Emile Zola
Der Zusammenbruch
Emile Zola

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6

Delaherche wurde schließlich auf der hohen Plattform, die er erstiegen hatte, um sich Rechenschaft über die Sachlage zu geben, abermals von Ungeduld nach neuen Nachrichten gepackt. Wohl sah er, daß die Granaten über die Stadt wegflogen und daß die drei oder vier, die die Dächer der benachbarten Häuser durchschlagen hatten nichts weiter als eine spärliche Beantwortung des langsamen und unwirksamen Feuers vom Fort Pfalz her waren. Aber von der Schlacht selbst konnte er nichts erkennen – und wieder stieg in ihm die Sucht nach sofortiger Gewißheit auf und wurde von der Furcht, in dem kommenden Unglück Habe und Leben zu verlieren, noch aufgepeitscht. Er ging also wieder hinunter und ließ sein auf die deutschen Batterien gerichtetes Fernrohr oben stehen.

Unten hielt ihn indessen der Anblick des Mittelgartens der Fabrik noch einen Augenblick fest. Es war nahezu ein Uhr, und das Lazarett füllte sich mit Verwundeten. Die Wagenreihe unter dem Torwege riß gar nicht mehr ab. Bereits begann es an zwei- und vierräderigem Militärfuhrwerk zu fehlen. Artilleriefuhrwerk trat in die Erscheinung, Proviant- und Vorratswagen, alles was nur auf dem Schlachtfelde aufzutreiben war; schließlich kamen sogar Halbkutschen und Bauernfuhrwerk, das auf den Höfen beschlagnahmt und mit umherirrenden Pferden bespannt war. Und in all diesen sammelten sich nun die in den fliegenden Verbandplätzen mit Notverbänden versehenen Verwundeten an. Das Abladen der armen Leute war gräßlich; einige sahen blaßgrün aus, andere dunkelblau vor Blutandrang; viele waren ohnmächtig, andere schrien laut; manche überließen sich den Krankenträgern ganz starr mit vor Furcht weit aufgerissenen Augen, während andere schon bei der bloßen, durch das Anfassen verursachten Erschütterung ihren Geist aufgaben. Der Andrang wurde derartig, daß bereits alle Matratzen in dem großen Saale belegt waren und Stabsarzt Bouroche Befehl gab, nun die von ihm an einem Ende des Saales angelegte große Strohhütte in Benutzung zu nehmen. Für die Operationen genügten er und seine Gehilfen noch einstweilen. Er hatte sich damit begnügt, sich unter dem Schuppen, in dem er seine Operationen vornahm, einen zweiten mit einer Matratze und Wachstuch bedeckten Tisch hinstellen zu lassen. Ein Hilfsarzt hielt den Verwundeten schnell ein mit Chloroform getränktes Tuch unter die Nase. Die feinen Stahlmesserchen leuchteten, die Sägen ließen nur ein leises, raspelndes Geräusch hören, Blut spritzte plötzlich in Strahlen hoch empor, um aber sofort wieder gestillt zu werden. Die Operierten wurden in raschem Hin und Her ab- und zugetragen, und es blieb kaum Zeit übrig, das Wachstuch mit einem Schwamm abzuwischen. Hinter einer Gruppe von Goldregen am Ende des Rasens hatte eine Art Beinhaus eingerichtet werden müssen, in dem man sich der Toten entledigte, und hier wurden auch die Arme und Beine mit allen andern auf den Tischen zurückbleibenden Fleisch- und Knochenresten hingeworfen.

Am Fuße eines der großen Bäume wurden Frau Delaherche und Gilberte mit dem Aufwickeln ihrer Binden gar nicht mehr fertig. Bouroche kam mit heißem Gesicht und ganz roter Schürze vorbei und warf auch Delaherche einen Packen Leinen zu:

»Da! tun Sie auch was, machen Sie, sich nützlich!«

Aber der Fabrikant erhob Einspruch.

»Verzeihung! Ich muß wieder auf Erkundigungen ausgehen. Man weiß ja überhaupt nicht mehr, ob man noch lebt.«

Und er berührte Gilbertes Haar leicht mit den Lippen: »Meine arme Gilberte! Wenn man bedenkt, dies alles könnte durch eine Granate in Brand gesetzt werden! Es ist schrecklich.«

Sie war sehr blaß, als sie die Augen erhob und mit einem Zusammenschaudern einen Blick um sich her warf.

»Ach ja! Es ist schrecklich, wie an all diesen Menschen herumgeschnitten wird ... Es ist doch komisch, daß ich hier sitzenbleiben kann, ohne ohnmächtig zu werden.«

Frau Delaherche hatte gesehen, wie ihr Sohn das Haar seiner Frau küßte. Sie machte eine Bewegung, wie um ihn davon abzuhalten, weil sie an den andern denken mußte, den Mann, der in der Nacht sicher auch dies Haar geküßt hatte. Aber ihre alten Hände zitterten, und sie flüsterte leise:

»Mein Gott, was für Qualen! Man vergißt seine eigenen darüber.«

Delaherche ging fort und erklärte ihnen, er werde sogleich mit genauen Nachrichten zurückkommen. Von der Rue Macqua an fühlte er sich über die zahlreichen waffenlosen Soldaten überrascht, die in zerlumpten Uniformen staubbedeckt in die Stadt zurückkehrten. Er konnte übrigens aus keinem sichere Einzelheiten über die Fragen herauslocken, die er sich ihnen vorzulegen bemühte: einzelne antworteten verstört, sie wüßten es nicht; andere erzählten ihm unter wütenden Gebärden und einem Schwall aufgeregter Worte so vielerlei, daß er sie für verrückt halten mußte. Ohne weiter nachzudenken, drang er nun bis zur Unterpräfektur vor, weil er glaubte, hier flössen alle Neuigkeiten zusammen. Als er über den Schulplatz schritt, sausten gerade zwei Geschütze, offenbar die letzten Überbleibsel einer Batterie, im Galopp die Straße herauf und kamen an einer Bordschwelle zum Stehen. In der Großen Straße mußte er sich eingestehen, daß die Stadt sich mit den ersten Flüchtlingen zu füllen beginne; drei abgesessene Husaren saßen auf einer Schwelle und teilten sich in ein Brot; zwei andere führten ihre Gäule am Zügel und wußten nicht, wo sie in den Stall bringen; Offiziere liefen mit verwirrten Mienen herum, und man sah es ihnen an, sie wußten nicht, wohin sie sich wenden sollten. Auf dem Turenneplatz riet ihm ein Leutnant, nicht stehenzubleiben, denn hier fielen häufig Granaten nieder, und eine hatte beim Platzen sogar das Gitter um das Standbild des großen Feldherrn zerschlagen, des Eroberers der Pfalz. Als er rasch die Unterpräfekturstraße entlangging, sah er tatsächlich zwei Geschosse mit fürchterlichem Krachen auf der Maasbrücke bersten.

Er pflanzte sich vor der Schließerloge auf und blieb dort stehen, denn er suchte nach einem Vorwand, um sich mit seinen Fragen an einen der Adjutanten wenden zu können, als eine jugendliche Stimme ihn anrief:

»Herr Delaherche! ... Kommen Sie schnell herein, draußen ist's nicht schön.«

Es war Rosa, seine Arbeiterin, an die er gar nicht gedacht hatte. Durch ihre Vermittlung sollten sich ihm alle Türen öffnen. Er trat in das Schließerzimmer und nahm einen Stuhl an.

»Denken Sie nur, Mutter ist ganz krank davon, sie hat sich hingelegt. Sehen Sie, nun ist außer mir kein Mensch da, denn Papa ist als Nationalgardist auf der Zitadelle ... Eben hat der Kaiser noch mal zeigen wollen, wie tapfer er ist, und ist wieder ausgegangen; bis ans Ende der Straße hat er gehen können, bis zur Brücke. Gerade vor ihm ist eine Granate niedergefallen und hat einem seiner Reitknechte das Pferd totgeschlagen. Und da ist er wieder umgekehrt ... Nicht wahr, was soll er auch machen?«

»Dann wissen Sie ja wohl, wie es steht ... Was sagen denn die Herren?«

Sie sah ihn ganz erstaunt an. Frisch und fröhlich stand sie mit ihrem feinen Haar und den klaren Kinderaugen vor ihm als ein Kind, das inmitten all dieser Scheußlichkeiten eifrig tätig war, ohne gerade sehr viel davon zu begreifen.

»Nein, gar nichts weiß ich ... Gegen Mittag habe ich einen Brief für den Marschall Mac Mahon hinaufgebracht. Der Kaiser war bei ihm ... Fast eine Stunde haben sie sich zusammen eingeschlossen, der Marschall im Bett und der Kaiser auf einem Stuhle daneben ... Das weiß ich, weil ich sie sehen konnte, wenn die Tür aufgemacht wurde.«

»Was haben sie denn zueinander gesagt?«

Wieder sah sie ihn an und konnte ein Lachen nicht unterdrücken.

»Aber das weiß ich doch nicht, wie sollte ich wohl? Das weiß doch kein Mensch in der Welt, was die sich erzählt haben!«

Nun machte er wirklich eine Bewegung, wie um sich wegen seiner dummen Frage zu entschuldigen. Aber der Gedanke an diese höchst wichtige Unterredung plagte ihn: wieviel Wichtiges mußte sie enthalten! Zu was für Entschlüssen waren sie wohl schließlich gekommen?

»Jetzt ist der Kaiser wieder auf sein Zimmer gegangen, und da hat er eine Besprechung mit zwei Generälen, die gerade vom Schlachtfelde gekommen sind ...«

Sie unterbrach sich und warf einen Blick auf die große Treppe.

»Halt! Da kommt gerade einer von den Generälen ... Und da kommt der andere auch!«

Rasch trat er hinaus und erkannte die Generale Douay und Ducrot, deren Pferde auf sie warteten. Er sah sie sich wieder in den Sattel schwingen und davonrasen. Nach Aufgabe der Hochebene von Illy waren sie jeder von seiner Seite herangeeilt, um den Kaiser davon zu benachrichtigen, die Schlacht sei verloren. Sie klärten ihn genau über die Sachlage auf, wie die Armee und Sedan von allen Seiten umzingelt wären und ein furchtbares Unheil hereinbreche.

Der Kaiser ging in seinem Zimmer mit seinen taumelnden Krankenschritten ein paar Minuten schweigend auf und ab. Nur ein Adjutant war noch bei ihm, der stumm neben der Türe stand. Er aber ging immer zwischen Ofen und Fenster hin und her, das Gesicht furchtbar entstellt und gerade jetzt von einem nervösen Zwinkern durchzuckt. Sein Rücken schien sich wie unter dem Zusammenbruch einer Welt noch mehr zu krümmen; sein erstorbenes, von den schweren Augenlidern halb verhülltes Auge drückte die Ergebenheit jemandes aus, der fest an das Schicksal glaubt, der sein letztes Spiel dagegen gewagt hat und verloren sieht. Jedesmal indessen, wenn er an das halb offene Fenster kam, hielt ihn ein Zusammenfahren dort eine Sekunde fest.

Bei einer diesen kurzen Pausen machte er eine zitternde Bewegung und flüsterte:

»O dies Schießen, dies Schießen, das ich nun schon den ganzen Morgen hören muß!«

Das Grollen der Batterien von der Marfée und Frénois tönte in der Tat mit außergewöhnlicher Deutlichkeit herüber. Von ihrem Donnerrollen zitterten die Fenster und selbst die Mauern mit hartnäckigem, unaufhörlichem, zur Verzweiflung bringendem Lärm. Er mußte wohl denken, wie der Kampf jetzt ganz hoffnungslos geworden sei und daß jeder weitere Widerstand ein Verbrechen bedeute. Was sollte weiteres Blutvergießen jetzt noch nutzen, all die zermalmten Glieder und abgerissenen Köpfe, die Vernichtung der bereits Gefallenen? Wenn sie doch einmal besiegt waren und alles zu Ende, warum sollte dann das Gemetzel weitergehen? Es schrien so schon genug Scheußlichkeiten und Schmerzen zur Sonne empor.

Wieder fing der Kaiser an zu zittern, als er das Fenster erreichte, und hob die Hände empor.

»O dies Schießen, dies unaufhörliche Schießen!«

Vielleicht stieg jetzt der Gedanke an die furchtbare Verantwortung wie eine Erscheinung all der blutenden Leichname in ihm auf, die seine Fehler dort draußen zu Tausenden hingestreckt hatten; vielleicht war es auch nur das Mitleid seines gefühlvollen Träumerherzens, eines guten Menschen, den menschenfreundliche Gedanken quälten. Unter diesen furchtbaren Schicksalsschlägen, die sein ganzes Glück wie einen Strohhalm zerbrachen, fand er in seiner Verzweiflung über das fortgesetzte unnütze Morden, das er nicht länger ertragen konnte, noch Tränen für andere. Das verbrecherische Geschützfeuer zerriß ihm jetzt das Herz und verdoppelte sein Elend.

»O dies Schießen, dies Schießen, lassen Sie es sofort zum Schweigen bringen, sofort!«

Und so erlebte der Kaiser, der keinen Thron mehr besaß, da er seine Machtvollkommenheit der Kaiserin-Regentin anvertraut hatte, dieser Oberbefehlshaber eines Heeres, dem er nichts mehr zu befehlen hatte, da er dem Marschall Bazaine den Oberbefehl abgetreten hatte, jetzt noch ein letztes Wiedererwachen seiner Macht in dem unwiderstehlichen Drange, sich noch ein letztes Mal als Herrn zu zeigen. Seit Châlons hatte er sich selbst ausgeschaltet, keinen Befehl hatte er mehr erteilt und sich darauf beschränkt, eine namenlose, nur Verlegenheit erzeugende Unnützlichkeit zu spielen, einen Packen, der als höchst überflüssig mit dem Gepäck seiner Truppen mitgeführt wurde. Aber er erwachte nur noch einmal zu seiner Kaiserwürde, um seine Niederlage zu erleben; der erste und einzige Befehl, den er in der Verwirrung seines mitleidigen Herzens noch geben durfte, das sollte der sein, auf der Zitadelle die weiße Fahne zu hissen, um Waffenstillstand zu verlangen.

»O dies Schießen, dies Schießen! ... Nehmen Sie ein Laken, ein Tischtuch, einerlei was! Laufen Sie rasch und bringen Sie es zum Schweigen!«

Der Adjutant trat schleunigst ab, und der Kaiser setzte seinen taumelnden Gang zwischen Fenster und Ofen fort, während die Batterien immer weiter donnerten, daß das ganze Haus bebte.

Delaherche plauderte unten noch mit Rosa, als ein Unteroffizier vom Dienst eilig hereintrat.

»Fräulein, es ist nichts mehr zu finden, ich habe kein Dienstmädchen auftreiben können ... Vielleicht haben Sie etwas Leinen, ein Stück weißes Leinen?«

»Wollen Sie eine Serviette haben?«

»Nein! nein! die ist nicht groß genug ... Ein halbes Laken zum Beispiel.«

Rosa hatte sich schon diensteifrig auf den Schrank gestürzt.

»Abgeschnitten habe ich nichts ... Ein großes Stück weißes Leinen, nein, ich sehe wahrhaftig nichts, was Ihnen passen könnte ... Ach, warten Sie mal! Möchten Sie ein Tischtuch haben?«

»Ein Tischtuch, großartig! Das ist gerade das Richtige!«

Und im Weggehen fügte er hinzu:

»Es soll eine weiße Fahne draus gemacht werden, die sie auf der Zitadelle aufziehen sollen, um um Frieden zu bitten ... Vielen Dank, Fräulein!«

Delaherche schnellte vor Freuden unwillkürlich in die Höhe. Endlich würden sie also zur Ruhe kommen. Dann aber erschien ihm diese Freude sehr wenig patriotisch und er zügelte sie. Sein Herz schlug aber doch getröstet, als er einen Oberst und einen Hauptmann, denen der Unteroffizier folgte, mit raschen Schritten aus der Unterpräfektur herausstürzen sah. Der Oberst trug das Tischtuch zusammengerollt unter dem Arme. Er kam auf den Gedanken, ihnen zu folgen, und ließ Rosa allein, die sehr stolz darauf war, dies Leinen hergegeben zu haben. In diesem Augenblick schlug es zwei Uhr.

Vor dem Stadthause wurde Delaherche von einem ganzen Strome verstörter Soldaten über den Haufen gerannt, die aus der Vorstadt La Cassine herunterkamen. Er verlor den Oberst aus dem Gesicht und verzichtete auf die Befriedigung seiner Neugier, die weiße Fahne hissen zu sehen. Er wäre auch sicher doch nicht in den Donjon hineingelassen worden. Anderseits hörte er die Leute davon reden, es wären Granaten auf die Schule gefallen, und das versetzte ihn in neue Unruhe: seit er fortgegangen war, wäre vielleicht seine Fabrik bereits in Flammen aufgegangen. Von fieberhafter Aufregung gepackt, stürzte er sich wieder vorwärts und konnte sich nur durch rasches Laufen beruhigen. Aber viele Gruppen versperrten die Straßen und auf jedem Platz entstanden neue Hindernisse. Erst in der Rue Macqua gab er einen Seufzer der Erleichterung von sich, als er die prunkende Vorderseite seines Hauses unversehrt ohne jeden Rauch oder Funken stehen sah. Er trat ein und rief schon von weitem seiner Mutter und seiner Frau zu:

»Alles geht gut, sie hissen die weiße Fahne, das Feuer wird eingestellt.«

Dann blieb er stehen, denn der Anblick des Lazaretts war wahrhaft fürchterlich.

In dem weiten Trockenraume, dessen große Tür offen gelassen war, waren nicht allein alle Matratzen belegt, sondern es blieb auch kein Platz mehr frei auf der am Ende des Saales ausgebreiteten Strohschütte. Man fing schon an, Stroh zwischen die Matratzen zu legen, und schob die Verwundeten so nahe wie möglich aneinander. Es waren schon mehr als zweihundert zu zählen, und immer kamen noch mehr. Die großen Fenster erhellten dies aufgehäufte menschliche Leiden mit weißer Klarheit. Zuweilen rief eine zu heftige Bewegung einen lauten Schrei hervor. Todesröcheln klang durch die schlaffe Luft. Ein leises, fast singendes Klagen hörte überhaupt nicht auf. Um so tiefer machte sich das Schweigen geltend, eine Art ergebener Starrheit, die trübe Niedergeschlagenheit einer Totenkammer, in der nur die Schritte der flüsternden Krankenträger laut wurden. Die auf dem Schlachtfelde notdürftig verbundenen Wunden – einige lagen auch ganz offen zutage – ließen ihren ganzen Jammer aus den Lumpen der zerrissenen Röcke und Hosen hervorsehen. Noch beschuhte Füße streckten sich zerbrochen und blutig aus. Wie mit Hammerschlägen zerbrochene Knie und Ellbogen ließen die Gliedmaßen kraftlos herabhängen. Abgehackte Hände und Finger hingen nur noch an dünnen Fleischfaden herunter. Am häufigsten schienen Arm- und Beinbrüche vorzukommen; die Glieder waren dann steif vor Schmerzen und bleischwer. Die größte Beunruhigung aber riefen die Verwundungen hervor, bei denen Bauch, Brust oder Kopf durchbohrt waren. Manche Seiten bluteten aus gräßlichen Zerreißungen, unter der aufgetriebenen Haut bildeten sich Eingeweideknoten, zerrissene oder aufgeschlitzte Nieren riefen fürchterliche, von krampfhaften Zuckungen begleitete Verzerrungen hervor. In einzelnen Fällen waren auch die Lungen durchbohrt, manchmal nur durch ein einziges Loch, dann wieder andere durch einen klaffenden Riß, aus dem das Leben in breiten Strömen von dannen floß; innere Blutungen, die man so gar nicht bemerken konnte, ließen die Leute wie vom Blitz getroffen zusammenbrechen, so daß sie im selben Augenblick noch fieberten und dann schwarz wurden. Schließlich hatten die Köpfe doch am meisten gelitten: zerschmetterte Kinnbacken, Zähne und Zunge in einer blutigen Masse; leere Augenhöhlen, halb ausgerissene Augen, offene Schädel, die das Gehirn sehen ließen. Alle die, denen die Kugel Rückenmark oder Gehirn verletzt hatte, lagen wie tot da in dem gänzlichen Verfall des Starrkrampfes, während die mit Knochenbrüchen fieberhaft unruhig waren und mit leiser, flehender Stimme um etwas zu trinken baten.

Unter dem Schuppen daneben, in dem operiert wurde, gab es dann neue Schrecken. In diesem ersten Andrange wurde nur in ganz dringenden Fällen, wenn der verzweifelte Zustand der Verwundeten es notwendig machte, zur Operation geschritten. Lag die Gefahr einer Blutung vor, so entschied Bouroche sich sofort zu amputieren. Ebenso wartete er auch nicht, wenn es sich darum handelte, tiefsitzende Kugeln in den Wunden aufzusuchen und sie zu entfernen, sobald sie an einer gefährlichen Stelle saßen, wie etwa unten am Halse, in der Achselgegend, am Schenkelansatz oder im Ellbogen oder der Kniekehle. Andere Wunden, die er zunächst beobachten wollte, wurden von den Pflegern nur nach seinen Angaben verbunden. Er hatte allein schon vier Amputationen gemacht, aber in Zwischenräumen, indem er zwischen so ernsten Operationen ein paar Kugeln entfernte, um sich auszuruhen; er begann nämlich müde zu werden. Nur die zwei Tische standen da, seiner und ein anderer, an dem einer seiner Hilfsärzte arbeitete. Zwischen beiden war ein Tuch ausgespannt worden, damit sich die Operierten nicht gegenseitig sehen konnten. Trotz allen Abwaschens blieben die Tische blutig; und die Eimer, die man in ein paar Schritt Entfernung über ein Margueritenbeet ausgegossen hatte, Eimer von einer Größe, daß ein Glas Blut ausgereicht hätte, klares Wasser in ihnen rot zu färben, schienen Eimer voll reinem Blut gewesen zu sein, und durch ihre Entleerung sahen sämtliche Blumen auf dem Rasen wie mit Blut übergossen aus. Wenn auch die Luft freien Zutritt hatte, so lagerte über diesen beiden Tischen, dem Leinenzeug und den Bestecken in dem süßlichen Chloroformgeruch doch ein Brechreiz.

Delaherche, der im Grunde mitleidig war, schauerte vor Mitgefühl zusammen, als die Einfahrt eines Landauers durch den Torweg seine Aufmerksamkeit erregte. Es war zweifellos nur noch ein herrschaftliches Fuhrwerk aufzutreiben gewesen, und Verwundete waren darin übereinandergehäuft. Überrascht stieß der Fabrikant einen Schreckensschrei aus, als er in dem zuletzt ausgeladenen Verwundeten Hauptmann Beaudouin erkannte.

»Oh, mein armer Freund! ... Warten Sie, ich rufe gleich meine Mutter und meine Frau!«

Sie liefen schon herbei und überließen die weitere Sorge um das Aufwickeln der Binden zwei Dienstmädchen. Die Lazarettgehilfen hatten den Hauptmann schon angepackt und in den Saal getragen; sie wollten ihn gerade auf einen Strohhaufen legen, als Delaherche einen Soldaten mit erdfarbenem Gesicht und offenen Augen bemerkte, der sich nicht rührte.

»Sagen Sie mal, der da ist doch tot!«

»Sieh, wahrhaftig!« flüsterte einer der Lazarettgehilfen. »Der braucht uns auch nicht länger im Wege zu liegen!«

Er und sein Gefährte nahmen den Körper und trugen ihn auf den hinter den Goldregenbüschen eingerichteten Leichenhaufen. Ein Dutzend Tote lagen hier schon im letzten Todesröcheln erstarrt nebeneinander, die einen mit ausgestreckten Füßen, als ob der Schmerz sie ausgereckt hätte, andere wieder ganz krumm in gräßlichen Stellungen. Einige schienen mit ihren weißen Augen noch zu grinsen und zeigten die Zähne unter hochgezogenen Lippen; die meisten dagegen sahen so aus, als weinten sie mit ihren langen, so furchtbar traurigen Gesichtern noch dicke Tränen. Ein sehr Junger, klein und mager, dem der halbe Kopf weggerissen war, preßte mit krampfhaften Händen noch das Bild einer Frau ans Herz, eins jener bekannten, blassen Vorstadtlichtbilder, das stark mit Blut bespritzt war. Zu Füßen der Toten häuften sich in wirrem Durcheinander abgeschnittene Arme und Beine, all der Abfall der Operationstische, der Kehrichthaufen eines Schlachterladens, auf dem alles abfallende Fleisch und Knochen zusammengeworfen wird.

Gilberte begann beim Anblick Hauptmann Beaudouins zu zittern. Mein Gott! Wie bleich er war, als er so mit seinem weißen, mit allem möglichen Schmutz bedeckten Gesicht auf der Matratze dalag! Und der Gedanke, wie sie ihn noch vor wenigen Stunden voller Leben und so gut riechend in ihren Armen gehalten hatte, ließ sie vor Schrecken zu Eis erstarren.

»Wie furchtbar, lieber Freund! Aber es ist nichts, nicht wahr?«

Wie ganz selbstverständlich hatte sie ihr Taschentuch herausgenommen und ihm das Gesicht abgewischt, denn sie hielt es nicht aus, ihn so von Schweiß, Erde und Pulver verschmutzt zu sehen. Es schien ihm eine große Erleichterung zu gewähren, daß sie ihn ein wenig reinigte.

»Nicht wahr? Es ist doch nichts, es ist doch nur Ihr Bein!«

In seiner Schlaftrunkenheit machte es dem Hauptmann Mühe, die Augen zu öffnen. Er erkannte indessen seine Freunde wieder und versuchte ihnen zuzulächeln.

»Ja, es ist lediglich das Bein ... Ich habe den Schuß gar nicht gefühlt; ich glaubte, ich wäre fehlgetreten und dadurch gestürzt ...«

Aber er sprach nur mit Anstrengung.

»Ach, ich bin so durstig, ich bin so durstig!«

Nun eilte Frau Delaherche, die sich von der andern Seite über den Rand der Matratze gebeugt hatte, davon. Sie holte schleunigst ein Glas und eine Karaffe mit Wasser, in das sie etwas Kognak hineingoß. Als der Hauptmann das Glas mit Gier geleert hatte, mußte sie den Rest der Karaffe den neben ihm liegenden Verwundeten zuteilen: alle Hände streckten sich aus, brennende Blicke flehten sie an. Ein Zuave, der nichts mehr abkriegte, brach in Schluchzen aus.

Delaherche versuchte währenddessen mit dem Stabsarzt zu sprechen, um eine besondere Vergünstigung für den Hauptmann zu erwirken. Bouroche war gerade wieder mit blutiger Schürze und schweißüberströmtem Gesicht, das seine Löwenmähne in Brand zu stecken schien, in den Saal getreten; während er hindurchschritt, erhoben sich die Leute und wollten ihn festhalten, um Hilfe, und Gewißheit von ihm zu erlangen: »Ich, ich, Herr Stabsarzt, ich!« Stammelnde Bitten folgten ihm, tastende Finger berührten seine Kleidung. Aber geschäftsmäßig ordnete er, vor Müdigkeit schnaufend, seine Arbeit, ohne auf irgend jemand zu hören. Er redete mit lauter Stimme, während er sie an den Fingern nachzählte, und gab ihnen Nummern je nach ihrer Bedeutung: der hier und der, dann der andere da; eins, zwei, drei; ein Kinnbacken, ein Arm, ein Schenkel; der Hilfsarzt, der ihm folgte, mußte genau zuhören, um sich richtig zu erinnern.

»Herr Stabsarzt,« sagte Delaherche, »da liegt ein Hauptmann, Hauptmann Beaudouin ...«

Bouroche unterbrach ihn.

»Was, Beaudouin ist hier? ... Ach, der arme Teufel!«

Er ging und blieb vor dem Verwundeten stehen. Aber auf den ersten Blick sah er, wie schwer der Fall lag, denn er fing sofort, ohne das getroffene Bein nur erst einmal nachzusehen, wieder an:

»Gut! Der hier muß mir sofort gebracht werden, sowie ich mit der Operation fertig bin, die jetzt vorbereitet wird.«

Er ging wieder in den Schuppen zurück, und Delaherche folgte ihm, denn er wollte nicht locker lassen, aus Furcht, sein Versprechen möchte in Vergessenheit geraten.

Diesmal handelte es sich um eine Schulterauslösung nach der Methode von Lisfranc, eine feine und genaue Arbeit, die kaum vierzig Sekunden dauert. Der Patient wurde schon chloroformiert, und ein Hilfsarzt hielt mit beiden Händen seine Schulter, vier Finger in der Achselhöhle und den Daumen obenauf. Nachdem Bouroche dann befohlen hatte: »Aufsetzen!« packte er, mit seinem großen Messer bewaffnet, den Deltoideus, durchstach den Arm und schnitt den Muskel quer durch; dann fuhr er rückwärts unter dem Gelenk durch und löste es mit einem Schnitt aus; der Arm war mit diesen drei Bewegungen abgetrennt und fiel herab. Der Gehilfe hatte seine Daumen vorgleiten lassen, um die Oberarmschlagader zusammenzupressen. »Hinlegen!« Bouroche konnte ein unwillkürliches Lächeln nicht unterdrücken, denn als er ans Verbinden ging, hatte er nur fünfunddreißig Sekunden gebraucht. Er brauchte jetzt nur noch den Fleischlappen wieder über die Wunde herüberzuklappen wie ein flaches Achselstück. In Anbetracht der Gefahr war dies eine hübsche Leistung, denn ein Mensch kann sich aus der Oberarmschlagader in drei Minuten verbluten, ohne dabei zu berücksichtigen, daß es jedesmal Todesgefahr bedeutet, einen unter der Einwirkung von Chloroform liegenden Verwundeten aufrecht hinzusetzen.

Delaherche fühlte sich zu Eis erstarren und wollte fliehen. Aber dazu war gar keine Zeit mehr, der Arm lag bereits auf dem Tische. Der amputierte Soldat, ein Rekrut, ein stämmiger Bauernjunge, wachte aus seiner Betäubung auf und sah, wie ein Lazarettgehilfe den Arm hinter die Goldregenbüsche wegtrug. Rasch sah er sich nach seiner Schulter um und fand sie durchschnitten und blutig. Da wurde er furchtbar wütend.

»Herrgott nochmal! was für 'ne Dummheit habt Ihr da gemacht!«

Bouroches Kräfte waren im Schwinden und er antwortete nicht. Dann meinte er in biederem Tone:

»Das habe ich zu deinem Besten getan, mein Junge, ich wollte dich nicht abklappen lassen ... Übrigens habe ich dich gefragt und du hast eingewilligt.«

»Ich hätte ja gesagt! Ich hätte ja gesagt! Konnte ich denn das wissen?«

Sein Zorn verrauchte und er weinte heiße Tränen.

»Was soll ich denn nun jetzt anfangen?«

Er wurde wieder auf das Stroh gebracht und das Wachstuch und der Tisch heftig abgewaschen; und das rote Wasser, das aus den Eimern im Bogen über den ganzen Rasen weggegossen wurde, färbte das weiße Margueritenbeet blutig rot.

Aber nun war Delaherche ganz erstaunt, daß er immer noch die Geschütze hören konnte. Weshalb schwiegen sie denn nicht? Rosas Tischtuch mußte doch jetzt auf der Zitadelle gehißt sein. Man hätte aber im Gegenteil eher glauben können, die preußischen Batterien vermehrten ihre Kräfte. Es war ein Lärm, daß man nichts mehr verstehen konnte; die Erschütterung brachte selbst die wenigst Nervösen vom Kopf zu Fuß vor wachsender Angst ins Zittern. Das konnte für die Operateure und die Operierten nicht gut sein, diese Erschütterungen, die ihnen das Herz mürbe machten. Das ganze Lazarett befand sich vor fieberhaft verzweifelter Erregung auf den Kopf gestellt.

»Es war doch vorbei, was brauchen sie denn wieder anzufangen?« rief Delaherche und lauschte ängstlich, denn jede Sekunde glaubte er jetzt den letzten Schuß zu hören.

Als er nun wieder zu Bouroche ging, um ihn an den Hauptmann zu erinnern, fand er ihn zu seiner Überraschung auf einem Strohbündel platt auf dem Bauche liegend hingestreckt und beide Arme bis an die Schultern in ein paar Eimern eisig kaltem Wasser steckend. Der Stabsarzt war mit seinen seelischen und körperlichen Kräften am Ende; von einer tiefen Traurigkeit, einer ungeheuren Trostlosigkeit niedergestreckt, gab er nach und machte eine jener todtraurigen Minuten durch, wie sie der erfahrene Fachmann stets empfindet, wenn er sich ohnmächtig fühlt. Dabei war er noch ein kräftiger Mensch mit dickem Fell und starkem Herzen. Aber das: »Wozu noch?« hatte auch ihn gestreift. Das Gefühl, daß er nie fertig werden könne, daß er unmöglich alles machen könne, lähmte ihn mit einem Male. Wozu noch? Der Tod würde doch der Stärkere bleiben.

Zwei Lazarettgehilfen brachten Hauptmann Beaudouin auf einer Bahre heran.

»Herr Stabsarzt, hier ist der Hauptmann«, wagte Delaherche ihn anzureden.

Bouroche schlug die Augen auf, zog die Arme wieder aus den Eimern, schüttelte sie und trocknete sie im Stroh ab. Dann hob er sich auf die Knie:

»Ach ja! Futsch! Wieder einer ... Na ja, unser Tagewerk ist noch nicht zu Ende.«

Und erfrischt stand er wieder auf und schüttelte seine gelbe Löwenmähne; Übung und das Gebot der Notwendigkeit brachten ihn wieder auf die Beine.

Gilberte und Frau Delaherche waren hinter der Bahre hergegangen; als der Hauptmann jetzt auf die wieder mit Wachstuch bedeckte Matratze gelegt wurde, blieben sie in ein paar Schritt Entfernung stehen.

»Schön, über dem rechten Enkel sitzt es,« sagte Bouroche, der viel sprach, um die Patienten abzulenken. »Die Stelle ist nicht bösartig. Da kommen wir gut darüber weg ... Wollen mal nachsehen.«

Aber Beaudouins Empfindungslosigkeit machte ihm offensichtlich Sorge. Er sah auf den Notverband, einfach eine über der Hose zusammengeknotete und mit Hilfe einer Bajonettscheide festgehaltene Binde. Aber er brummte allerlei zwischen den Zähnen und hätte gern gewußt, welcher Drecklümmel das gemacht hätte. Dann wurde er plötzlich still. Er sah offenbar ein: sicher hatte unterwegs in dem mit Verwundeten vollgestopften Landauer die Binde sich lockern und verrutschen können, so daß sie die Wunde nicht mehr zusammenpreßte, und das hatte eine so heftige Blutung hervorgerufen.

Einen der helfenden Lazarettgehilfen fuhr Bouroche wütend an:

»Eingesalzener Schafskopf, schneiden Sie doch zu!«

Der Pfleger schnitt rasch Hose und Unterhose auf, dann den Strumpf und den Schuh. Der Fuß und das Bein traten in bleifarbener Nacktheit voller Blutflecken hervor. Und da saß oberhalb des Knöchels ein gräßliches Loch, in das das Sprengstück der Granate einen Fetzen rotes Tuch mit hineingerissen hatte. Ein Wulst von zerfetztem Fleisch quoll knäuelartig aus der Wunde hervor.

Gilberte mußte sich gegen einen der Pfosten des Schuppens lehnen. Ach dies Fleisch, dies jetzt so weiße Fleisch, das nun so blutig zermalmt war! Trotz ihres Erschreckens konnte sie die Augen nicht davon abwenden.

»Verflucht!« meinte Bouroche. »Den haben sie uns aber schön zugerichtet!«

Er betastete den Fuß, den er kalt und ohne Puls fand. Sein Gesicht war sehr ernst geworden und er ließ eine Falte in der Lippe sehen, was bei ihm das Anzeichen für beunruhigende Fälle war.

»Verflucht!« sagte er noch einmal. »Der Fuß sieht bös aus!«

Den Hauptmann riß die Angst aus seiner Schlaftrunkenheit und er sah ihn voller Erwartung an; schließlich sagte er:

»Wie finden Sie ihn, Herr Stabsarzt?«

Aber Bouroche ging stets so vor, daß er die Kranken nie unmittelbar um Vollmacht für die Abnahme eines Gliedes ersuchte, wenn er sie durch die Notwendigkeit für geboten ansah; es war ihm lieber, wenn der Verwundete sich von selbst damit abfände.

»Fuß sieht bös aus,« flüsterte er wieder, als ob er laut gedacht hätte. »Den retten wir nicht.«

Nervös fing Beaudouin wieder an:

»Na, Herr Stabsarzt, wir müssen zum Schluß kommen Was denken Sie?«

»Herr Hauptmann, ich denke, Sie sind ein tapferer Mann und lassen mich tun, was notwendig ist.«

Hauptmann Beaudouins Augen brachen und trübten sich in einer Art von rötlichem Nebel. Es war ihm klar geworden. Aber trotz der unerträglichen Furcht, die ihm die Kehle zusammendrückte, antwortete er doch mit schlichter Tapferkeit:

»Nur zu, Herr Stabsarzt!«

Und die Vorbereitungen dauerten nicht lange. Schon hielt einer das mit Chloroform getränkte Tuch bereit, das dem Kranken sofort unter die Nase gehalten wurde. In dem Augenblick, als der kurze Erregungszustand eintrat, der der völligen Unempfindlichkeit vorhergeht, ließen zwei Pfleger den Hauptmann so auf der Matratze heruntergleiten, daß die Beine frei schwebten; einer von ihnen hielt das linke und unterstützte es; ein Hilfsarzt packte das rechte und preßte es an der Schenkelwurzel fest zusammen, um die Schlagadern zuzuquetschen.

Gilberte konnte sich nicht mehr aufrechthalten, als sie Bouroche mit dem kleinen Messer herantreten sah.

»Nein, nein, das ist zu gräßlich!«

Es wurde ihr schwach, und sie mußte sich auf Frau Delaherche stützen, die den Arm vorstrecken mußte, um sie am Fallen zu hindern.

»Aber warum bleibst du denn hier?«

Alle beide blieben indessen. Sie wandten die Köpfe weg, denn sie wollten nichts weiter sehen; trotz ihrer geringen Zuneigung blieben sie beide eng aneinandergepreßt unbeweglich und zitternd stehen.

Sicher donnerten gerade um diese Tagesstunde die Geschütze am stärksten. Es war drei Uhr, und Delaherche erklärte mit verzweifelter Enttäuschung, er verstehe die Sache nicht länger. Jetzt war es doch ganz zweifellos, daß die preußischen Geschütze, anstatt ihr Feuer einzustellen, es eher verdoppelten. Warum? Was ging denn vor? Es war ein Höllengeschieße, der Erdboden zitterte, die Luft geriet in Brand. Rund um Sedan schoß der Bronzegürtel der achthundert deutschen Geschütze auf einmal, schleuderten die umgebenden Felder ihre Blitze unter fortgesetztem Donner; und hätten alle die Höhen ihr Feuer gleichzeitig auf die Mitte gelenkt, die Stadt wäre in zwei Stunden verbrannt und zu Staub zerfallen. Das Schlimmste war, daß wieder Granaten auf die Dächer der Umgebung zu fallen begannen. Das Krachen ertönte immer häufiger. Eine barst in der Rue des Voyards. Eine andere streifte einen hohen Schornstein in der Fabrik, so daß Steinstücke auf den Schuppen heruntersprangen.

Bouroche sah in die Höhe und brummte:

»Wollen sie uns hier vielleicht unsere Verwundeten erledigen? ... Der Lärm ist ja unerträglich!«

Ein Pfleger hielt indessen das Bein des Hauptmanns ausgestreckt; mit einem riesig schnellen Kreisschnitt durchschnitt der Stabsarzt die Haut unterhalb des Knies, fünf Zentimeter unter der Stelle, wo er den Knochen durchsägen wollte. Mit Hilfe desselben kleinen Messers, das er, um Zeit zu gewinnen, gar nicht erst wechselte, löste er die Haut los und hob sie rund herum ab wie die Schale einer Orange, die man schält. Aber als er daranging, den Muskel zu durchschneiden, trat ein Pfleger heran und flüsterte ihm etwas ins' Ohr.

»Nummer zwei ist eben zusammengebrochen.«

In dem fürchterlichen Lärm verstand der Stabsarzt ihn nicht.

»Sprechen Sie doch laut, Herrgott noch mal! Mir bluten die Ohren von deren ihrem verdammten Geschieße.«

»Nummer zwei ist eben zusammengebrochen.«

»Was für 'ne Nummer zwei?«

»Der Arm.«

»Ah! Schön! ... Na ja, dann bringen Sie mir Nummer drei, den Kinnbacken.«

Und mit außerordentlicher Geschicklichkeit zertrennte er, ohne wieder abzusetzen, die Muskeln mit einem einzigen Schnitt bis auf den Knochen. Dann legte er Schienbein und Wadenbein bloß und führte zwischen sie eine dreiköpfige Kompresse ein, um sie festzuhalten. Mit einem einzigen Sägeschnitt trennte er sie dann ab. Und der Fuß blieb in der Hand des Lazarettgehilfen, der ihn gehalten hatte.

Dank dem Druck, den der Hilfsarzt weiter oben am Schenkel ausübte, lief nur wenig Blut heraus. Das Abbinden der drei Schlagadern ging schnell. Aber der Stabsarzt schüttelte den Kopf, und als der Hilfsarzt einen Finger losließ, prüfte er die Wunde und flüsterte, da er sicher war, daß der Kranke ihn nicht verstand:

»Das ist ärgerlich, die kleinen Schlagadern geben gar kein Blut mehr.«

Durch eine Handbewegung vollendete er dann seinen Befund: wieder so ein armer Kerl zum Teufel! Und auf seinem schweißüberströmten Gesicht trat wieder die ungeheure Ermattung und Traurigkeit hervor, dies verzweiflungsvolle: Wozu denn noch? Weil von zehn ja doch keine vier zu retten waren. Er trocknete sich die Stirn und ging dann an das Überschlagen der Haut und die Anlage der drei zusammenlaufenden Nähte.

Gilberte hatte sich wieder umgedreht. Delaherche hatte ihr gesagt, alles wäre in Ordnung und sie könne wieder hinsehen. Aber sie sah noch, wie ein Lazarettgehilfe das Bein des Hauptmanns hinter die Goldregenbüsche trug. Der Totenhaufen wuchs immer mehr an, zwei neue streckten sich dort schon wieder aus, der eine mit übermäßig weit aufgerissenem, ganz schwarzem Munde, so daß es aussah, als schrie er noch, der andere in einem gräßlichen Todeskampfe ganz zusammengeschrumpft, so daß er kaum noch die Größe eines schmächtigen, mißgestalteten Kindes hatte. Das Übelste war, daß der Abfallhaufen bereits auf den vorbeilaufenden Weg überzugreifen begann. Der Lazarettgehilfe wußte nicht recht, wo er das Bein des Hauptmanns am besten unterbringen könnte, und zauderte etwas; aber schließlich warf er es doch auf den Haufen.

»Sehen Sie, nun sind wir fertig!« sagte Bouroche zu Beaudouin, als er erwachte. »Nun sind Sie darüber weg!«

Aber der Hauptmann empfand beim Erwachen nicht die Freude, die gewöhnlich auf gut geglückte Operationen folgt. Er wollte sich etwas aufrichten, sank aber wieder zurück und stammelte mit kraftloser Stimme:

»Danke, Herr Stabsarzt! Mir wäre es lieber, es wäre vorbei.«

Jetzt empfand er aber doch das Brennen des Alkoholverbandes. Und als die Träger mit der Bahre herankamen, um ihn zurückzubringen, erschütterte ein furchtbarer Krach die ganze Fabrik; hinter dem Schuppen war eine Granate geplatzt, in dem kleinen Hofe, wo die Pumpe stand. Fensterscheiben flogen zersplittert umher und dichter Rauch drang in das Lazarett. Im Saale jagte ein panischer Schrecken die Verwundeten von ihrem Strohlager empor, alle schrien sie vor Furcht und wollten fliehen.

Delaherche stürzte halbnärrisch davon, um sich über den angerichteten Schaden klarzuwerden. Sollte ihm jetzt alles vernichtet werden und sein Haus in Flammen aufgehen? Was ging denn nur vor? Wenn der Kaiser doch befohlen hatte, das Feuer einzustellen, warum fing es dann von neuem wieder an?

»Herrgott noch mal! Tummeln Sie sich!« schrie Bouroche den schreckenstarren Trägern zu. »Waschen Sie mir den Tisch ab und bringen Sie Nummer drei her!«

Der Tisch wurde abgewischt und abermals ein Eimer rotes Wasser im Bogen über den Rasen ausgegossen. Das Margueritenbeet war nur noch eine rote Masse mit Blut vermengter Blätter und Blüten. Und der Stabsarzt, dem jetzt Nummer drei hergebracht wurde, suchte sich dadurch etwas Erholung zu verschaffen, daß er eine Kugel ausfindig machte, die erst den Unterkiefer zerschmettert hatte und dann unter der Zunge steckengeblieben sein mußte. Das Blut lief heftig und klebte ihm die Finger zusammen.

Hauptmann Beaudouin war im Saale wieder auf seine Matratze gelegt worden. Gilberte und Frau Delaherche waren der Bahre gefolgt. Sogar Delaherche selbst kam trotz seiner Aufregung, um einen Augenblick mit ihm zu plaudern.

»Nun ruhen Sie sich nur aus, Herr Hauptmann! Wir lassen ein Zimmer für Sie zurechtmachen, und dann holen wir Sie zu uns.«

Ein Erwachen, eine Minute von Klarheit kam über den gänzlich teilnahmlosen Verwundeten.

»Nein, ich glaube bestimmt, ich sterbe.«

Er sah sie alle drei mit weit geöffneten, von Todesfurcht erfüllten Augen an.

»O lieber Hauptmann, was sagen Sie da?« flüsterte Gilberte und zwang sich trotz eines eisigen Gefühls zu einem Lächeln. »In einem Monat sind Sie wieder hoch!«

Er schüttelte den Kopf und sah nur noch nach ihr: dabei sprach aus seinen Blicken ein gewaltiger Jammer um sein verlorenes Leben, eine Art Feigheit, so jung allein aus dem Dasein fortzumüssen, ohne seine Freuden ausgekostet zu haben.

»Ich muß sterben, ich muß sterben ... Ach, es ist scheußlich!«

Plötzlich bemerkte er, wie schmutzig und zerrissen seine Uniform war und wie schwarz seine Hände, und das machte ihm seinen Zustand vor den Frauen offenbar erst recht peinlich. Er schämte sich seiner Verwahrlosung, und der Gedanke, er sehe unordentlich aus, verlieh ihm einen Anstrich von Tapferkeit. Es gelang ihm sogar, mit seiner früheren fröhlichen Stimme zu sagen:

»Nur, wenn es sein muß, möchte ich gern mit sauberen Händen sterben ... Es wäre sehr liebenswürdig von Ihnen, gnädige Frau, wenn Sie ein Handtuch etwas naß machen und mir geben wollten.«

Gilberte lief und kam mit einem Handtuch wieder; sie wollte ihm die Hände selbst waschen. Von nun an bewies er großen Mut und tröstete sich damit, daß er als ein Mann sterbe, der zur guten Gesellschaft gehöre. Delaherche machte ihm Mut und half seiner Frau, es ihm bequem zu machen. Und als die alte Frau Delaherche das Ehepaar sich so um diesen Sterbenden bemühen sah, fühlte sie ihren ganzen Groll dahinschwinden. Sie wollte noch einmal schweigen, obwohl sie alles wußte und sich geschworen hatte, es ihrem Sohne zu erzählen. Warum sollte sie das Haus veröden, nun der Tod doch den Fehltritt mit sich hinwegnahm?

Das war beinahe unmittelbar darauf der Fall. Hauptmann Beaudouin wurde immer schwächer und verfiel wieder in seine Teilnahmlosigkeit. Eisiger Schweiß rann ihm über Gesicht und Hals. Einen Augenblick öffnete er noch die Augen und tastete umher, als fühlte er nach einer Decke, die er sich einbildete und mit gekrümmten Händen mit einer leisen, hartnäckigen Bewegung bis ans Kinn heraufziehen wollte.

»Oh, mir ist so kalt, mir ist so kalt!«

Dann ging er hinüber, ohne jedes Schlucken löschte er aus, und sein kleiner werdendes Gesicht bewahrte in aller Winzigkeit einen Ausdruck unendlicher Traurigkeit.

Delaherche achtete darauf, daß der Körper anstatt auf den Leichenhaufen in einen anstoßenden Stall gebracht wurde. Er wollte Gilberte, die ganz in Tränen aufgelöst war, zwingen, in ihr Zimmer hinaufzugehen. Aber sie behauptete, sie hätte jetzt zuviel Angst, wenn sie allein wäre, und wollte lieber bei ihrer Schwiegermutter in dem betäubenden Wirrwarr des Lazaretts bleiben. Sie lief auch schon und gab einem Chasseur d'Afrique zu trinken, den sein Fieber zum Irrereden brachte; dann half sie einem Pfleger einem ganz kleinen Soldaten die Hand verbinden, einem zwanzigjährigen Rekruten, der mit abgerissenem Daumen zu Fuß vom Schlachtfeld gekommen war; und da er sehr nett und vergnügt war und über seine Wunde in unbekümmerter, echt Pariser Weise auch noch scherzte, wurde sie dadurch schließlich auch wieder ganz heiter.

Während der Hauptmann mit dem Tode kämpfte, schien der Geschützdonner immer noch mehr zuzunehmen; eine zweite Granate fiel in den Garten und brach einen der hundertjährigen Bäume nieder. Die Leute schrien wie verrückt, ganz Sedan brenne, in der Cassine-Vorstadt wäre eine gewaltige Feuersbrunst ausgebrochen. Wenn diese Beschießung längere Zeit mit derartiger Heftigkeit anhielt, dann bedeutete das das Ende von allem.

»Das ist nicht möglich, ich gehe wieder hin!« rief Delaherche außer sich.

»Wohin denn?« fragte Bouroche.

»Nach der Unterpräfektur natürlich; ich will wissen, ob der Kaiser uns zum Narren hält mit seiner Rederei, er wolle die weiße Fahne hissen lassen.«

Bei dem Gedanken an die weiße Fahne blieb der Stabsarzt ein paar Sekunden wie betäubt stehen; nun brach also auch noch die Niederlage, die Übergabe über ihn herein, zu seiner Ohnmacht, all diese zermalmten armen Teufel, die ihm zugeschleppt wurden, zu retten. Seine Bewegungen drückten wütende Verzweiflung aus.

»Gehen Sie zum Teufel! Verloren sind wir ja trotzdem alle miteinander!«

Draußen fand Delaherche, daß die Schwierigkeiten, sich einen Weg durch die immer mehr zunehmenden Massen zu bahnen, noch größer geworden waren. Die Straßen füllten sich von Minute zu Minute mehr mit einer Flut zersprengter Soldaten. Er fragte mehrere Offiziere, die er traf: keiner hatte die weiße Fahne auf der Zitadelle gesehen. Ein Oberst erklärte schließlich, er habe sie gerade solange gesehen, daß sie gehißt und wieder verschwunden wäre. Das würde ja nun auch alles erklärt haben, ob nämlich die Deutschen sie überhaupt nicht gesehen hätten oder sie nur hätten erscheinen und wieder verschwinden sehen und daraufhin ihr Feuer verdoppelt hatten, weil sie einsahen, der Todeskampf setze ein. Es lief sogar eine Geschichte um, ein General wäre beim Anblick der Fahne vor Wut verrückt geworden, er hätte sich auf sie gestürzt und die Stange zerbrochen, das Tuch zerrissen. Und die preußischen Batterien feuerten immer weiter, auf alle Dächer und Straßen regnete es Granaten, Häuser gerieten in Brand, und an einer Ecke des Turenneplatzes wurde einer Frau der Kopf zerschmettert.

Auf der Unterpräfektur traf Delaherche Rosa nicht im Schließerzimmer an. Alle Türen standen offen, die allgemeine Auflösung setzte ein. Er ging daher hinauf und stieß nur auf verstört aussehende Menschen, ohne daß irgend jemand auch nur die geringste Frage an ihn gerichtet hätte. Er traf das junge Mädchen, als er im ersten Stock stehenblieb.

»Ach, Herr Delaherche, die Geschichte wird immer schlimmer ... Hier! Sehen Sie schnell, wenn Sie den Kaiser sehen wollen.«

Wirklich stand links von ihnen eine schlecht geschlossene Tür halb offen; durch den Spalt konnte man den Kaiser sehen, der seinen taumelnden Gang zwischen Fenster und Ofen wieder aufgenommen hatte. Er trabte trotz seiner unerträglichen Schmerzen ohne anzuhalten hin und her.

Es war gerade ein Adjutant eingetreten, der die Tür schlecht zugemacht hatte, und sie konnten hören, wie der Kaiser ihn mit ganz trostloser Stimme fragte:

»Aber warum wird denn noch immer weitergefeuert, Herr, wenn ich doch die weiße Fahne habe hissen lassen?«

Seine Qualen mußten infolge des unaufhörlichen, mit jeder Minute noch an Heftigkeit zunehmenden Geschützfeuers unerträglich geworden sein. Er konnte nicht mehr ans Fenster treten, ohne daß es ihm einen Schlag aufs Herz gab. Noch mehr Blut, noch mehr durch seine Mißgriffe niedergemähte Menschenleben! Jede Minute häufte ganz unnützerweise weitere Tote auf. Und bei seinem Widerwillen eines zartfühlenden Träumers hatte er schon mindestens zehnmal an jeden Eintretenden dieselbe Frage gerichtet.

»Aber warum wird denn immer weitergefeuert, trotzdem ich die weiße Fahne habe hissen lassen?«

Der Adjutant murmelte eine Antwort, die Delaherche nicht erfassen konnte. Der Kaiser war übrigens auch nicht stehengeblieben, sondern folgte dem ihn beherrschenden Drang, immer wieder ans Fenster zu treten, wo er bei dem fortdauernden Donner des Geschützfeuers jedesmal zusammenschauderte. Seine Blässe hatte noch zugenommen; sein langes, trauriges, so müdes Gesicht, von dem die Schminke des Morgens nur schlecht abgewischt war, drückte seinen wahren Todeskampf aus.

In diesem Augenblick ging ein kleiner lebhafter Mann in staubbedeckter Uniform, in dem Delaherche den General Lebrun erkannte, über den Treppenabsatz und stieß die Tür auf, ohne sich anmelden zu lassen. Und sogleich wurde die angsterfüllte Stimme des Kaisers wieder hörbar.

»Aber, Herr General! Warum wird denn noch immer geschossen, trotzdem ich die weiße Fahne habe hissen lassen?«

Der Adjutant trat heraus, die Tür wurde geschlossen und Delaherche konnte nicht einmal mehr die Antwort des Generals vernehmen. Alles war verschwunden.

»Ach!« sagte Rosa noch einmal, »es wird immer schlimmer, das sieht man den Herren an den Gesichtern an. Das ist genau wie mit meinem Tischtuch, das kriege ich auch nicht wieder zu sehen; einige behaupten sogar, es wäre zerrissen worden ... Bei all dem tut mir doch der Kaiser am meisten leid, denn er ist viel kränker als der Marschall und gehörte viel eher ins Bett als hier in dies Zimmer, wo er sich mit seinem ewigen Herumlaufen ganz kaputt macht.«

Sie war ganz gerührt; ihr niedlicher Blondkopf drückte aufrichtiges Mitleid aus. Delaherche aber, dessen bonapartistische Glut sich seit zwei Tagen merkwürdig abkühlte, fand sie ein bißchen töricht. Unten blieb er indessen noch einen Augenblick bei ihr stehen und wartete auf General Lebruns Fortgang. Als dieser wieder herunterkam, ging er hinter ihm her.

General Lebrun hatte dem Kaiser erklärt, daß, wenn er um Waffenstillstand nachsuchen wolle, dem Oberbefehlshaber der deutschen Truppen ein vom Oberbefehlshaber des französischen Heeres unterzeichneter Brief zugestellt werden müsse. Er hatte sich erboten, diesen Brief aufzusetzen und General Wimpffen zu suchen, der ihn unterschreiben müsse. Er trug den Brief bei sich und hatte nur die Angst, daß er diesen letzteren nicht auffinden könnte, da er keine Ahnung hatte, auf welchem Punkte des Schlachtfeldes er sich befinde. In Sedan herrschte übrigens ein derartiges Gedränge, daß er sein Pferd im Schritt gehen lassen mußte; das machte es Delaherche möglich, bis zum Tore nach Ménil neben ihm herzugehen.

Draußen ging General Lebrun dann in Galopp über und hatte, als er in Balan eintraf, das Glück, General von Wimpffen zu finden. Der hatte dem Kaiser noch vor ein paar Minuten geschrieben: »Sire, setzen Sie sich an die Spitze Ihrer Truppen, und sie werden ihre Ehre daran setzen, Ihnen einen Weg durch die feindlichen Linien zu bahnen.« Bei dem bloßen Wort Waffenstillstand geriet er in rasende Wut. Nein, nein! Nichts wollte er unterschreiben, fechten wollte er! Es war halb vier. Kurze Zeit darauf fand der letzte heldenmütige, verzweiflungsvolle Versuch statt, sich mit einem letzten Stoß einen Ausweg durch die Bayern zu bahnen und noch einmal auf Bazeilles vorzugehen. In den Straßen von Sedan und den umliegenden Feldern wurde den Soldaten, um ihnen Mut zu machen, laut vorgelogen: »Bazaine kommt, Bazaine kommt!« Viele träumten hiervon seit dem Morgen und glaubten jedesmal die Geschütze der Truppen von Metz zu hören, wenn die Deutschen eine neue Batterie eingreifen ließen. Ungefähr zwölfhundert Mann Zersprengte aller Korps und aller Waffengattungen wurden zusammengefaßt, und in großartiger Weise stürzte sich die kleine Abteilung im Laufschritt über die von Kugeln übersäte Straße. Zuerst ging es prachtvoll vorwärts, die Fallenden konnten den Schwung der übrigen nicht aufhalten, und mit wahrhaft rasendem Mut kamen sie ungefähr fünfhundert Meter weiter. Aber bald lichteten sich die Reihen, und auch die Tapfersten wichen zurück. Was sollten sie gegen die Übermacht ausrichten? Das war ja lediglich die närrische Tollkühnheit eines Heerführers, der sich nicht für besiegt erklären wollte. Und schließlich befand sich General von Wimpffen mit General Lebrun ganz allein auf der Straße von Balan nach Bazeilles, die sie nun endgültig aufgeben mußten. Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als sich unter die Mauern von Sedan zurückzuziehen.

Nachdem Delaherche den General aus den Blicken verloren hatte, beeilte er sich, wieder zu seiner Fabrik zu gelangen, denn nun war er von dem einzigen Gedanken besessen, wieder auf seine Warte hinaufzusteigen und den Ereignissen von weitem zu folgen. Als er aber dort ankam, wurde er unter dem Torweg einen Augenblick dadurch aufgehalten, daß er auf den Oberst von Vineuil stieß, der mit seinem blutüberströmten Stiefel halb ohnmächtig in einem Gemüsekarren auf einem Fuder Hafer gebettet herangebracht wurde. Der Oberst hatte sich bis zu dem Augenblick, wo er vom Pferde gefallen war, darauf verbissen, die Reste seines Regiments wieder sammeln zu wollen. Er wurde sogleich in ein Zimmer im ersten Stock gebracht, und da Bouroche, der hinaufeilte, nur einen Riß im Knöchel finden konnte, so beschränkte er sich darauf, einen Verband auf die Wunde zu legen und den mit hineingedrungenen Fetzen Stiefelleder zu entfernen. Er war gänzlich außer Rand und Band und schrie im Heruntergehen voller Verzweiflung, er wolle lieber sich selbst ein Bein abschneiden, als seinen Beruf weiter in so schwieriger Weise ohne ordentliches Gerät und die notwendigen Hilfskräfte auszuüben. Tatsächlich wußte niemand mehr, wo noch Verwundete untergebracht werden könnten, und man hatte sich bereits entschlossen, sie auf dem Rasen ins Gras zu legen. Zwei Reihen warteten dort schon, jammervoll klagend, unter freiem Himmel in dem fortdauernden Granatenregen. Die seit Mittag im Lazarett eingelieferte Menschenzahl überstieg bereits vierhundert, und der Stabsarzt hatte schon um chirurgische Hilfe ersucht, ohne daß man ihm mehr als einen jungen Arzt aus der Stadt schickte. Er konnte gar nicht durchkommen, er sondierte, schnitt, sägte und nähte außer sich vor Verzweiflung, wenn er sah, daß ihm immer noch mehr Arbeit herangeschleppt wurde, als er bewältigen konnte. Gilberte, die vor Schrecken ganz trunken war und von all dem Blut und Tränen beständig an Brechreiz litt, war bei ihrem Onkel, dem Oberst, geblieben und ließ Frau Delaherche allein den Fieberkranken weiter zu trinken geben und die feuchten Gesichter der Sterbenden abtrocknen.

Delaherche versuchte sich auf seiner Plattform schleunigst über die Sachlage Rechenschaft zu geben. Die Stadt hatte weniger gelitten, als anzunehmen war; nur in der Cassine-Vorstadt stieß eine einzige Feuersbrunst dicken, schwarzen Rauch aus. Das Fort Pfalz feuerte nicht mehr, ohne Zweifel aus Mangel an Schießbedarf. Nur die Geschütze beim Pariser Tor gaben noch hin und wieder einen Schuß ab. Und was ihm sogleich am meisten auffiel, die weiße Fahne auf dem Donjon war wieder aufgezogen; aber vom Schlachtfeld aus mußte man sie wohl nicht sehen können, denn das Feuer dauerte mit gleicher Heftigkeit fort. Die benachbarten Dächer verdeckten ihm die Straße nach Balan, so daß er den Truppenbewegungen auf ihr nicht folgen konnte. Sowie er übrigens sein Auge wieder an das eingestellt gebliebene Fernrohr geführt, fiel es wieder auf den deutschen Generalstab, den er mittags schon auf derselben Stelle beobachtet hatte. Der Herr, der winzige, einen halben Finger große Bleisoldat, in dem er den König von Preußen zu erkennen geglaubt hatte, stand immer noch aufrecht in seiner dunklen Uniform vor den andern Offizieren, die sich mit ihren funkelnden Stickereien meist ins Gras gelegt hatten. Da waren fremde Offiziere, Adjutanten, Generäle, Hofmarschälle, Prinzen, die alle mit Feldstechern versehen schon vom Morgen an dem Todeskampfe der französischen Truppen wie einem Schauspiele folgten. Und das furchtbare Trauerspiel ging zu Ende.

Der König Wilhelm hatte also von der bewaldeten Höhe der Marfée aus der Vereinigung seiner Truppen beigewohnt. Nun war sie vollzogen; die dritte Heeresgruppe war unter dem Befehl seines Sohnes, des Kronprinzen von Preußen, über Saint-Menges und Fleigneur marschiert und hatte die Hochebene von Illy in Besitz genommen; die vierte dagegen, die der Kronprinz von Sachsen befehligte, kam ihrerseits über Daigny und Givonne zu dem Treffpunkt, indem sie das Garennegehölz umging. So gaben das elfte und fünfte Korps dem zwölften und der Garde die Hand. Die letzte Anstrengung, den Kreis im Augenblick, wo er sich schloß, zu durchbrechen, der unnütze, aber ruhmreiche Angriff der Division Margueritte, hatte dem König den bewundernden Ausruf entrissen: »Ach, die braven Leute!« Jetzt neigte sich der mathematisch unerbittliche Einhüllungsvorgang seinem Ende zu, die Backen des Schraubstockes hatten sich geschlossen und der König konnte mit einem einzigen Blicke die Riesenmauer von Menschen und Geschützen überblicken, die das besiegte Heer einschloß. Im Norden wurde die Umzingelung enger und enger und drängte die Fliehenden unter dem verdoppelten Feuer ihrer Batterien, deren Linie den Horizont lückenlos abschloß, nach Sedan hinein. Um Mittag hatte das genommene Bazeilles zu brennen aufgehört, traurig und leer stieß es nur noch Rauch und Funkenwirbel aus; und die Bayern, die jetzt Herren von Balan waren, richteten ihre Geschütze auf dreihundert Meter gegen die Stadttore. Die andern auf dem linken Ufer bei Pont-Maugis und Noyers, bei Frénois und Wadelincourt aufgestellten Batterien, die seit zwölf Stunden ununterbrochen feuerten, donnerten lauter und schlössen den undurchdringlichen Kreis von Flammen bis zu den Füßen des Königs hinüber.

Aber König Wilhelm ließ sein Fernglas einen Augenblick ermüdet sinken und fuhr fort, mit bloßem Auge zuzusehen. Die Sonne sank schräg gegen die Wälder hinab, um in einem fleckenlos klaren Himmel unterzugehen. Das ganze weite Feld war von ihrem Licht vergoldet und in so durchsichtiger Klarheit gebadet, daß auch die geringsten Kleinigkeiten mit außergewöhnlicher Deutlichkeit zu erkennen waren. Er konnte in Sedan die Häuser mit ihren kleinen schwarzen Fensterreihen unterscheiden, die Wälle, die Festung mit all ihren verwickelten Verteidigungsanlagen, deren Kanten sich scharf überschnitten. Dann weiter fort lagen die Dörfer mitten in den Feldern so frisch und glänzend da, daß sie wie Spielzeug aussahen, links Donchery am Rande seiner weiten Ebene, rechts Douzy und Carignan, von Wiesen umgeben. Es sah so aus, als könnte man die Bäume im Ardennerwald zählen, dessen grüner Ozean sich gegen die Grenze hin verlor. Die Maas mit ihren langen Windungen erschien in diesem spielenden Lichte ganz wie ein Strom aus reinem Gold. Und die wilde Schlacht mit ihrem blutigen Gemetzel wurde, von hier oben gesehen, im Lichte der scheidenden Sonne zu einem zarten Gemälde: tote Reiter und erschlagene Pferde übersäten die Hochebene von Floing mit lebhaft bunten Flecken; nach rechts hin, nach der Seite der Givonne hinüber, fesselte das Auge das letzte Gedränge des Rückzuges, das wie ein Wirbel kleiner, schwarzer, hin und her laufender und sich überstürzender Punkte aussah; auf der Halbinsel von Iges, links hinüber, erschien dagegen eine bayerische Batterie mit ihren Geschützen, so groß wie Streichhölzer, wie ein hübsches mechanisches Spielzeug, das mit der Genauigkeit eines Uhrwerkes arbeitete. Das war der unerhoffte, zerschmetternde Sieg, und der König empfand durchaus keine Gewissensbisse angesichts all dieser winzigen Leichen, dieser Tausende von Menschen, die weniger Platz einnahmen als der Staub auf der Straße, angesichts dieses weiten Tales, in dem die Feuersbrünste von Bazeilles, das Gemetzel von Illy, die Ängste Sedans die Schönheit der Natur an diesem heiteren Abend eines schönen Tages doch nicht unterdrücken konnten.

Aber mit einemmal sah Delaherche einen französischen General die Abhänge der Marfée hinaufklimmen, der, mit einer blauen Tunika bekleidet, ein schwarzes Pferd ritt und dem ein Husar mit einer weißen Fahne voranritt. Es war der General Reille, der vom Kaiser mit der Überreichung folgenden Briefes beauftragt worden war: »Mein Herr Bruder, da es mir nicht vergönnt war, inmitten meiner Truppen zu sterben, bleibt mir nichts übrig, als meinen Degen in die Hände Eurer Majestät zu übergeben. Ich bin Eurer Majestät freundwilliger Bruder, Napoleon.« In seiner Hast, dem Morden Einhalt zu tun, übergab sich der Kaiser, da er nicht mehr Herr war, in der Hoffnung, den Sieger dadurch zu erweichen. Und Delaherche sah den General Reille zehn Schritte vor dem König anhalten und vom Pferde steigen und dann unbewaffnet, nur eine Reitpeitsche in den Händen, vortreten, um den Brief zu übergeben. Die Sonne ging in einem mächtigen rosigen Leuchten zur Neige, der König setzte sich auf einen Stuhl, er lehnte sich gegen einen andern, auf dem ein Sekretär saß, und antwortete: er nehme den Degen an und erwarte einen Offizier, mit dem über die Übergabe verhandelt werden könne.


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