Emile Zola
Ein Blatt Liebe
Emile Zola

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7

Es war ein Monat von wunderlieblicher Milde. Die Aprilsonne hatte den Garten mit einem matten Grün überkleidet, leicht und zart wie eine Spitze. Gegen das Gitter trieben die losen Zweige der Waldreben ihre feinen Schößlinge, während die Geißblattknospen einen zarten, fast zuckersüßen Duft verströmten. An den Rändern des sorgsam gepflegten Rasens blühten rote Geranien und weiße Vierblattblumen. Im Hintergrunde breitete zwischen den Hintermauern der Nachbarhäuser das grüne Laubdach seine Zweige, deren kleine Blätter beim leisesten Windhauch zitterten.

Während dreier Wochen wölbte sich der Himmel ohne ein einziges Wölkchen. Es war ein wahres Frühlingswunder, das die zurückkehrende Jugend feierte, die Helenes Herz durchbebte. An jedem Nachmittage stieg sie mit Jeanne in den Garten. Ihr Platz war neben der ersten Ulme. Ein Stuhl erwartete sie, und am andern Morgen fand sie auf dem Kiespfade noch die Fadenenden ihrer Näharbeit vom gestrigen Abend.

»Sie sind hier zu Hause,« sagte an jedem Abend Frau Deberle, die für Helene eine jener Passionen fühlte, die ein halbes Jahr anzuhalten pflegten. »Auf Wiedersehen, morgen früh kommen Sie doch bitte ein wenig früher!«

Und Helene fühlte sich wirklich zu Hause. Sie gewöhnte sich an diesen Laubwinkel. Sie wartete mit der Ungeduld eines Kindes auf die Stunde, hinunterzugehen. Was sie an diesem bürgerlichen Garten entzückte, war vor allem die Gepflegtheit von Rasen und Bäumen. Kein verstreuter Halm störte im Laub. Die alle Morgen geharkten Gänge waren weich wie ein Teppich. Helene lebte dort ruhig und in sich gekehrt. Unter dem dichten Schatten der Ulmen, in diesem verschwiegenen Parterre, welches die Gegenwart der Frau Deberle mit einem diskreten Parfüm schwängerte, konnte sie meinen, in einem Salon zu sein. Der ungehinderte Blick auf den Himmel ließ sie die Luft freier ein- und ausatmen.

Als sich Helene eines Abends verabschiedete, sagte Juliette:

»Ich muß leider morgen ausgehen. Aber lassen Sie sich nicht hindern, herunterzukommen. Warten Sie auf mich! Ich werde nicht lange fortbleiben.«

So verlebte Helene einen köstlichen Nachmittag allein im Garten. Über ihr hörte sie nichts als das Flattern der Sperlinge in den Bäumen. Der ganze Liebreiz dieses kleinen Sonnenwinkels nahm sie gefangen. Und von diesem Nachmittage an waren ihre köstlichsten Stunden die, in denen die Freundin sie allein ließ.

Ihre Beziehungen zur Familie Deberle knüpften sich immer enger. Sie aß bei ihnen zu Tisch, als Freundin, die man in dem Augenblick, da man zu Tische gehen will, zum Bleiben nötigt. Wenn sie sich unter den Ulmen länger aufhielt und Pierre von der Treppe aus meldete, daß das Essen aufgetragen sei, nötigte Juliette die Freundin, und manchmal willigte sie ein. Es waren Familienmahlzeiten, aufgeheitert durch die Lustigkeit der Kinder. Der Doktor Deberle und Helene schienen gute Freunde zu sein, deren ausgeglichene, etwas kühle Temperamente miteinander harmonierten.

Der Doktor kehrte jeden Nachmittag um sechs Uhr von seinen Krankenbesuchen heim. Er fand dann die beiden Damen im Garten und setzte sich zu ihnen. In der ersten Zeit hatte sich Helene schnell zurückziehen wollen, um das Ehepaar allein zu lassen. Aber Juliette war über diesen plötzlichen Aufbruch stets unwillig gewesen. Wenn der Gatte kam, reichte ihm seine Frau die Wange zum Kusse. Wenn Lucien ihm an den Beinen hinaufkletterte, half er nach und hielt ihn plaudernd auf den Knien. Helene schaute lächelnd zu und ließ einen Augenblick die Arbeit ruhen, um mit ruhigem Blick das Familienglück zu betrachten. Der Kuß des Gatten berührte sie nicht, die Streiche Luciens stimmten sie zärtlich. Es war, als ob sie im glücklichen Frieden dieses Ehepaares Ruhe fände.

Eines Tages traf der Doktor Helene allein unter den Ulmen. Juliette ging fast jeden Nachmittag aus.

»Ei!« rief er, »ist meine Frau nicht da?«

»Nein,« antwortete sie lachend, »sie läßt mich sitzen. Sie kommen heute auch zeitiger nach Hause als sonst.«

Die Kinder spielten am andern Ende des Gartens. Er setzte sich neben sie. Ihr Beisammensein unter vier Augen gab ihnen nicht zu denken. Eine Stunde plauderten sie von tausend Dingen, ohne auch nur einen Augenblick das ihr Herz schwellende zärtliche Gefühl zu zeigen. Wozu davon reden? Man brauchte sich kein Geständnis zu machen. Ihnen genügte die Freude, beisammen zu sein, sich in allem zu verstehen. Ohne Störung kosteten sie das Alleinsein am nämlichen Orte, wo er jeden Abend seine Frau in ihrer Gegenwart umarmte.

Heute scherzte Deberle über Helenes Arbeitseifer.

»Sie wissen doch,« sagte er, »daß ich nicht einmal die Farbe Ihrer Augen kenne; Sie halten sie immerzu auf Ihre Nadel geheftet.«

Sie hob den Kopf und sah ihm voll ins Gesicht.

»Ei! sollten Sie mich hänseln wollen?« fragte sie sanft.

»Ah! Sie sind grau ... grau mit blauem Widerschein, nicht wahr?«

Mehr zu reden wagten sie nicht. Aber diese Worte, die erste Annäherung waren von einer unendlichen Anmut. Von diesem Tage an fand er sie oft im Dämmer allein. Ohne ihren Willen, ohne daß sie es wußten, wuchs ihre Vertrautheit von Tag zu Tag.

Sie sprachen mit veränderter Stimme, mit lockender Tonfärbung. Und doch konnten sie, wenn Juliette kam und in geschwätziger Hast von ihren Gängen durch Paris berichtete, die begonnene Unterhaltung fortsetzen, ohne befangen zu sein. Es schien, als ließe dieser schöne Frühling, dieser Garten, wo die Holunder blühten, das erste Entzücken ihrer Leidenschaft nicht enden.

Gegen das Ende des Monats wurde Frau Deberle von einem großen Vorhaben in Aufregung versetzt. Sie hatte plötzlich den Einfall, einen Kinderball zu geben. Die Jahreszeit war schon vorgerückt, aber dieser Gedanke füllte ihren Hohlkopf so aus, daß sie sich alsbald mit ihrem lärmenden Tätigkeitsdrang in die Vorbereitungen stürzte. Sie wollte etwas Apartes. Es sollte ein Kostümball werden.

Nun schwatzte sie von nichts anderem als von ihrem Balle, zu Hause, bei anderen, überall. Der schöne Malignon fand den Plan ein bißchen kindlich, geruhte aber doch, sich dafür zu interessieren. Er versprach, einen Komiker aus seiner Bekanntschaft für den Abend zu engagieren.

Als eines Nachmittags die ganze Gesellschaft unter den Bäumen versammelt saß, warf Juliette die schwerwiegende Frage der Kostüme für Lucien und Jeanne auf.

»Ich überlege noch immer. Ich habe an einen Bajazzo in weißem Atlas gedacht.«

»Oh! das ist gewöhnlich!« erklärte Malignon, »Bajazzos werden Sie mindestens ein halbes Dutzend auf Ihrem Balle haben. Warten Sie! wir müssen uns etwas anderes ausdenken.«

Und er versenkte sich in tiefes Sinnen, während er am Knopf seines Spazierstocks lutschte.

»Ich habe Lust, mich als Kammerzofe zu verkleiden,« rief Pauline.

»Du?« sagte Frau Deberle erstaunt. »Aber du maskierst dich doch überhaupt nicht! Hältst du dich denn etwa gar für ein Kind, du großes Kalb? Du wirst mir das Vergnügen machen, im weißen Kleide zu erscheinen.«

»Ach, es hätte mir so viel Spaß gemacht!« sagte Pauline enttäuscht, die trotz ihrer siebzehn Jahre und jungfräulicher Formen am liebsten mit kleinen Kindern spielte.

Helene arbeitete unterdessen, von Zeit zu Zeit den Kopf hebend, um dem Doktor und Herrn Rambaud zuzulächeln, die plaudernd vor ihr standen. Herr Rambaud hatte schließlich bei Deberles Familienanschluß gefunden.

»Und Jeanne?« fragte der Doktor. »Als was wird...«

Er wurde durch einen Ausruf Malignons unterbrochen:

»Ich hab's – als Marquis Ludwigs des Fünfzehnten!«

Er schwenkte triumphierend seinen Stock. Als man aber von solchem Geistesblitz nicht sonderlich begeistert war, tat er erstaunt.

»Wie! Sie verstehen mich nicht? Ei! Lucien empfängt doch seine kleinen Gäste, nicht wahr? Sie stellen ihn also an die Tür als Marquis mit einem großen Rosenstrauß, und er macht den Damen sein Kompliment.«

»Aber,« warf Juliette ein, »Marquis werden wir wenigstens ein Dutzend haben.«

»Was schadet das?« antwortete Malignon ruhig. »Je mehr, desto spaßiger wird es sein. Ich sage Ihnen, wir haben das Richtige gefunden. Der Herr des Hauses muß als Marquis erscheinen, sonst ist der Ball einfach lächerlich.«

Er schien dermaßen überzeugt, daß sich schließlich auch Juliette dafür erwärmte. In der Tat, ein Kostüm als Marquis Pompadour in weißem Atlas, mit kleinen Rüschen besetzt, mußte köstlich sein.

»Und Jeanne?« beharrte der Doktor.

Das kleine Mädchen hatte sich schmeichelnd an die Schulter ihrer Mutter gelehnt, eine Pose, die sie liebte. Als Helene die Lippen öffnen wollte, flüsterte sie:

»O Mama! Du weißt, was du mir versprochen hast!«

»Was denn?« fragte man in der Runde.

Helene antwortete lächelnd:

»Jeanne will nicht, daß ich ihr Kostüm verrate.«

»Aber, das ist doch richtig!« rief das Kind. »Es gibt doch keine Überraschung, wenn man vorher alles verrät.«

Man lachte über diese Gefallsucht. Herr Rambaud neckte sie und drohte, das Kostüm zu beschreiben. Da wurde Jeanne blaß. Ihr sanftes Gesicht mit dem leidenden Zug wandelte sich in trotzige Härte, auf der Stirn bildeten sich zwei steile Falten und das Kinn reckte sich.

»Du!« stotterte sie drohend. »Du wirst nichts sagen!«

Und als Rambaud noch immer tat, als ob er sprechen wollte, stürzte sie sich auf ihn:

»Still! Ich will, daß du schweigst! Ich will's!«

Helene hatte nicht die Zeit gehabt, dem Zornesausbruch vorzubeugen, der das Kind oft so schrecklich schüttelte.

»Jeanne, Jeanne! Du machst mir viel Kummer!« verwies sie die Tochter.

Da wandte das Kind den Kopf zur Seite. Und als es seine Mutter mit untröstlichem Gesicht und tränenvollen Augen sah, brach es in Schluchzen aus und warf sich ihr an den Hals.

»Nein, Mama ... nein, Mama ...«

Helene strich ihr übers Gesicht, sie am Weinen zu hindern. Da setzte sich das Kind wenige Schritte seitwärts auf eine Bank und schluchzte stärker. Herr Rambaud und der Doktor hatten sich genähert. Der erstere fragte sanft:

»Sprich doch, mein Liebling! Weshalb hast du dich geärgert? was hab' ich dir denn getan?«

»Oh!« sagte das Kind, die Hände fortnehmend und sein verstörtes Gesicht zeigend, »du hast mir meine Mama nehmen wollen!«

Der Doktor begann zu lachen. Herr Rambaud verstand nicht gleich.

»Was redest du da?!

»Jawohl, am letzten Dienstag! Oh! Du weißt schon, du hast mich gefragt, was ich dazu sagen würde, wenn du ganz bei uns bliebst!«

»Aber du sagtest doch, daß wir dann immer zusammen spielen würden.«

»Nein, nein!« rief das Kind heftig, »ich will nicht, verstehst du? Sprich nie mehr davon, nie mehr, und wir werden wieder Freunde sein.«

Helene, die mit ihrer Näharbeit aufgestanden war, hatte die letzten Worte aufgefangen.

»Komm, wir wollen hinaufgehen, Jeanne. Wenn man weint, ärgert man bloß die Leute.«

Sie grüßte, die Kleine vor sich her schiebend. Der Doktor war sehr blaß und sah sie fest an. Herr Rambaud war betreten. Frau Deberle und Pauline hatten mit Malignon Lucien in die Mitte genommen und drehten sich im Kreise, über die Schultern des Buben hinweg das Marquis-Kostüm erörternd.

Am andern Tage saß Helene allein unter den Ulmen. Frau Deberle war in Angelegenheiten ihres Ballfestes ausgegangen und hatte Lucien und Jeanne mitgenommen. Als der Doktor früher als gewöhnlich nach Hause kam, ging er rasch die Treppe hinunter. Aber er setzte sich nicht, sondern umkreiste die junge Frau, Rindenstückchen von den Bäumen bröckelnd. Helene sah beunruhigt über seine Erregung auf, dann führte sie wieder mit unsicherer Hand die Nadel.

»Jetzt wird das Wetter ungünstig,« sagte sie verlegen. »Heute nachmittag ist's beinahe kalt.«

»Wir sind auch erst im April,« sagte er leise und zwang seine Stimme zur Ruhe.

Er schien sich entfernen zu wollen. Aber dann kam er nochmals zurück und fragte geradezu:

»Sie heiraten also?«

Die offene Frage überraschte Helene, daß sie die Nadel fallen ließ. Sie war leichenblaß. Nur mit äußerster Willensanstrengung behielt sie die Fassung, die Augen waren weit geöffnet. Sie antwortete nicht, und der Doktor redete eindringlich weiter:

»Oh! ich bitte Sie! ein Wort, ein einziges! Sie heiraten?«

»Vielleicht; was kümmert das Sie?« antwortete sie endlich eisig.

Er machte eine heftige Geste.

»Aber das ist nicht möglich!«

»Warum?« fragte sie, ohne die Augen von ihm zu lassen.

Unter diesem Blick, der ihm die Worte auf die Lippen nagelte, mußte er schweigen. Einen Augenblick noch blieb er, die Hände an die Schläfen führend. Dann entfernte er sich, während sie so tat, als nehme sie ihre Arbeit wieder auf. Der Reiz dieser süßen Nachmittage war zerstört. Es änderte nichts, daß er sich andern Tages zartfühlend und zurückhaltend zeigte. Helene schien es unbehaglich, sobald sie mit ihm allein war. Es war nicht mehr jene gute Vertraulichkeit, jenes hohe Vertrauen, welches ihnen das Beisammensein ohne Verlegenheit, nur mit der lauteren Freude sich zu sehen, gestattete. Trotz der Sorgfalt, mit der er sich hütete, sie zu erschrecken, sah er sie manchmal rot werdend an. Zorn und Sehnsucht schienen in ihm geweckt. Auch Helene hatte ihre Ruhe verloren; sie bebte innerlich und hielt die Hände oft müde und unbeschäftigt im Schoß.

Es kam dahin, daß sie Jeanne nicht mehr fortzugehen erlaubte. Der Doktor fand ständig zwischen ihr und sich diesen Zeugen, der ihn mit seinen großen schimmernden Augen überwachte. Aber worunter Helene besonders litt, war die Verlegenheit, die sie jetzt plötzlich Frau Deberle gegenüber fühlte.


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