Emile Zola
Ein Blatt Liebe
Emile Zola

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4

Als in der folgenden Woche die Doktorsgattin Frau Grandjeans Besuch erwiderte, zeigte sie sich von außerordentlicher Liebenswürdigkeit. Noch auf der Schwelle sagte sie zu Helene:

»Sie wissen, was Sie mir versprochen haben. Am ersten schönen Tage kommen Sie in den Garten hinunter und bringen Jeanne mit. Es ist Verordnung des Arztes!«

Helene lächelte.

»Natürlich, natürlich, die Sache ist abgemacht. Rechnen Sie auf mich!«

Drei Tage später ging sie an einem freundlichen Februarnachmittage wirklich mit ihrem Kinde hinunter. Der Pförtner öffnete die Verbindungstüre. Im Hintergrunde des Gartens, in einer Art von japanischem Pavillon, fanden sie Frau Deberle in Gesellschaft ihrer Schwester Pauline. Beide saßen mit ihren Stickarbeiten an einem kleinen Tische.

»Wie nett, daß Sie kommen!« rief Juliette. »Da, setzen Sie sich! Pauline, rücke den Tisch weg. Sie sehen, es ist noch ein bißchen frisch, wenn man sitzt. Von diesem Pavillon aus werden wir die Kinder besser überwachen. Da, Kinderchen, spielt. Daß ihr mir nur nicht fallt!«

Es war ein bürgerlich einfacher Garten mit einem Rasenplatz in der Mitte und zwei Blumenbeeten. Ein Gitter sperrte ihn nach der Rue Vineuse zu ab; doch darüber war ein so dichter Laubvorhang gewachsen, daß kein Blick von der Straße eindringen konnte. Den Hauptreiz bildeten im Hintergrunde mehrere hoch gewachsene Bäume, prächtige Rüstern, welche die schwarze Mauer eines fünfstöckigen Wohnhauses verdeckten. Sie schufen in diesem engen Winkel aneinanderstoßender Häuser die Illusion eines Parkes und schienen dieses Pariser Gärtchen, das man wie einen Salon kehrte, ungewöhnlich zu vergrößern. Zwischen zwei Rüstern hing eine Schaukel, deren Brett einen grünlichen Schimmel zeigte.

Helene beugte sich vor, um alles besser zu sehen.

»Oh! 's ist ein rechtes Loch,« warf Frau Deberle hin, »aber in Paris sind die Bäume selten ... man schätzt sich schon glücklich, wenn man ein halb Dutzend sein eigen nennt.«

»O nein, o nein! Sie wohnen hier herrlich,« flüsterte Helene.

»Jetzt ist's noch ein bißchen öde,« erwiderte Frau Deberle. »Aber im Juni sitzt man hier wie in einem Nest. Die Bäume hindern die Leute drüben, zu spionieren, und wir sind hier wie zu Hause.«

Sie unterbrach sich:

»Warte, Lucien! Willst du wohl nicht an den Springbrunnen fassen!«

Der kleine Junge, der Jeanne als Kavalier diente, hatte sie vom Springbrunnen unter den Aufgang geführt und den Hahn aufgedreht. An den spritzenden Strahl hielt er die Spitze seines Stiefelchens, eine Spielerei, die er über die Maßen gern hatte. Jeanne schaute ihm ernsthaft zu, wie er sich die Füße naß machte.

»Warte,« sagte Pauline aufstehend, »ich will ihn zur Ruhe bringen.«

Juliette hielt sie zurück.

»Nein, nein, du bist noch schlimmer als er. Gestern hätte man meinen können, sie hätten alle beide ein Bad genommen. Sonderbar, daß solch ein großes Mädchen nicht zwei Minuten still sitzen kann ...«

Und sich umdrehend:

»Hörst du, Lucien! dreh sofort den Hahn ab!«

Das erschrockene Kind wollte gehorchen. Aber in der Verwirrung öffnete es den Hahn noch mehr, und das Wasser schoß mit solcher Stärke und solchem Zischen hervor, daß der Junge völlig den Kopf verlor. Bis zu den Schultern bespritzt, wich er zurück.

»Dreh im Augenblick den Hahn ab!« befahl seine Mutter wieder. Das Blut war ihr in die Wangen geschossen.

Da näherte sich Jeanne, die sich bis dahin mäuschenstill verhalten hatte, dem Springbrunnen mit aller Vorsicht, während Lucien angesichts dieses tollen Wasserstromes zu weinen anfing. Sie schob ihr Kleidchen zwischen die Beine, streckte die Hände vor, um sich nicht die Ärmel naß zu machen, und drehte den Hahn zu, ohne einen einzigen Wassertropfen abbekommen zu haben. Plötzlich hörte die Wasserflut auf. Lucien drängte verwundert seine Tränen zurück und schaute das Mädchen mit großen Augen respektvoll an.

»Wirklich, dies Kind macht mich noch rasend!« rief Frau Deberle, die sich totenblaß, wie zerschlagen von dieser Aufregung, reckte und streckte.

Helene glaubte sich ins Mittel legen zu sollen.

»Jeanne, gib Lucien die Hand, geh mit ihm spazieren!«

Jeanne faßte Luciens Hand, und gravitätisch trippelten die Kinder in den Steigen auf und ab. Das Mädchen war weit größer als er, gleich einer Dame ließ sie die Augen wandern. Lucien konnte nicht umhin, hier und da einen Blick auf seine Gefährtin zu werfen. Sie sprachen kein Wort.

»Sie sind possierlich,« flüsterte Frau Deberle, lächelnd und beruhigt. »Das muß man sagen, Ihre Jeanne ist ein reizendes Kind. Gehorsam und verständig.«

»Ja, nur wenn sie bei Fremden ist,« versetzte Helene, »sie hat auch ihre garstigen Stunden. Aber da sie mich vergöttert, ist sie bestrebt, artig zu sein.«

Die Damen plauderten über die Kinder. Mädchen wären vorsichtiger als Jungen. Freilich dürfe man Luciens schüchternem Wesen nicht trauen. Vor Jahresfrist noch sei er ein Erztaugenichts gewesen. Und ohne sichtlichen Übergang begann man von einer Frau zu sprechen, die einen kleinen Pavillon gegenüber bewohnte und bei der pikante Dinge vorgehen sollten. Frau Deberle hielt inne, um ihrer Schwester zuzurufen:

»Pauline, geh doch eine Minute in den Garten.«

Das junge Mädchen ging ruhig hinaus und wartete unter den Bäumen. Sie war daran gewöhnt; sobald die Unterhaltung sich auf ein Gebiet lenkte, für das sie noch zu jung war, wurde sie weggeschickt.

»Gestern stand ich am Fenster und hab die Frau deutlich gesehen ... sie zieht nicht einmal die Gardinen zu ... es ist ein Skandal! Wie leicht können Kinder da hineinsehen!«

Sie sprach ganz leise mit entrüstetem Gesicht, aber doch mit spitzem Lächeln auf den Lippen. Dann hob sie die Stimme und rief:

»Pauline, du kannst wieder hereinkommen!«

Pauline guckte unter den Bäumen zum Himmel und wartete ruhig, bis ihre Schwester ausgeredet hatte. Sie trat in den Pavillon und setzte sich wieder, während Juliette, zu Helene gewendet, weitersprach:

»Sie haben niemals etwas bemerkt, Madame?«

»Nein, meine Fenster gehen nicht auf den Pavillon.«

Inzwischen hatte Frau Deberle wieder ihre Stickerei vorgenommen. Sie machte alle Minuten zwei Stiche. Helene, die nicht müßig sitzen konnte, bat um die Erlaubnis, ein nächstes Mal Arbeit mitzubringen. Und von einer leisen Langeweile beschlichen, musterte sie den japanischen Pavillon.

»Hm? Nicht wahr, er ist häßlich!« rief Pauline, die Helenes Blick gefolgt war. »Sag mal, Schwesterherz, weißt du, daß das, was du gekauft hast, Kitsch ist? Der schöne Malignon nennt deine Japaneserei den ›Zwanzig-Pfennig-Basar‹ ... übrigens, ich hab ihn getroffen, den schönen Malignon, mit einer Dame ... oh! einer netten Dame, der kleinen Florence vom Varieté.«

»Wo denn? Damit will ich ihn necken!« rief Juliette lebhaft.

»Auf dem Boulevard. Kommt er denn heute nicht?« Aber sie erhielt keine Antwort. Die Damen waren wegen der Kinder beunruhigt. Wo konnten sie stecken? Als sie nach ihnen riefen, hörte man helle Stimmen:

»Da sind wir ja!«

Sie waren wirklich mitten auf dem Rasenplatz, hinter einem Strauch verborgen saßen sie im Grase.

»Was macht ihr denn?«

»Wir sind eben im Gasthof angekommen,« rief Lucien, »und ruhen uns in unserm Zimmer aus.«

Eine Zeitlang sahen ihnen die Erwachsenen belustigt zu. Jeanne überließ sich ganz dem Spiele. Sie rupfte Gras um sich her, wahrscheinlich, um das Frühstück herzurichten. Jetzt plauderten sie. Jeanne redete Lucien ein, daß sie sich in der Schweiz befänden und bald aufbrechen wollten, um die Gletscher zu besteigen, was den Knaben sehr verdutzte.

»Ei, sieh da! da ist er ja!« rief plötzlich Pauline.

Frau Deberle drehte sich um und erkannte Malignon, der die Stufen herabkam. Sie ließ ihm kaum Zeit zu grüßen und einen Stuhl zu nehmen.

»Nun, das muß ich sagen: Sie sind ein netter Herr! In der ganzen Stadt zu erzählen, daß ich bloß Kitsch in meiner Behausung hätte!«

»Ach richtig!« versetzte er mit Ruhe, »den kleinen Salon dort ... gewiß, das ist Kitsch ... Sie haben keinen einzigen beachtlichen Gegenstand.«

Sie war sehr verletzt.

»Wie! und die Pagode?«

»Ach, reden Sie doch nicht! Das ist doch alles spießig ... Es fehlt an Geschmack, mir haben Sie ja das Einrichten nicht überlassen wollen.«

Da fiel sie ihm, puterrot, zornig in die Rede.

»Ihr Geschmack! Na, lassen wir das lieber! Ihr Geschmack ist wirklich fein – man hat Sie mit einer Dame gesehen!«

»Mit einer Dame?« fragte er, durch die Grobheit des Angriffs verdutzt.

»Eine famose Wahl! Mache Ihnen mein Kompliment! Eine Dirne, von der ganz Paris ...«

Aber sie schwieg, als sie Pauline bemerkte.

»Pauline, geh doch eine Minute in den Garten!«

»Aber nein! das ist doch abscheulich!« rief das junge Mädchen und sträubte sich. »Immer wirft man mich hinaus.«

»Geh in den Garten!« wiederholte Juliette mit Strenge.

Pauline ging; aber an der Tür wandte sie sich nochmals um und sagte:

»Mach wenigstens ein bißchen schnell!«

Jetzt fiel Frau Deberle von neuem über Malignon her. Wie konnte ein vornehmer junger Mann wie er, sich öffentlich mit einer Florence zeigen? Sie war mindestens vierzig, zum Fürchten häßlich, das ganze Orchester duzte sie ...

»Bist du fertig?« rief Pauline, die unter den Bäumen schmollend auf und nieder ging. »Ich langweile mich wie ein Mops.«

Malignon verteidigte sich. Er kannte diese Florence nicht, hatte niemals ein Wort mit ihr gewechselt. Mit einer Dame hätte man ihn ja wohl sehen können. Er begleite bisweilen die Frau eines seiner Freunde. Übrigens, welcher Spion wäre es denn, der ihn gesehen hätte? Er verlange Beweise, Zeugen ...

»Pauline,« rief plötzlich Frau Deberle, die Stimme hebend, »nicht wahr, du hast ihn mit Florence getroffen?«

»Jawohl, ja,« antwortete das Mädchen, »auf dem Boulevard, gegenüber von Bignon.«

Über Malignons verlegenes Lachen triumphierend, rief Frau Deberle:

»Pauline, du kannst wieder hereinkommen. Die Geschichte ist erledigt.«

Die Damen hatten über diesem Gespräch nicht auf die Kinder geachtet. Lucien erhob plötzlich lautes Geschrei.

»Was hast du ihm getan, Jeanne?« fragte Helene.

»Ich hab ihm nichts getan, Mama. Er hat sich auf die Erde geworfen.«

Die Wahrheit war, daß die Kinder soeben von den eingebildeten Eisbergen zurückgekehrt waren. Da Jeanne die Behauptung aufstellte, daß sie über Berge gestiegen kämen, hatten sie die Füße sehr hochgehoben, um über die Felsen zu klettern. Lucien aber hatte dabei einen Fehltritt getan und war mitten in ein Beet gefallen. Als er am Boden lag, hatte er sich geärgert und fing zu schreien an.

»Heb ihn auf!« rief Helene wieder.

»Er mag nicht, Mama, er wälzt sich.«

Und Jeanne wendete sich ab, als ob sie sich durch den Anblick des schlecht erzogenen Jungen verletzt fühlte. Er konnte gar nicht spielen, mußte sich jedesmal schmutzig machen. Da bat Frau Deberle, durch Luciens Schreien beunruhigt, ihre Schwester, ihn zur Ruhe zu bringen. Pauline war das ganz nach Wunsch. Sie lief hinüber und wälzte sich mit dem Neffen an der Erde. Aber Lucien wehrte sich, er wollte nicht aufgehoben sein. Sie zerrte ihn endlich hoch und hielt ihn unter den Armen.

»Sei doch still, Schreihals! Komm, wir wollen schaukeln.«

Sogleich war Lucien still. Jeanne verlor ihre Ernsthaftigkeit, und strahlende Freude erhellte ihr Gesicht. Alle drei liefen zur Schaukel. Pauline setzte sich hinein.

»Gebt mir einen Schubs!«

Sie stießen das große Mädchen mit der ganzen Kraft ihrer Ärmchen, brachten sie aber kaum vom Fleck.

»So stoßt doch!« kommandierte Pauline. »Ach, die Dummerchen, verstehen auch rein gar nichts!«

Frau Deberle begann im Pavillon zu frösteln. Sie fand, daß es gar nicht warm sei trotz des schönen Sonnenscheins. Sie hatte Malignon gebeten, ihr einen Kaschmirmantel zu reichen, den ihr der junge Mann jetzt über die Schultern legte. Sie plauderten dabei von Sachen, die Helene wenig interessierten. Auch hatte sie Furcht, Pauline möchte die Kinder umwerfen. So ging sie in den Garten und ließ Juliette und Malignon beim Plaudern über eine neue Hutmode allein.

Als Jeanne die Mutter sah, kam sie mit einschmeichelnder Gebärde gelaufen.

»0 Mama,« sagte sie leise, »o Mama!«

»Nein, nein,« antwortete Helene, »du weißt, es ist dir verboten!«

Jeanne schaukelte fürs Leben gern. Es wäre ihr, sagte sie, als sei sie ein Vogel. Der Zugwind, das jähe Auffliegen, das fortwährende Herauf und Hinunter, taktmäßig wie Flügelschlag, gab ihr die köstliche Empfindung eines Aufstiegs in die Wolken. Bloß nahm es immer ein schlimmes Ende. Einmal hatte man sie ohnmächtig, an die Seile der Schaukel geklammert, mit aufgerissenen Augen ins Leere stierend, gefunden. Ein anderes Mal war sie starr wie eine vom Schrot getroffene Schwalbe heruntergefallen.

»O Mama!« bat sie wieder, »bloß ein bißchen, ein ganz kleines bißchen!«

Ihre Mutter setzte sie schließlich auf das Brett. Das Kind strahlte, und ein leichtes genüßliches Beben schüttelte ihre Handgelenke. Und als Helene sie sachte schaukelte, jauchzte das Kind:

»Stärker! stärker!«

Aber Helene ließ das Seil nicht los. Sie wurde selbst lebendig, und ihre Wangen glühten. Die Stöße, die sie dem Schaukelbrett gab, setzten sie selbst in Schwung. Ihre gewohnte Würde verschmolz zu einer Art Kameradschaft mit ihrem Kind:

»Jetzt ist's genug!« erklärte sie, Jeanne heraushebend.

»Nun schaukle dich, bitte, schaukle dich!« sagte das Kind, sich an ihren Hals hängend.

Sie liebte es, ihre Mutter »fliegen« zu sehen. Ihrem Schaukeln zuzusehen machte Jeanne mehr Freude, als es selbst zu tun. Helene fragte lachend, wer ihr Schwung geben solle. Wenn sie selbst spielte, machte sie Ernst und schwang bis in die Bäume. In diesem Augenblick kam, vom Pförtner geleitet, Herr Rambaud. Er hatte Frau Deberle bei Helene getroffen und glaubte ihr einen Besuch machen zu dürfen. Frau Deberle zeigte sich, von der Leutseligkeit des ehrenhaften Herrn gerührt, überaus liebenswürdig. Dann vertiefte sie sich neuerdings in eine lebhafte Unterhaltung mit Malignon.

»Unser lieber Freund wird dir Schwung geben!« rief Jeanne, die Mutter umspringend.

»Willst du wohl still sein! Wir sind doch hier nicht zu Hause!« sagte Helene streng.

»Du lieber Gott!« flüsterte Herr Rambaud, »wenn Ihnen das Spaß macht, stehe ich zu Ihrer Verfügung. Wenn man auf dem Lande ist ...«

Helene ließ sich bereden. Als junges Mädchen hatte sie stundenlang geschaukelt, und die Erinnerung an diese alten Vergnügungen erfüllte sie mit einem dumpfen Verlangen. Lachend bat sie, da sie ihre Beine doch nicht gut zeigen könne, um eine Schnur, mit der sie ihre Röcke um die Knöchel festband. Dann stellte sie sich, mit gespreizten Armen die Seile festhaltend, aufs Brett und rief lustig:

»Vorwärts denn, Herr Rambaud! Zuerst langsam!«

Herr Rambaud hatte seinen Hut an einen Zweig gehängt. Sein breites freundliches Gesicht erhellte ein väterliches Lächeln. Er überzeugte sich von der Festigkeit der Seile, sah zu den Bäumen hinauf und entschloß sich, der Schaukel einen schwachen Stoß zu geben. Helene hatte zum ersten Male die Trauerkleidung abgelegt. Sie trug ein graues, mit gelben Schleifen besetztes Kleid.

»Vorwärts, vorwärts!«

Mit vorgestreckten Armen das Schaukelbrett fassend, versetzte ihm Herr Rambaud einen kräftigen Stoß. Helene begann zu steigen; mit jedem Aufflug gewann sie größern Schwung. Aber der Takt bewahrte Würde. Man sah sie noch immer korrekt, ein wenig ernst, mit hellen klaren Augen in dem schönen stillen Gesicht; ihre Nasenflügel blähten sich, als ob sie den Wind schlürfen wollten. Kein Fältchen ihrer Röcke hatte sich verschoben. Eine Flechte ihres Haares löste sich.

»Vorwärts, vorwärts!«

Ein jäher Stoß trug sie empor. Sie stieg zur Sonne, immer höher. Ein leichter Zugwind erhob sich vor ihr und wehte im Garten. Jetzt mußte sie lächeln, ihr Gesicht war rosig überhaucht, und ihre Augen blitzten wie Sterne. Die gelöste Flechte schlug ihr auf den Hals. Trotz der Schnur flatterten die Röcke und entblößten die Weiße ihrer Fußknöchel. Man sah ihr an, wie wohl es ihr war in der frischen freien Luft, mit geweiteter Brust.

Jeanne klatschte Beifall. Die Mutter schien ihr eine Heilige mit einem Glorienschein, die auf dem Fluge ins Paradies begriffen war. Und wieder stammelte das Kind selig: »O Mama! o Mama!«

Frau Deberle und Malignon waren unter die Bäume getreten. Malignon fand, daß Damen außergewöhnlichen Mut besäßen, und Frau Deberle sagte erschreckt:

»Ich kriegte einen Herzschlag ... ganz gewiß!«

Helene hörte es im Vorbeifliegen.

»Oh! mein Herz ist kräftig!« rief sie lachend. »Stärker, Herr Rambaud, stärker!«

Und wirklich, ihre Stimme blieb ruhig! Sie schien sich nicht an die beiden zu kehren, die dort standen. Sie zählten ohne Zweifel in ihren Augen wenig. Ihre Haarflechte hatte sich gänzlich gelöst. Die Schnur mußte sich lockern, denn ihre Röcke flatterten. Sie stieg noch immer.

Plötzlich rief sie:

»Genug, Herr Rambaud! Aufhören!«

Doktor Deberle war soeben auf der Treppe erschienen. Er trat heran, umarmte zärtlich seine Frau, hob Lucien auf den Arm und küßte ihn auf die Stirn. Dann blickte er lächelnd zu Helene hin.

»Genug! genug!«

»Warum denn?« fragte er, »ich störe doch nicht?«

Helene gab keine Antwort, sie war sehr ernst geworden. Die im vollen Flug schwingende Schaukel hielt nicht sogleich an, sie führte Helene noch immer hoch empor. Und der Doktor, überrascht und entzückt, bewunderte sie. Sie war prächtig anzuschauen mit ihrer großen und kräftigen Gestalt, ihren edlen, einer antiken Bildsäule würdigen Formen, so leicht im Frühlingssonnenlicht dahingeweht. Aber sie schien ärgerlich, daß die Schaukel nicht zum Stillstand gebracht wurde, und sprang plötzlich ab.

»Halt! halt!« schrien alle wie aus einem Munde.

Helene stieß einen Klagelaut aus. Sie war auf den Kies gefallen und konnte sich nicht aufrichten.

»Mein Gott, welche Unklugheit!« sägte der Doktor mit blassem Gesicht.

Alle machten sich um die Verunglückte zu schaffen. Jeanne weinte, daß Herr Rambaud, den selbst eine Schwäche überkam, die Kleine auf die Arme heben mußte. Der Doktor befragte Helene.

»Das rechte Bein ist's, nicht wahr? Sie können nicht auftreten?«

Und als sie keine Antwort gab, fragte er weiter:

»Haben Sie Schmerzen?«

»Ein dumpfer Schmerz, da am Knie,« sagte sie mühsam.

Nun schickte der Doktor seine Frau um Besteck und Verbandzeug.

»Wir müssen sehen, müssen sehen. Es hat wahrscheinlich nichts auf sich.«

Dann kniete er auf dem Kiesboden. Helene ließ ihn gewähren. Aber als er sie betastete, erhob sie sich mit Anstrengung und zog die Röcke um ihre Füße.

»Nein, nein!« flüsterte sie.

»Aber, ich muß doch sehen ... als Arzt ...«

Helene bebte leicht und flüsterte:

»Ich mag nicht ... es ist nichts!«

Er sah sie verwundert an. Eine schwache Röte stieg an ihrem Nacken hinauf. Einen Augenblick lang trafen sich ihre Augen und schienen auf dem Grund ihrer Herzen zu lesen. Da stand Doktor Deberle, selbst verwirrt, langsam auf und blieb bei ihr, ohne zu fragen, ob er sie besuchen solle.

Helene hatte Herrn Rambaud herangewinkt. Sie flüsterte ihm ins Ohr:

»Holen Sie Doktor Bodin! Erzählen Sie ihm, was mir passiert ist.«

Als später Doktor Bodin kam, richtete sie sich mit übermenschlicher Anstrengung auf und stieg, auf ihn und Herrn Rambaud gestützt, zu ihrer Wohnung hinauf. Jeanne folgte schluchzend.

»Ich erwarte Sie,« hatte Doktor Deberle zu seinem Kollegen gesagt. »Bringen Sie uns beruhigende Nachricht!«

Im Garten plauderte man lebhaft. Malignon behauptete, daß die Frauen schnurrige Geschöpfe seien. Warum auch mußte es dieser Dame einfallen, aus der Schaukel zu springen? Pauline, die über das Abenteuer sehr ärgerlich war, das sie weiteren Vergnügens beraubte, fand es ebenfalls unklug. Der Arzt schwieg und schien in Sorge zu sein.

»Nichts Ernstliches,« sagte Doktor Bodin, die Stufen herabschreitend, »eine Verstauchung. Freilich wird sie vierzehn Tage auf dem Sofa ausharren müssen.«

Herr Deberle klopfte Malignon verabschiedend die Schulter. Er wünschte, daß seine Frau den Garten verlasse, weil es sehr frisch geworden sei. Und Lucien auf den Arm hebend, trug er ihn selbst fort und koste mit seinem Jungen.


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