wie sie sagte; Maurice setzte sich neben seine Schwester, während Jean, der auch annehmen mußte, sich etwas linkisch Delaherche gegenübersetzte. Frau Delaherche war nicht zu bewegen, sich auch an den Tisch zu setzen, sie mußten ihr eine Tasse hinbringen, und damit hatte sie genug. Nebenan aber wurde das anfangs recht stumme Frühstück der fünf allmählich ganz lebhaft. Sie fühlten sich so abgerissen und hungrig, wie sollten sie sich da nicht freuen, sich alle gesund und wohlbehalten hier wiederzufinden, während Tausende von armen Teufeln noch draußen auf den umliegenden Feldern lagen? Allein schon das weiße Tischtuch in dem großen kühlen Eßzimmer bot eine Augenfreude, und der sehr heiße Kaffee mit Milch war hervorragend.

Sie plauderten. Delaherche hatte sich bereits wieder mit der Gutmütigkeit eines auf seine Beliebtheit bedachten Schutzherrn, der gegen nichts als gegen Erfolglosigkeit strenge verfährt, in seine Stellung des reichen Gütererzeugers hineingefunden und ließ seinen Unmut nun an Napoleon III. aus, dessen Gesicht ihn, den neugierigen Maulaffen, seit vorgestern verfolgte. Und da niemand anders als dieser einfache Bursche zu haben war, wandte er sich an Jean.

»O ja, Herr, das kann ich wohl sagen, der Kaiser hat mich enttäuscht ... Mögen seine Schmeichler immerhin mildernde Umstände für ihn beantragen, er bleibt doch die erste Veranlassung, die einzige Ursache all unseres Unglücks.«

Er hatte schon vollständig vergessen, daß er als glühender Bonapartist noch vor ein paar Monaten am Siege des Plebiszits mitgearbeitet hatte. Und er blieb nicht einmal dabei stehen, den Mann, der jetzt als der Mann von Sedan dastehen sollte, zu beklagen, er beschuldigte ihn auch noch aller möglichen Schlechtigkeiten.

»Unfähig, wie man jetzt ja wohl zugeben muß, aber das will ja noch nichts sagen ... Ein nach Schlachtenbildern haschender Geist, ein schlecht veranlagtes Gehirn, dem alles gut zu gehen schien, solange das Glück mit ihm war ... Nein, sehen Sie, da brauchen sie wahrhaftig nicht erst versuchen, uns Mitleid mit ihm einzuflößen und uns zu erzählen, man hätte ihn betrogen, die Opposition hätte ihm die Mannschaften und die nötigen Vorschüsse verweigert. Er selbst hat uns getäuscht, seine Laster und seine Fehler haben uns in dies abscheuliche Wirrsal gestürzt, in dem wir uns befinden.«

Maurice wollte nicht mitreden, konnte aber ein Lächeln nicht unterdrücken; Jean dagegen war diese politische Unterhaltung peinlich; er fürchtete Dummheiten zu sagen und beschränkte sich daher auf die Antwort:

»Es wird aber doch gesagt, er wäre ein tapferer Mann.«

Aber die paar in aller Bescheidenheit vorgebrachten Worte ließen Delaherche emporfahren. All die Angst, die er ausgestanden hatte, all seine Befürchtungen platzten in einem Ausruf hochgradiger Leidenschaft, die sich in Haß verwandelt hatte, los.

»Ein tapferer Mann, ja wahrhaftig, das ist rasch gesagt! ... Wissen Sie, Herr, meine Fabrik hat drei Granaten bekommen, und des Kaisers Schuld ist es nicht, wenn sie noch nicht in Flammen aufgegangen ist! ... Wissen Sie, daß ich, so wie ich hier mit Ihnen spreche, hunderttausend Francs an dieser dämlichen Geschichte verliere! ... Ach, nein, nein! Frankreich überrannt, niedergebrannt, ausgeschlachtet, die ganze Warenerzeugung zum Stilliegen verurteilt, der Handel vernichtet, das ist zuviel! Von derartigen tapfern Männern haben wir genug, Gott bewahre uns davor! ... Er liegt in Dreck und Blut, mag er drin bleiben!«

Er machte mit der Faust eine energische Gebärde, als ob er ein unglückliches Wesen, das sich heftig sträubte, unter Wasser tauchte und festhielte. Dann trank er seinen Kaffee mit schmatzenden Lippen aus. Gilberte stieß unwillkürlich ein leichtes Lachen über Henriettes schmerzerfüllte Zerstreutheit aus, und sie half ihr wie einem kleinen Kinde. Als die Tassen leer waren, blieben sie zögernd noch ein wenig im Schatten des schönen, kühlen Eßzimmers zusammen.

Zu der gleichen Stunde befand sich Napoleon III. in dem kleinen Weberhäuschen an der Straße nach Donchery. Von fünf Uhr morgens an hatte er die Unterpräfektur verlassen wollen, da er sich mit dem ganzen, wie drohende Gewissensbisse auf ihm lastenden Sedan um sich herum nicht wohlfühlte, und weil er übrigens auch von dem Drange gequält wurde, sein mitleidiges Herz dadurch etwas zu beruhigen, daß er für seine unglücklichen Truppen etwas leichtere Bedingungen zu erhalten suchte. Er wollte den König von Preußen sehen. Er war in einer Mietkutsche aufgebrochen und legte diese erste Strecke seines Weges in die Verbannung, die mächtige, breite, mit hohen Pappeln eingefaßte Straße in der Kühle der Dämmerung zurück, wobei er den ganzen Zerfall seiner Größe empfand, die er jetzt mit seiner Flucht hinter sich ließ; und auf dieser Straße war ihm Bismarck begegnet, der schleunigst in seiner alten Mütze und hohen Transtiefeln angelaufen gekommen war, einzig, um ihn zu unterhalten und ihn daran zu hindern, den König zu sehen, ehe die Übergabe unterzeichnet wäre. Der König war noch in Vendresse, vierzehn Kilometer weit. Wo sollte er hin? Unter welchem Dache sollte er rasten? Der Tuilerienpalast versank dort hinten in einer Gewitterwolke. Sedan schien ihm bereits meilenweit und durch einen Strom von Blut von ihm getrennt. Kaiserliche Schlösser gab es in Frankreich keine mehr, keine Dienstwohnungen mehr, nicht einmal mehr bei dem geringsten seiner Beamten einen Winkel, in dem er sich niederzulassen gewagt hätte. So entschloß er sich, hier in dem Weberhäuschen zu stranden, dem elenden Hause, das er mit seinem kleinen, von einer Hecke umschlossenen Küchengarten, seiner einstöckigen Vorderseite mit den kleinen blinden Fenstern von der Straße aus bemerkt hatte. Die gekalkte Kammer oben war einfach mit Fliesen ausgelegt und besaß keine weitere Einrichtung als einen weißgescheuerten Tisch und zwei strohgeflochtene Stühle. Stundenlang wartete er hier geduldig, zuerst in Bismarcks Gesellschaft, der lächelte, als er ihn von Edelmut sprechen hörte, und schließlich allein, indem er sein ganzes Unglück hinter sich herschleppte und sein erdfarbiges Gesicht an die Fensterscheiben drückte, um noch einmal den Boden Frankreichs zu sehen, die Maas, die so prächtig durch die weiten, fruchtbaren Gefilde dahinlief.

Am nächsten und den darauffolgenden Tagen kamen dann die andern scheußlichen Raststellen: das Schloß Bellevue, dies heitere, bürgerliche Schloß, das den Fluß überblickte, wo er schlief und nach seiner Zusammenkunft mit König Wilhelm in Tränen ausbrach; der grausame Aufbruch, bei dem Sedan aus Furcht vor dem Zorn der Besiegten und Verhungerten vermieden wurde; die von den Preußen bei Iges geschlagene Pontonbrücke; der lange Umweg nördlich der Stadt mit seinem Ausweichen und Fahren über die entlegensten Straßen um Floing, Illy und Fleigneur herum, diese ganze jammervolle Flucht im offenen Wagen; und schließlich auf der trostlosen, leichenbedeckten Hochebene von Illy das sagenhafte Zusammentreffen des unglücklichen Kaisers, der den Trab seines Pferdes nicht mehr ertragen konnte, da er unter dem Ansturm irgendeines Krankheitsanfalles zusammengebrochen war und ganz unbewußt seine ewige Zigarette rauchte, mit einem Trupp hagerer, von Staub und Blut bedeckter Gefangener, die von Fleigneur nach Sedan hereingeführt wurden und sich, um dem Wagen auszuweichen, zu beiden Seiten des Weges aufgestellt hatten, die ersten noch stumm, dann andere dumpf grollend, wieder andere in immer lauterer Erregung, und schließlich in Schimpfen ausbrechend, ihn unter geballten Fäusten mit Schimpf und Schande überhäufend. Zum Schluß kam dann noch der endlose Weg über das Schlachtfeld, alle Straßen eine Meile lang zerstört, unter Trümmern und Leichen, die mit weit offenen, drohenden Augen dalagen, dann die nackte Landschaft, die weiten, stummen Wälder, die Grenze oben auf einer Anhöhe, und dann das Ende von allem, das mit der von Fichten eingefaßten Straße drüben in dem engen Tale verschwand.

Und dann die erste Nacht der Verbannung in einem Gasthofe zu Bouillon, dem Gasthofe zur Post, wo der Kaiser sich von einer derartigen Menge geflüchteter Franzosen und gewöhnlicher Neugieriger umlagert fand, daß er schließlich sich unter Murren und Pfeifen nach oben zurückziehen mußte. Die Kammer, deren drei Fenster über den Platz und nach der Semoy hinausgingen, war das gewöhnliche Gasthauszimmer mit rot überzogenen Damaststühlen, einem Mahagonispiegelschrank, der Kamin mit einer auf beiden Seiten von Muscheln und ein paar Vasen mit künstlichen Blumen unter Glasglocken umgebenen Uhr aus Zinkguß geschmückt. Rechts und links von der Tür standen ein paar kleine, ganz gleiche Bettstellen. In die eine legte sich der Adjutant und schlief von neun Uhr an infolge seiner Müdigkeit mit fest geschlossenen Fäusten; in der andern sollte der Kaiser sich lange umherwälzen, ohne Ruhe finden zu können; und er stand auf, um sein Leiden spazierenzuführen, wobei er keine andere Unterhaltung genoß als den Anblick zweier an der Wand neben dem Kamin hängender Stiche, von denen der eine Rouget de l'Isle darstellte, wie er die Marseillaise singt, und der andere das Jüngste Gericht, einen wütenden Trompetenstoß der Erzengel, die alle Toten aus der Erde emporsteigen lassen, die Auferstehung aus dem Gemetzel der Schlachten, um vor Gott Zeugnis abzulegen.

In Sedan war der ganze Wagenzug des kaiserlichen Haushalts mit dem platzvergeudenden und viel geschmähten Gepäck verwahrlost hinter den Fliederbüschen des Unterpräfekten stehengeblieben. Man wußte nicht, wie man sie verschwinden lassen und den armen, vor Elend umkommenden Leuten aus den Augen schaffen sollte, einen so unerträglichen Eindruck machten sie in ihrer beleidigenden Protzerei und standen zu der erlittenen Niederlage in einem so furchtbar ironischen Gegensatz. Es mußte eine dunkle Nacht abgewartet werden. Pferde, Kutschen und Gepäckwagen mit ihren silbernen Töpfen, ihren Bratspießen, ihren Körben voll feinster Weine verschwanden geheimnisvoll aus Sedan und verliefen sich ebenfalls unter möglichst geringem Geräusch in einem unruhigen, verstohlenen Schauder auf dunklen Wegen nach Belgien.



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