Emile Zola
Ein Blatt Liebe
Emile Zola

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20

Zwei Jahre waren vergangen. An einem Dezembermorgen ruhte der kleine Friedhof von Passy in großer Kälte. Seit gestern fegte der Nordwind feinen Schnee über die Gräber. Vom verblassenden Himmel rieselten jetzt spärliche Flocken mit der Leichtigkeit weißer Federn. Der Schnee verhärtete sich bereits, und ein hoher Schwanenpelz säumte die Brustwehr der Terrasse. Jenseits der weißen verschwommenen Horizontlinie dehnte sich Paris.

Auf den Knien liegend, betete Frau Rambaud vor Jeannes Grab. Ihr Gatte hatte sich still erhoben. Im November hatten sie in Marseille geheiratet. Herr Rambaud hatte sein Haus in den Hallen verkauft, und weilte seit drei Tagen in Paris, um die Angelegenheit zum Abschluß zu bringen. In der Rue des Réservoirs wartete der Wagen, der beim Hotel vorfahren sollte, um das Gepäck zur Bahn zu schaffen. Helene hatte die Reise einzig in dem Gedanken mitgemacht, an Jeannes Grab zu weilen.

Noch immer kniete sie reglos mit gesenktem Kopf auf der naßkalten Erde.

Der Wind hatte nachgelassen. Herr Rambaud war feinfühlig auf die Terrasse hinausgetreten. Aus den Fernen von Paris stieg ein Nebel auf, dessen ungeheure Größe in der bleichen Leere dieser Wolke versank. Zwei Tränen glitten von den Lidern der Knienden. Der Friedhof breitete die Weiße eines Grabtuches um sie, eines Grabtuches, das von verrosteten Gittern und eisernen Kreuzen gleich trauernden Armen zerrissen war. Die Schritte des Paares hatten einen Pfad in diese einsame Stätte gegraben. Es war eine makellose Einsamkeit, in der die Toten schlummerten. Zuweilen fiel ein Schneeklumpen von einem Grabkreuze, dann rührte sich nichts mehr. Am andern Ende des Friedhofs war ein schwarzer Zug vorübergestampft. Hier bettete man einen Toten unter dieses weiße ungeheure Laken aus Schnee.

Herr Rambaud hatte sich wieder dem Grabe genähert, und Helene stand auf, ihm entgegenzugehen. Sein freundliches Gesicht zeigte Unruhe.

»Helene, laß die Toten ruhen!« sagte er leise.

Er wußte, was sie gelitten hatte. Und mit diesem einen Worte hatte er alles gesagt. Frau Rambauds Gesicht war von der Kälte frisch gerötet, und ihre Augen leuchteten hell.

»Ich weiß nicht, ob ich den großen Koffer gut verschlossen habe,« sagte sie lächelnd, und Herr Rambaud versprach, sich hierüber Gewißheit zu verschaffen. Der Zug ginge ja erst mittags, und man habe genügend Zeit. Die Straßen wurden gefegt, und so würde der Wagen keine Stunde brauchen. Plötzlich wurde seine Stimme eifrig:

»Ich glaube gar, du hast die Angelruten vergessen!«

»Wahrhaftig!« rief Helene verdutzt. »Wir hätten sie lieber doch schon gestern kaufen sollen ...«

Diese Angelruten waren sehr praktische Stecken, wie man sie in Marseille nicht kaufen konnte. Rambauds hatten unfern dem Meere ein kleines Landhaus, wo sie den Sommer zu verbringen pflegten. Herr Rambaud zog seine Uhr. Wenn man sich zu Fuß auf den Weg machte, würde man die Angelruten noch rechtzeitig einkaufen können, die sich mit dem Regenschirm zusammenbinden ließen. So stapften sie durch den Schnee zwischen den Gräberreihen davon.

Der Friedhof war leer. Bloß ihre eiligen Schritte kreuzten die Schneefläche.

Wieder blieb Jeanne allein im Angesicht von Paris, – für immer!


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