Emile Zola
Ein Blatt Liebe
Emile Zola

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9

An einem Maimorgen war's, als Rosalie aus ihrer Küche gerannt kam, ohne den Feuerspan, den sie in der Hand hielt, fortzulegen. Mit der Vertraulichkeit des verwöhnten Dienstboten rief sie:

»Oh! Madame! kommen Sie geschwind ... Der Herr Abbé ist unten im Garten des Doktors und gräbt Erde um ...«

Helene rührte sich nicht. Aber Jeanne war schon ans Fenster gesprungen.

»Ist die Rosalie dumm! Er gräbt gar nicht die Erde um. Er steht beim Gärtner, der Pflanzen in einen kleinen Wagen hebt. Frau Deberle pflückt alle ihre Rosen ab.«

»Das mag für die Kirche sein,« sagte Helene ruhig, emsig mit einer Stickerei beschäftigt.

Ein paar Minuten später klingelte es plötzlich, und der Abbé Jouve erschien. Er sagte an, daß man am kommenden Dienstag nicht auf ihn rechnen dürfe. Seine Abende wären durch die Feierlichkeiten des Marienmonats besetzt. Der Pfarrer hatte es übernommen, die Kirche zu schmücken. Es würde prächtig werden. Alle Damen stifteten Blumen. Er erwartete zwei Palmen von drei Meter Höhe, um sie rechts und links vom Altar aufzustellen.

»Oh! Mama! Mama!« flüsterte Jeanne begeistert.

»Nun denn, lieber Freund!« lächelte Helene, »da Sie nicht kommen können, werden wir Sie besuchen. Sie haben Jeanne mit Ihren Blumen das Köpfchen verdreht.«

Helene war nicht eben fromm, wohnte auch niemals der Messe bei. Die Gesundheit ihres Töchterchens lasse es nicht zu, denn Jeanne käme immer zitternd und bebend aus der Kirche. Der alte Priester vermied es, mit ihr über Religion zu sprechen. Er pflegte nur mit leutseliger Toleranz zu erklären, daß sich die schönen Seelen ihr Heil durch ihre Weisheit und ihre Barmherzigkeit allein schaffen. Gott würde sie schon eines Tages zu finden wissen.

Bis zum andern Morgen dachte Jeanne an nichts anderes als an den Marienmonat. Sie fragte ihre Mutter aus und träumte von der mit weißen Rosen, mit Tausenden von Kerzen, mit himmlischen Stimmen und lieblichen Düften erfüllten Kirche. Und sie wollte neben dem Altare stehen, das Spitzengewand der heiligen Jungfrau besser zu sehen. Dies Gewand sei ein Vermögen wert, hatte der Abbé gesagt. Helene beruhigte das Kind und drohte, sie nicht mitzunehmen, wenn sie sich im voraus krank mache.

Endlich gingen sie nach dem Abendessen fort. Die Nächte waren noch kühl. Als sie in die Rue de l'Annonciation kamen, wo sich die Notre-Dame-de-Grâce befindet, fröstelte das Kind.

»Die Kirche ist geheizt,« sagte die Mutter; »wir werden uns neben ein Heizrohr setzen.«

Als sie die gepolsterte Tür aufgestoßen hatte, die sanft in ihr Schloß zurückfiel, empfingen sie angenehme Wärme, helles Licht und Gesang. Die Liturgie hatte begonnen. Als sie das Mittelschiff schon besetzt sahen, wollte Helene an einer der Seitenwände entlang gehen. Aber sie konnte dem Altare kaum näher kommen. Sie hielt Jeanne an der Hand und schob sich geduldig vorwärts. Dann aber, als sie erkannte, daß sie nicht bis nach vorn würde vordringen können, setzten sie sich schließlich auf die ersten besten freien Stühle. Eine Säule verstellte ihnen den Blick auf den Chor.

»Ich sehe nichts, Mama,« flüsterte die Kleine bekümmert. »Wir haben einen schlechten Platz.«

Helene hieß sie still sein. Das Kind begann zu quengeln. Sie sah vor sich nichts als den breiten Rücken einer alten Dame. Als Helene sich umwandte, hatte sich Jeanne auf ihren Stuhl gestellt.

»Willst du wohl da herunter!« sagte sie leise. »Du bist unausstehlich.«

Aber Jeanne setzte ihren Kopf auf.

»Höre doch, da ist Frau Deberle. Sie sitzt dort unten in der Mitte. Sie macht uns Zeichen.«

Verdrießlich schüttelte Helene die Kleine, die sich nicht setzen wollte. Seit dem Balle hatte sie drei Tage unter tausenderlei Vorwänden das Doktorhaus gemieden.

»Mama!« fing Jeanne mit der Hartnäckigkeit des Kindes wieder an, »sie sieht dich, sie wünscht dir guten Tag.«

Da mußte Helene endlich grüßen. Die beiden Frauen nickten einander zu. Frau Deberle in engstreifigem, mit weißen Spitzen besetztem Seidenkleide saß in der Mitte des Kirchenschiffs, zwei Schritte vom Chor, sehr frisch, sehr blendend. Sie hatte ihre Schwester Pauline mitgenommen, die lebhaft winkte. Die Liturgie nahm ihren Fortgang.

»Sie wollen, daß du kommen sollst, du siehst es doch,« fuhr Jeanne triumphierend fort.

»Wir sitzen hier ganz gut ...«

»O Mama! wir wollen hingehen – sie haben zwei Stühle frei.«

»Nein, steige herunter – setz dich!«

Die Damen drüben kümmerten sich nicht im mindesten um die Störung, die sie verursachten. Es schien ihnen vielmehr zu gefallen, daß die Leute sich nach ihnen umdrehten. Endlich mußte sich Helene fügen. Sie schob Jeanne, die sich mächtig freute, vor sich her und versuchte, sich mit vor verhaltenem Ärger zitternden Händen Durchgang zu schaffen. Die Andächtigen wieder wollten sich nicht stören lassen und maßen sie mit wütenden Blicken und offenen Mundes, ohne ihren Gesang zu unterbrechen. Helene arbeitete mitten im Sturm der anschwellenden Stimmen. Wenn Jeanne nicht vorbeikommen konnte, sah sie in all die leeren und schwarzen Münder und preßte sich dicht an die Mutter. Endlich erreichten sie den vor dem Chore freigelassenen Raum.

»Kommen Sie doch!« flüsterte Frau Deberle. »Der Abbé hatte mir gesagt, Sie würden kommen ... ich habe Ihnen zwei Stühle frei gehalten.«

Helene dankte nur kurz und blätterte sogleich in ihrem Gebetbüchlein. Juliette bewahrte durchaus weltlich ihre Anmut. Sie saß hier, reizend und schwatzhaft wie in ihrem Salon. Sie beugte sich behaglich vor und plauderte weiter:

»Man sieht Sie ja gar nicht mehr. Ich wäre längst zu Ihnen heraufgekommen ... Sie sind doch wenigstens nicht krank gewesen?«

»Nein, danke ... Hatte allerlei zu tun ...«

»Hören Sie! morgen müssen Sie unser Tischgast sein ... Wir sind ganz unter uns ...«

»Sie sind zu gütig – wir werden sehen.«

Damit schien sich Helene dem Gebet zu widmen und dem Gesange zu folgen, entschlossen, keine Antwort mehr zu geben. Pauline hatte Jeanne neben sich gezogen, um ihr Anteil am Heizrohr abzutreten, auf dem sie behaglich schmorte. In der flimmernden Luft, die der Röhre entstieg, reckten beide neugierig die Köpfe.

»Hm! ist's dir warm?« fragte Pauline. »Ist doch wirklich hübsch hier, gelt?«

Jeanne betrachtete verzückt die heilige Jungfrau inmitten des Blumenmeers. Ein Schauer überrieselte sie. Sie fürchtete, nicht mehr artig zu sein, senkte die Augen und versuchte dem Schwarz-Weiß-Muster der Fliesen Interesse abzugewinnen, um nicht aufzuweinen.

Helene wandte sich mit auf ihr Gebetbuch gesenktem Gesicht stets zur Seite, sobald Juliette sie mit ihren Spitzen streifte. Sie war auf dieses Zusammentreffen ganz und gar nicht vorbereitet.

Trotz des Gelübdes, Henri nur Liebe zu widmen, ohne ihm jemals anzugehören, empfand Helene Unbehagen. Verriet sie nicht diese Frau, die so vertrauensvoll und vergnügt an ihrer Seite saß?

Nein, zu diesem Mittagessen im engsten Kreise würde sie nicht gehen! Sie suchte nach Mitteln und Wegen, wie sie allmählich diesen Verkehr abbrechen könnte, der ihr Gefühl für Sauberkeit verletzte. Aber die wenige Schritte von ihr jubelnden Stimmen der Chorknaben ließen sie nicht zum Nachdenken kommen. Sie überließ sich dem einschläfernden Gesang und genoß ein frommes Wohlbehagen, welches sie bisher niemals in einer Kirche empfunden hatte.

Ein Priester hatte die Kanzel bestiegen. Ein Beben durchflog den heiligen Raum. Dann sprach er ... Nein! Helene nahm sich vor, nicht zum Essen zu gehen ...

Die Augen auf den Priester gerichtet, malte sie sich eine solche erste Zusammenkunft mit Henri aus, die sie seit drei Tagen fürchtete. Sie sah ihn zornesbleich, wie er ihr Vorwürfe machte, daß sie sich in ihre vier Wände eingekapselt hielte. Würde sie ihm gegenüber auch standhaft bleiben?

Über ihrer Träumerei war der Priester verschwunden. Sie erhaschte nur noch Sätze einer durchdringenden Stimme von oben:

»Es war ein unbeschreiblicher Augenblick ... der, in welchem die Jungfrau, den Kopf neigend, antwortete: Ich bin eine Magd des Herrn ...«

Oh! sie wollte tapfer sein. Die ruhige Überlegung war ihr zurückgekehrt. Sie würde die Freude genießen, geliebt zu werden; würde ihre Liebe niemals bekennen. Das sollte ihr Preis für den Frieden sein.

Und wie innig sie lieben würde! An einem einzigen Worte Henris, an einem aus der Ferne getauschten Blicke wollte sie sich genügen lassen. Es war ein Traum, der sie mit Gedanken an die Ewigkeit füllte! Der Kirchenraum schien ihr freundschaftlich und mild.

Der Priester predigte:

»Der Engel verschwand. Maria versenkte sich in die Betrachtung des göttlichen Geheimnisses, das sich in ihr vollzog, umwallt von Licht und Liebe ...«

»Er spricht sehr gut,« flüsterte Frau Deberle. »Und ist noch ganz jung, kaum dreißig ...«

Frau Deberle war gerührt. Die Religion war ihr ein angenehmer Kitzel guten Geschmacks. Den Kirchen Blumen stiften, kleine Geschäftchen mit den Priestern, diesen höflichen, verschwiegenen und parfümduftenden Leuten, führen; geputzt in der Kirche sitzen – all das verschaffte ihr besondere Freude. Ihr Mann ging nicht in die Kirche, und so hatten ihre frommen Übungen obendrein den Geschmack der verbotenen Frucht.

Helene antwortete ihr mit einem Nicken. Beider Antlitz strahlte beglückt. Ein polterndes Rücken von Stühlen wurde laut. Der Priester verließ die Kanzel, nachdem er den Hörern die Mahnung mitgegeben hatte:

»Oh! mehret eure Liebe, ihr frommen christlichen Seelen – Gott hat sich euch geschenkt, euer Herz ist voll seiner Gegenwart, eure Seele fließt über von seiner Huld!«

Die Orgel setzte ein. Die Litanei der Jungfrau mit ihren Anrufen heißer Zärtlichkeit nahm ihren Fortgang. Ein Hauch strich über die Gläubigen hin und verlängerte die steilen Flammen der Kerzen, während in ihrem großen Rosenstrauß, inmitten der dahinwelkenden, letzten Duft verströmenden Blumen die göttliche Mutter den Kopf zu neigen schien, um ihrem Jesus zuzulächeln.

Helene wandte sich, von einer plötzlichen Unruhe ergriffen, um:

»Du bist doch nicht krank, Jeanne?«

Das Kind war leichenblaß, seine Augen waren verschwommen. Jeanne schien im Liebesstrom der Litanei dahinzutreiben und betrachtete verzückt den Altar, sah die Rosen sich vervielfältigen und als Regen herniederfallen.

»O nein! o nein! Mama! ich versichere dich, ich bin zufrieden, sehr zufrieden,« flüsterte sie. »Wo ist denn dein Freund?«

Sie meinte den Abbé. Pauline bemerkte ihn; er stand in der Chornische. Sie mußte Jeanne in die Höhe heben.

»Ah! ich sehe ihn, er sieht uns auch.«

Helene wechselte mit ihm ein freundschaftliches Nicken. Es war für sie wie eine Gewißheit des Friedens, und in duldsamer Glückseligkeit dämmerte sie dahin. Weihrauchgefäße wurden vor dem Altare geschwenkt, leichter Rauch stieg auf, und die Segnung der tief sich neigenden Gläubigen beendete die Andacht. Helene blieb in einer glücklichen Betäubung auf den Knien, als sie Frau Deberle sagen hörte:

»Es ist vorbei, laß uns gehen.«

Stühle wurden geschoben, ein Geräusch der scharrenden Füße widerhallte am Gewölbe. Pauline hatte Jeannes Hand genommen. Mit dem Kinde vorausgehend, fragte sie die Kleine aus.

»Du bist noch nie im Theater gewesen?«

»Nein! Ist's dort schön?«

Jeanne, deren Herz von schweren Seufzern bedrückt war, schüttelte den Kopf. Es könnte nichts Schöneres geben. Aber Pauline gab keine Antwort; sie hatte sich vor einen Priester gestellt, der im Chorrock vorbeiging, und als er wenige Schritte vorüber war, sagte sie laut, so daß zwei Büßerinnen sich umwandten:

»Oh! ein schöner Kopf!«

Helene schritt unterdessen an der Seite Juliettes durch die sich nur langsam zerteilende Menge. Voller Zärtlichkeit, müde und kraftlos, empfand sie es nicht mehr als unangenehm, so dicht neben der Frau Henris zu gehen. Einen Augenblick streiften sich ihre bloßen Handgelenke, und sie lachte.

»Es ist also abgemacht, nicht wahr?« fragte Frau Deberle, »morgen abend dürfen wir auf Sie rechnen?«

Helene fand nicht die Kraft nein zu sagen. Auf der Straße würde man weiter sehen. Endlich traten sie als die letzten aus der Kirche. Pauline und Jeanne warteten schon auf dem Bürgersteig gegenüber. Eine weinerliche Stimme hielt sie auf.

»Ach, meine liebe gute Dame! wie lange ist's doch her, daß ich nicht das Glück gehabt habe, Sie zu sehen.«

Mutter Fetu bettelte an der Kirchentür. Sie vertrat Helene den Weg, als ob sie ihr aufgepaßt hätte.

»Ach! ich bin sehr krank gewesen ... noch immer da im Bauche ... Sie wissen ja ... Jetzt ist's ganz so wie Hammerschläge ... Und nichts, nichts, meine liebe Dame ... Ich habe mich nicht getraut, es Ihnen sagen zu lassen ... Möge der liebe Gott es Ihnen vergelten!«

Helene hatte ihr ein Geldstück in die Hand gedrückt und versprach, an sie zu denken.

»Ei!« sagte Frau Deberle stehenbleibend, »da spricht ja jemand mit Pauline und Jeanne ... Aber das ist ja Henri!«

»Ja, ja,« antwortete die Mutter Fetu, die mit zusammengekniffenen Augen auf die beiden Damen sah, »es ist der gute Doktor! Ich habe ihn während des ganzen Gottesdienstes gesehen, er ist nicht vom Trottoir gewichen. Er hat gewiß auf Sie gewartet ... Oh! das ist ein heiliger Mann! Ich sage das, weil es die Wahrheit vor Gott ist, der uns hört ... Oh! ich kenne Sie, gnädige Frau, Sie haben einen Gatten, der verdient glücklich zu sein ... Möge der Himmel Ihre Wünsche erhören! Mögen all seine Segnungen über Sie kommen! Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!«

Und unter den tausend Furchen ihres Gesichtes, das verschrumpelt war wie ein alter Apfel, wanderten ihre Rattenaugen unruhig und boshaft zwischen Juliette und Helene hin und her, ohne daß man wissen konnte, an wen sie sich eigentlich wandte, wenn sie von dem »heiligen Mann« sprach.

Helene war durch Henris Zurückhaltung überrascht und gerührt. Er wagte es kaum, sie anzusehen. Nachdem ihn seine Frau wegen seiner religiösen Anschauungen, die ihn hinderten, in eine Kirche zu gehen, geneckt hatte, äußerte er einfach, er sei, eine Zigarre rauchend, gekommen, die Damen abzuholen. Helene wußte, daß er sie hatte sehen wollen, um ihr zu zeigen, daß er noch ganz der Alte sei. Ohne Zweifel hatte auch er sich gelobt, vernünftig zu sein. Sie prüfte nicht, ob er ernst gegen sich selbst sein könnte. Als sie in der Rue Vineuse das Ehepaar Deberle verließ, entschloß sich Helene fröhlich:

»Also! abgemacht; morgen abend um sieben.«

Und so knüpften sich die Beziehungen enger und enger. Ein reizendes Leben nahm seinen Anfang. Helene war es, als ob Henri sich nie vergessen hätte. Sie hatte es wohl nur geträumt. Sie liebten sich, aber sie würden es sich nicht mehr sagen, sie würden sich genügen lassen, es zu wissen.

Abend für Abend gingen jetzt die beiden Frauen zur Kirche. Frau Deberle war über die neue Zerstreuung entzückt, die in die Ball-, Konzert- und Theaterabende ein wenig Abwechslung brachte. Neue Zerstreuungen schätzte Frau Deberle außerordentlich; man sah sie jetzt nur noch mit frommen Schwestern und Priestern. Und Helene, ohne jede fromme Erziehung aufgewachsen, überließ sich dem Reiz der Andachten des Marienmonats, glücklich über die Freude, die auch Jeanne darüber zu empfinden schien. Man aß früher zu Tisch, brachte Rosalie aus aller Ordnung, um nicht zu spät zu kommen und einen schlechten Platz zu finden. Im Vorbeigehen holte man Juliette ab. Eines Tages war Lucien mit in der Kirche. Er hatte sich aber so schlecht aufgeführt, daß er künftig zu Hause bleiben mußte. Beim Eintritt in die warme, von Kerzen funkelnde Kirche hatte man die Empfindung weicher Gelöstheit, die Helene allmählich nicht mehr missen mochte. Wenn sie tagsüber Zweifel hatte, wenn sie beim Gedanken an Henri eine unbestimmte Angst befiel – die Kirche schläferte sie abends wieder ein. Der Gesang schwoll an mit dem Überschäumen göttlicher Passion. Die frischgeschnittenen Blumen verdickten mit ihrem Dufte die heiße Luft unter dem Gewölbe. Hier atmete sie die erste Trunkenheit des Frühlings, die Verehrung des bis zur Vergöttlichung erhöhten Weibes, und berauschte sich angesichts der mit weißen Rosen gekrönten Jungfrau und Mutter Maria an diesem Mysterium der Liebe und Reinheit. Mit jedem Tage blieb sie länger auf den Knien. Und wenn die Feier vorüber war, folgte die Süßigkeit des Heimweges. Henri wartete an der Tür, die Abende wurden milder. Man ging durch die schwarzen, schweigenden Straßen von Passy, während man nur selten ein Wort wechselte.

»Sie werden ja fromm, meine Liebe,« sagte Frau Deberle eines Abends lachend.

Wirklich. Helene ließ die Frömmigkeit in ihr weit geöffnetes Herz einziehen. Niemals hätte sie geglaubt, daß es so herrlich wäre, zu lieben und geliebt zu werden. Sie ging dorthin, wie an eine Stätte der Zärtlichkeit, wo es erlaubt war, die Augen feucht zu haben und versunken in stumme Anbetung zu verweilen. Sie hatte das Bedürfnis, zu glauben, und war verzückt in der göttlichen Barmherzigkeit.

Juliette neckte nicht bloß Helene, sie behauptete, daß auch Henri es plötzlich mit dem Frommsein habe. Käme er doch jetzt sogar in die Kirche, um auf sie zu warten! Er, ein Atheist, welcher erklärte, die Seele an der Spitze seines Seziermessers gesucht und nicht gefunden zu haben! Sobald sie ihn hinter der Kanzel, an die Rückseite einer Säule gelehnt, gewahrte, stieß Juliette Helene am Ellbogen.

»Sehen Sie doch, da ist er schon ... Sie wissen doch, daß er nicht einmal hat beichten wollen, hervor wir zum Altar traten. Er hat ein unbezahlbares Gesicht, er sieht uns so urdrollig an. Schauen Sie doch nur!«

Die Feier ging dem Ende zu, der Weihrauch dampfte, und die Orgel sandte ihre lieblichsten Klänge durchs Kirchenschiff.

»Ja, ja, ich sehe ihn,« stotterte Helene, ohne die Augen hinzuwenden.

Sie hatte ihn beim brausenden Hosianna erraten. Henris Atem schien ihr auf den Flügeln des Gesanges bis zu ihrem Nacken zu dringen. Sie glaubte, hinter sich seine Blicke zu fühlen, die den Kirchenraum erhellten und sie mit goldenen Strahlen umhüllten. Da betete sie mit einer so starken Inbrunst, daß ihr die Worte mangelten. Der Doktor aber wahrte die ernste, strenge Würde eines Ehemanns, der zwei Damen beim lieben Gott abholte, gerade so, als wenn er sie im Theaterfoyer erwartete.

Nach vierzehn Tagen war Frau Deberle der Sache überdrüssig. Jetzt widmete sie sich den Wohltätigkeitsbasars. Sie stieg an die sechzig Treppen, um bei bekannten Malern Bilder zu betteln, und abends mit der Klingel in der Hand wohltätigen Damen zu präsidieren. So traf es sich, daß Helene und ihr Töchterchen sich eines Abends allein in der Kirche fanden. Als nach der Predigt die Sänger das Magnifikat anstimmten, wandte die junge Frau, durch ein Klopfen ihres Herzens gemahnt, den Kopf. Henri war an seinem gewohnten Platze. Da blieb sie in der Erwartung der Heimkehr bis zum Ende der Feierlichkeit auf den Knien.

»Ach! ist das reizend, daß Sie gekommen sind!« rief Jeanne am Ausgange mit kindlicher Vertrautheit. »Ich würde mich in diesen dunklen Straßen gefürchtet haben.«

Henri spielte den Überraschten. Er gab vor, seine Frau hier treffen zu wollen. Helene ließ die Kleine antworten; sie folgte den beiden ohne zu sprechen. Als sie unter das Kirchportal traten, klagte eine Stimme:

»Ein Almosen, Gott wird's Ihnen lohnen.«

Allabendlich ließ Jeanne ein Zehnsoustück in die Hand der Mutter Fetu gleiten. Als die Alte heute den Doktor mit Helene allein sah, schüttelte sie bloß verständnisinnig den Kopf, anstatt wie gewöhnlich geräuschvolle Dankesworte zu leiern. Als die Kirche sich geleert hätte, schickte sie sich mit ihren schweren Beinen an, ihnen, dumpfe Worte murmelnd, zu folgen. Anstatt durch die Rue de Passy zurückzukehren, wählten die Damen, wenn die Nacht schön war, wohl auch den Weg durch die Rue Raynouard, um so den Weg um ein paar Minuten zu verlängern. An diesem Abend nahm Helene die Rue Raynouard. Begierig nach Schatten und Schweigen, folgte sie dem Reiz dieser langen, einsamen Straße, die in weiten Abständen von einer Gasflamme erleuchtet war, ohne daß sich der Schatten eines Wanderers auf dem Pflaster bewegte.

In diesem abgelegenen Winkel schlief Passy bereits mit dem geruhsamen Atem einer Provinzstadt. Zu beiden Seiten des Bürgersteigs zogen sich Häuser hin; Mädchenpensionate, schwarz und düster, Gast- und Speisehäuser, aus deren Küchen noch Licht drang. Diese Einsamkeit war für Helene und Henri eine große Freude. Er hatte sich nicht einmal getraut, ihr den Arm anzubieten. Jeanne ging zwischen ihnen mitten auf der wie eine Allee mit Kies beschütteten Straße. Die Häuser hörten auf, Mauern dehnten sich, von denen Mäntel wilder Reben und blühende Holunderbüsche herabhingen.

Der Schritt der Mutter Fetu hinter ihnen schien das Echo der ihrigen zu sein. Sie kam näher; man hörte das unaufhörliche Murmeln des Ave Maria, gratia plena. Mutter Fetu betete auf dem Nachhauseweg ihren Rosenkranz.

»Ich habe noch ein Geldstück; darf ich's ihr geben?« fragte Jeanne.

Und ohne die Erlaubnis abzuwarten, entschlüpfte sie und lief der alten Frau nach, die eben in die Passage des Eaux einbiegen wollte. Die Fetu nahm das Geld, alle Heiligen des Himmels herabflehend. Aber dann, sie hatte schon die Hand des Kindes erfaßt, fragte sie mit veränderter Stimme:

»Ist denn die andere Dame krank?«

»Nein!« antwortete Jeanne verwundert.

»Ach! möge der Himmel sie bewahren! Möge er sie überschütten mit Segnungen, sie und ihren Mann! ... Nicht so eilig, mein liebes, kleines Fräulein. Lassen Sie mich ein Ave für Ihre Mama beten und antworten Sie mit Amen ... Mama erlaubt es Ihnen ... Sie werden sie schnell einholen!«

Helene und Henri waren indes, zitternd, sich so plötzlich allein zu finden, im Schatten einer Kastanienreihe stehengeblieben. Sie taten langsam ein paar Schritte; die Kastanien hatten einen Regen ihrer kleinen Blüten abgeschüttelt, und auf diesem rosigen Teppich schritt das Paar dahin. Dann blieben sie stehen; ihr Herz war zu voll.

»Verzeihen Sie mir!« sagte Henri schlicht.

»Ja, ja,« stammelte Helene. »Ich bitte Sie bloß, schweigen Sie!«

Sie hatte seine Hand gefühlt, die die ihrige streifte, und wich zurück. Jetzt kam Jeanne herbeigelaufen.

»Mama, Mama! sie hat mich ein Ave beten lassen, auf daß dir Glück und Segen blühe!«

Alle drei bogen in die Rue Vineuse, während Mutter Fetu die Treppe der Passage des Eaux hinunterstieg und ihren Rosenkranz zu Ende betete.

Der Monat verging. Frau Deberle kam noch ein paarmal zu den Exerzitien. An einem Sonntage, dem letzten, wagte Henri noch einmal auf Helene und Jeanne zu warten. Die Heimkehr war köstlich. Dieser Mai war in ungewöhnlicher Süße dahingegangen. Die kleine Kirche schien eigens dazu gebaut, Leidenschaften zu sänftigen. Helene hatte sich zuerst beruhigt, glücklich über diesen Zufluchtsort des Glaubens, wo sie ohne Scham leben konnte. Henri blieb zurückhaltend, aber sie sah gar wohl die Flamme und fürchtete irgendeinen Ausbruch der wahnwitzigen Begierde. Von heftigen Fieberanfällen geschüttelt, machte sie sich selber Furcht. Als sie eines Nachmittags vom Spaziergang mit Jeanne heimkehrte, bog sie in die Rue de l'Annonciation und trat in die Kirche. Jeanne klagte über große Müdigkeit.

Bis zum letzten Tage hatte es das Kind nicht wahrhaben wollen, daß die abendliche Feier sie angriffe. Aber ihre Wangen hatten eine wachsbleiche Farbe angenommen, und der Doktor gab den Rat, das Kind weite Spaziergänge machen zu lassen.

»Setze dich dahin,« sagte die Mutter. »Du sollst dich ausruhen. Wir wollen nur zehn Minuten bleiben.«

Helene hatte Jeanne neben eine Säule gesetzt. Sie selbst kniete ein paar Stühle entfernt nieder. Arbeiter nahmen im Kirchenschiff die Vorhänge ab und entfernten die Blumentöpfe. Der Rausch des Marienmonats war zu Ende.

Helene, das Gesicht in die Hände vergraben, sah und hörte nichts. Sie fragte sich angsterfüllt, ob sie die schreckliche Krise, welche sie durchlebte, dem Abbé Jouve beichten solle. Er allein würde ihr raten, würde ihr die verlorene Ruhe wiedergeben. Aber im Grunde ihres Herzens entstieg ihrer Seelenangst überschäumende Freude. Sie hätschelte ihr Weh und zitterte davor, daß der Priester ihr vielleicht keine Heilung schaffen möchte.

Die zehn Minuten verstrichen, eine Stunde verging. Helene versank im Kampf ihres Herzens.

Und als sie endlich mit in Tränen schwimmenden Augen den Kopf hob, erblickte sie neben sich den Abbé Jouve, der sie mit bekümmerter Miene betrachtete.

»Was fehlt Ihnen, mein Kind?« fragte er Helene, die sich rasch aufrichtete und die Tränen wischte.

Sie fand nicht gleich eine Antwort; fürchtete, wieder schluchzend in die Knie zu sinken. Der Priester trat näher.

»Ich mag nicht in Sie dringen. Warum vertrauen Sie sich nicht dem Priester, nicht mehr dem Freunde an?«

»Später ... später ... ich verspreche es Ihnen,« stammelte Helene.

Unterdes hatte Jeanne artig gewartet und sich die Zeit mit der Betrachtung der Glasfenster, der Heiligenstatuen am Haupteingang, und Kreuzstationen, den Szenen aus dem Kreuzigungswege vertrieben, die in kleinen Reliefs an den Seitenschiffen angebracht waren. Allmählich hatte sich die Kühle der Kirche auf das Kind wie ein Schweißtuch gelegt. Müdigkeit, die sie am Denken hinderte, überkam Jeanne in der frommen Stille der Kapellen. Der Widerhall der geringsten Geräusche an dieser heiligen Stätte, wo sie ans Sterben denken mußte, schuf ihr Mißbehagen. Ihr hauptsächlicher Kummer war, daß die Blumen entfernt Wurden. Die großen Rosensträucher verschwanden, der Altar wurde kahl und kalt. Dieser Marmor ohne Kerze und Weihrauchwolke ließ sie frösteln. Einen Augenblick lang schwankte die spitzenbekleidete Jungfrau, dann sank sie rücklings in die Arme der beiden Arbeiter. Da schrie Jeanne auf. Ihre Arme breiteten sich aus und wurden steif, der Anfall, schon seit Tagen im Anzuge, war da.

Und als Helene, außer sich, mit Hilfe des untröstlichen Priesters, sie in einer Droschke fortschaffen konnte, wandte sie sich mit ausgestreckten, bebenden Händen dem Portale zu.

»Diese Kirche ist schuld! Die Kirche ist schuld!« rief sie mit einer Heftigkeit, aus der doch Bedauern und Bitterkeit über den frommen Zärtlichkeitsmonat herausklang, der ihr dort zuteil geworden war.


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