Emile Zola
Ein Blatt Liebe
Emile Zola

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11

Die Genesung zog sich durch Monate hin. Noch im August hütete Jeanne das Bett. Gegen Abend durfte sie ein oder zwei Stunden aufstehen. Nur mühsam konnte sie sich bis ans Fenster schleppen, wo sie in einem Lehnstuhl ruhte, das Gesicht der untergehenden Sonne zugekehrt, deren Strahlen Paris in Flammen setzten. Die schwachen Beine verweigerten den Dienst. Man müsse eben warten, bis sie recht viel Suppe äße, scherzte sie wohl mit mattem Lächeln. Man schnitt ihr rohes Fleisch in die Kraftbrühe. Sie aß es tapfer, weil sie gar zu gern in den Garten zum Spielen gegangen wäre.

So verstrichen Wochen und Monate in Eintönigkeit, ohne daß Helene die Tage zählte. Sie ging nicht mehr aus und vergaß über Jeanne Welt und Leben. Keine Nachricht drang von draußen bis zu ihr. Das Kind war gerettet, aber die Unruhe wollte sie nicht loslassen, öfter und öfter sah Helene jenen Schatten wiederkehren, der Jeannes Gesicht mißtrauisch und böse verfinsterte. Warum solcher Wechsel inmitten der Freude? Litt das Kind neue Schmerzen?

»Was du nur hast, mein Liebling! Eben noch lachtest du, und jetzt bist du traurig. Hast du Schmerzen?«

Jeanne wandte heftig den Kopf und vergrub das Gesicht in den Kissen.

»Mir ist nichts. Ich bitte dich, laß mich,« sagte sie unwillig.

Auch der Arzt wußte sich keinen Rat. Stets, wenn er da war, wiederholten sich die Anfälle, und er schob es auf die Nervosität der Kranken. Man dürfe ihr vor allem nicht widersprechen.

Eines Nachmittags schlief Jeanne. Henri, der die Patientin recht munter und wohlauf gefunden hatte, war noch eine Weile geblieben und plauderte mit Helene, die wieder mit der gewohnten Näharbeit am Fenster saß. Seit jener schrecklichen Nacht, in der ihm die Geliebte aus der Fülle ihres Herzens die Leidenschaft bekannt hatte, ließen sie sich an jenem süßen Wissen genügen, daß sie einander in Liebe zugetan waren, unbekümmert um das Morgen, unbesorgt um die Welt.

Neben Jeannes Krankenbett, in diesem noch vom Todeskampfe erschütterten Gemache, schützte sie eine herbe Keuschheit vor dem plötzlichen Überfall ihrer Sinne. Das Atmen des unschuldigen Kindes hielt Helene im seelischen Gleichgewicht, doch je mehr die Kranke gesundete, desto stärker wuchs auch ihre Liebe. An diesem Tage waren sie sehr zärtlich zueinander.

»Ich versichere Sie, daß es nun schnell bergauf gehen wird,« sagte der Doktor. »Keine vierzehn Tage mehr, und unsere Jeanne wird im Garten spielen können ...«

Während Helene eilig die Nadel führte, flüsterte sie:

»Gestern ist sie noch sehr traurig gewesen. Aber heute morgen hat sie gelacht und mir versprochen, besonders artig zu sein.«

Ein langes Stillschweigen folgte. Das Kind schlief noch, und sein Schlummer hüllte es in den tiefen Frieden der Genesung. Wenn sie ruhte, fühlten sich beide erleichtert und einander zugehörig.

»Sie haben unsern Garten lange nicht mehr gesehen, er ist jetzt ein Blumenmeer.«

»Die Margeriten blühen schon, nicht wahr?«

»Ja, das Beet ist ganz herrlich. Die Waldreben sind bis in die Ulmen hinaufgerankt, ein richtiges Blätternest ...«

Wieder stand das Schweigen um sie. Helene legte die Näharbeit beiseite und blickte lächelnd auf. Gemeinsam gingen sie in Gedanken in einer tiefen Schattenallee, in die es Rosen regnete.

Henri sog den leichten Verbenenduft ein, der ihrem Hauskleide entströmte. Die Schlafende rührte sich.

»Sie wacht auf,« sagte Helene, den Kopf hebend.

Henri war zur Seite getreten. Jeanne hatte das Kopfkissen zwischen die Arme genommen und ihnen den Kopf zugewandt. Aber die Augen waren geschlossen, und sie schien wieder einzuschlafen. Langsam und regelmäßig gingen die Atemzüge.

»Sind Sie immer so fleißig?« fragte er und trat wieder neben Helene.

»Ich kann nicht müßig sitzen. Die Arbeit lenkt mich nicht ab. Dann denke ich stundenlang über das gleiche nach ...«

Er schwieg und folgte der Nadel, die mit leisem taktmäßigem Geräusch den Kattun durchstach. Es schien ihm, als ob diese Nadel Teilchen um Teilchen ihrer Seelen verknüpfte. Die Geliebte hätte stundenlang nähen können, er wäre geblieben, nur um der Sprache der Nadel zu lauschen ... Oh, diese köstliche Stille, dieses Schweigen, in dem nur ihre Herzen sprachen. Unendliche Süße, die sie mit Liebe und Ewigkeit erfüllte.

»Sie sind gut, o wie gut Sie sind,« flüsterte Henri, die große Freude ließ ihn kein anderes Wort finden.

Wieder hatte Helene den Kopf gehoben und sah Henris Gesicht neben dem ihren.

»Lassen Sie mich arbeiten,« flüsterte sie. »Ich werde ja sonst niemals fertig.«

Plötzliche Unruhe zwang sie, den Kopf zu wenden. Da lag Jeanne. Mit todblassem Gesicht hatte Jeanne die tiefschwarzen Augen glühend auf sie gerichtet. Noch immer hielt sie das Kissen zwischen die mageren Arme gepreßt.

»Jeanne! Was hast du? Bist du krank? Brauchst du etwas?«

Das Kind gab keine Antwort, rührte sich nicht und schloß nicht einmal die Lider über die weitgeöffneten Augen, aus denen Flammen sprühten. Wieder hatte sich der Schatten auf ihre Stirn gesenkt, die Wangen entfärbten und höhlten sich. Schon krümmten sich ihre Handgelenke, ein neuer Anfall stand bevor. Helene stand rasch auf und bat sie, zu sprechen, aber in starrem Eigensinn warf sie der Mutter nur finstere Blicke zu. Helene errötete und stammelte:

»Doktor, sehen Sie doch! ...«

Der Arzt näherte sich dem Bett und wollte die kleinen Hände fassen, die noch immer das Kopfkissen umkrampft hielten. Bei der ersten Berührung drehte sich Jeanne mit heftigem Ruck zur Wand.

»Laßt mich, ihr! ... Ihr tut mir weh.«

Sie hatte sich unter die Decke vergraben. Vergeblich versuchte man, sie zu beruhigen. Da endlich hob sich die Kleine in den Kissen und rief mit gefalteten Händen flehend:

»Ich bitte euch, laßt mich ... Ihr tut mir weh. Laßt mich!«

Helene nahm betroffen ihren Fensterplatz wieder ein, aber Henri setzte sich nicht wieder neben sie. Endlich hatten sie begriffen: Jeanne war eifersüchtig. Der Doktor ging schweigend auf und nieder und zog sich dann zurück, als er die angstvollen Blicke sah, welche die Mutter auf das Bett warf.

Von diesem Tage an wurde Jeannes Eifersucht schon um ein Wort, um einen Blick wach. Solange sie noch in Gefahr war, hatte ihr das Gefühl gesagt, der beiden Liebe anzunehmen, die so zärtlich um sie besorgt waren und denen sie ihre Rettung zu danken hatte. Jetzt, da sie genas, wollte sie die Liebe der Mutter allein besitzen. Unwillen gegen den Doktor stieg in ihr auf, wuchs und wuchs und wandelte sich in Haß, je kräftiger sie sich fühlte. Der würdige Herr Rambaud war nun wieder der einzige, dem sie vertraute.

Jeanne überhäufte ihn mit übertriebenen Zärtlichkeiten, solange der Doktor im Zimmer war, und ihrer Mutter sandte sie flammende Blicke, nur um zu sehen, ob sie unter der Zuneigung, die sie für einen andern hegte, auch Schmerzen litte.

»Ach! du bist's, lieber Freund,« rief sie, wenn Rambaud eintrat. »Komm, setz dich hier ganz dicht neben mich ... Hast du mir Apfelsinen mitgebracht?«

Jeanne richtete sich auf und durchsuchte lachend seine Taschen, in denen er immer Süßigkeiten stecken hatte. Dann schlang sie die Arme um ihn, und Herr Rambaud strahlte vor Glück, weil ihm sein Liebling nun wieder gut war. Jeanne ließ sich in ihren Launen jetzt immer mehr gehen, nahm die Arznei oder verweigerte sie auch, je nachdem sie dazu Lust hatte. Allein Herr Rambaud konnte mit ihr fertig werden. Helene ging ihm im Vorzimmer entgegen und orientierte ihn rasch. Da schien er plötzlich die Arzneiflasche zu bemerken.

»Ei, sieh da! Du trinkst also Grog?«

Jeanne schmollte.

»Nein, nein! Das ist schlechtes Zeug! Das stinkt ja...«

»Nanu! Das willst du nicht trinken?« fragte Herr Rambaud lustig. »Ich wette, daß das sehr gut schmeckt. Du bist doch nicht böse, wenn ich einmal koste?«

Damit schüttete er sich einen großen Löffel voll und schluckte es, feinschmeckerisch schmatzend, hinunter.

»Oh, famos, famos! ... Du hast dich aber gewaltig geirrt. Komm, koste doch auch einmal, nur ein kleines bißchen!«

Jeanne machte es Spaß, wenn der Freund seine Grimassen schnitt. Sie wehrte sich nicht mehr und wollte von allem trinken, was Herr Rambaud gekostet hatte. Aufmerksam folgte sie seiner Hantierung und wollte die Wirkung der Arznei von seinem Gesicht ablesen. So würgte der Brave vier Wochen lang alle nur mögliche Medizin hinunter. Wenn ihm Helene danken wollte, zuckte er die Achseln...

Trotz ausdrücklicher Bitte Helenes stellte sich eines Abends der Doktor ein. Seit acht Tagen hatten sie, von der Kranken stets eifersüchtig überwacht, kein Wort mehr wechseln können.

Helene weigerte sich, Henri einzulassen. Er aber drängte sie sanft ins Krankenzimmer, wo beide sicher zu sein glaubten. Jeanne schlief fest. Sie setzten sich an ihren großen Fensterplatz, fern von der Lampe in den tiefen Schatten.

So plauderten sie zwei Stunden, ihre Gesichter nähernd, um so leise zu sprechen, daß das große im Schlafe ruhende Zimmer nicht aus seiner Stille geweckt wurde. Zuweilen wandten sie den Kopf, das feine Gesicht der Kranken betrachtend, deren kleine Hände auf der Bettdecke gefaltet lagen. Schließlich vergaßen sie das Kind, und ihre Unterhaltung wurde lauter.

Plötzlich erwachte Helene und machte ihre Hände frei, die unter Henris Küssen brannten ...

»Mama, Mama!« lallte Jeanne, wie von einem Alpdruck beschwert, unruhig bemüht, sich aufzurichten.

»Verstecken Sie sich, bitte verstecken Sie sich um Himmelswillen! Sie töten sie, wenn Sie hier bleiben,« flehte Helene voll Herzensangst.

Henri trat hinter den blauen Samtvorhang in die Fensternische.

Das Kind jammerte:

»Mama, Mama, o wie muß ich leiden!«

»Ich bin ja bei dir, mein Liebling. Wo hast du Schmerzen?«

»Ich weiß nicht ... da tut's weh, siehst du, da brennt's.«

Die Kleine hatte mit verkrampftem Gesicht die Augen groß aufgeschlagen und stemmte die Fäuste gegen die Brust.

»Hier hat's mich irgendwo plötzlich gepackt ... habe ich denn geschlafen? Oh! Ich habe es gefühlt, es war ein heftiges Feuer.«

»Aber das ist nun vorbei. Und jetzt? Fühlst du jetzt nichts mehr?«

»O ja, o ja, noch immer brennt's,« wimmerte die Kleine.

Unruhig ließ sie die Blicke durchs Zimmer wandern. Jetzt schien sie völlig wach, der böse Schatten senkte sich und machte ihre Wangen bleich.

»Du bist allein, Mama?«

»Aber ja doch, mein Liebling!«

Jeanne schüttelte suchend den Kopf und zeigte wachsende Erregung.

»Nein, nein, ich weiß es recht gut ... es ist jemand da ... ich fürchte mich so, Mama, ich fürchte mich! Du bist nicht allein...«

Eine nervöse Krise kündigte sich an. Schluchzend sank das Kind zurück und versteckte sich unter der Decke, als wolle es einer Gefahr entgehen.

Helene wies gänzlich von Sinnen Henri sofort aus dem Zimmer. Er wollte bleiben, als Arzt. Sie drängte ihn hinaus. Dann nahm sie Jeanne wieder in die Arme, die in großen Schmerzen laut jammerte.

»Du liebst mich nicht mehr! Du liebst mich nicht mehr!«

»Schweig doch, mein Engel, wie kannst du nur so reden! Ich hab dich mehr lieb als alles in der Welt. Du wirst schon sehen, ob ich dich liebe!«

Helene blieb bis zum Morgen am Krankenbett, entschlossen, für ihr Kind das Herzblut zu opfern, im Innersten erschrocken, daß ihre eigene Liebe in diesem teuren Wesen so schmerzvollen Widerhall fand. Durchlebte hier nicht die Tochter der Mutter eigene Liebe?

Am nächsten Morgen wünschte sie eine Beratung der Ärzte. Doktor Bodin war zufällig gekommen und hatte die Kranke untersucht. Dann hatte er eine lange Unterredung mit Doktor Deberle, der sich im Nebenzimmer aufhielt. Beide Ärzte waren der Ansicht, daß bei dem gegenwärtigen Zustand keine ernstliche Gefahr vorläge, befürchteten aber Komplikationen. Es handelte sich hier offenbar um Symptome, die in der Familie erblich sind und die die Wissenschaft vor manches Rätsel stellen. Helene mußte ihnen noch einmal berichten: ihre Großmutter sei im Irrenhause von Tulettes, wenige Kilometer von Plassans – ihre Mütter plötzlich an einer akuten Lungenerkrankung nach einem an nervösen Anfällen überreichen Leben gestorben. Sie, Helene, gliche dem Vater in Temperament und Statur. Jeanne dagegen sei ganz das Ebenbild der Großmutter, nur schwächlicher. Die beiden Ärzte empfahlen nochmals größte Schonung für die Kranke. Man könne bei diesen Zuständen von Bleichsucht und Blutarmut, die der Nährboden so vieler grausamer Erkrankungen sind, nicht genug Vorsicht üben.

Henri hatte dem alten Doktor Bodin mit einer Unterwürfigkeit zugehört, die ihm sonst im Umgang mit Kollegen nicht eigen war. Er zog jenen mit der Miene eines Schülers, der an sich selbst zweifelt, zu Rate. Die Wahrheit war, daß er vor diesem Kinde Furcht empfand. Jeanne entschlüpfte seiner Wissenschaft. Er fürchtete sie zu töten und so auch die Mutter zu verlieren. Eine Woche verstrich. Helene hatte Deberle nicht mehr im Krankenzimmer geduldet. Da stellte er, ins Mark getroffen, seine Besuche ein...

Ende August konnte Jeanne aufstehen und im Zimmer umhergehen. Seit vierzehn Tagen hatte sie keinen Anfall mehr gehabt und lachte in leiser Fröhlichkeit. Die Mutter war ja bei ihr geblieben und hatte die Genesung beschleunigt. Noch immer blieb das Kind mißtrauisch, verlangte vorm Einschlafen die Hand der Mutter und hielt sie noch im Schlafe fest. Als sie später sah, daß niemand mehr hereinkam und die Mutter allein an ihrem Bett saß, kehrte ihr Vertrauen zurück. Sie war es zufrieden, daß das trauliche Leben von einst, als sie noch beisammen am Fenster saßen, nun wiedergekehrt war. Von Tag zu Tag röteten sich ihre Wangen, und Rosalie meinte, daß sie zusehends aufblühe.


 << zurück weiter >>