Emile Zola
Ein Blatt Liebe
Emile Zola

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8

Im Treppenhause der kleinen Villa stand Peter in Frack und weißer Halsbinde und öffnete bei jedem Wagengeräusch die Tür. Ein Strom feuchter Luft drang herein, ein gelber Schein des regnerischen Aprilnachmittags erhellte das rege, mit Portieren und grünen Pflanzen gefüllte Treppenhaus. Es war zwei Uhr; der Tag verfinsterte sich wie an einem trüben Wintertage.

Sobald der Diener die Tür zum ersten Salon aufstieß, blendete die Gäste festliche Helle. Man hatte die Jalousien geschlossen und sorgsam die Vorhänge zugezogen. Kein Licht vom fahlen Himmel drang hindurch, und die auf die Möbel gestellten Lampen, die im Kronleuchter brennenden Kerzen und die Kristallämpchen erleuchteten dort eine feurige Kapelle.

Unterdessen begannen die Kinder zu erscheinen, während Pauline geschäftig vor der Türe zum Eßzimmer Stuhlreihen aufstellen ließ. Man hatte die Tür ausgehoben und durch einen roten Vorhang ersetzt.

»Papa!« rief sie, »hilf doch ein wenig mit; wir werden ja im Leben nicht fertig.«

Herr Letellier, der, die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kronleuchter musterte, beeilte sich. Pauline selbst trug Stühle herbei. Sie war ihrer Schwester zu Willen gewesen und hatte ein weißes Kleid angelegt. Bloß ihr Mieder war viereckig ausgeschnitten und ließ den Hals frei.

»So! nun sind wir so weit,« schwatzte sie wieder, »nun können die Herrschaften kommen. Aber was denkt sich denn Juliette? Sie wird mit Luciens Anzug nicht fertig!«

Jetzt führte Frau Deberle den kleinen Marquis herein. Alle Anwesenden ließen bewundernde Rufe hören. Ach! war das ein netter, kleiner Herr im mit Blumensträußchen besteckten weißen Atlasfrack, mit der großen goldgestickten Weste und den kirschroten Seidenhöschen! Sein zartes Kinn und die kleinen Händchen versanken schier in der Spitzenflut. Ein Spielzeugdegen mit einer großen rosa Schleife schlug ihm um die Beine.

»Vorwärts, begrüß deine Gäste!« mahnte die Mutter und führte ihn ins erste Zimmer.

Seit acht Uhr wiederholte Lucien seine Aufgabe. Nun stellte er sich kavaliermäßig in Positur, drückte die Waden heraus, warf den gepuderten Kopf zurück und schob den Dreimaster unter den linken Arm. Jeder eintretenden kleinen Dame machte er eine Verbeugung, bot ihr den Arm, verneigte sich und trat zurück. Man lachte über solchen Ernst, dem ein wenig Keckheit beigemischt war. So führte er Marguerite Tissot, ein Mädchen von fünf Jahren, die das köstliche Kostüm eines Milchmädchens trug, und der am Gürtel ein Milchkrug baumelte; die beiden kleinen Berthier, Blanche und Sophie, waren als Theaterdamen erschienen. Er wagte sich sogar an Valentine de Chermette, einen stattlichen Backfisch von vierzehn Jahren, die von ihrer Mutter immer als Spanierin gekleidet wurde. Aber seine Verlegenheit stieg angesichts der aus fünf Fräulein bestehenden Familie Levasseur, die sich der Größe nach vorstellten. Die jüngste war kaum zwei, die älteste zehn. Alle waren als Rotkäppchen gekleidet. Tapfer entschied sich Lucien, warf seinen Hut fort, nahm die beiden größten an den rechten und den linken Arm und schritt, gefolgt von den anderen, in den Salon. Als er seine Mutter sah, fragte er, sich in die Höhe reckend:

»Und Jeanne?«

»Sie wird kommen, Liebling! Gib nur recht acht, daß du nicht fällst... Beeile dich; o sieh! da kommt sie – ach! sie sieht wunderhübsch aus!«

Ein Flüstern war durch den Saal gegangen, Köpfe reckten sich. Jeanne war auf der Schwelle des ersten Salons stehengeblieben, während ihre Mutter noch im Treppenhause den Mantel ablegte. Das Kind trug ein wunderbares exotisches Japan-Kostüm. Das mit Blumen und fremdartigen Vögeln bestickte Kleid fiel bis auf die Füßchen, während unter dem breiten Gürtel die fächerartig abstehenden Schöße einen Rock von grünlicher mit Gelb moirierter Seide sehen ließen.

Von fremdartigem Reiz war ihr feines Gesicht unter dem hohen, mit langen Nadeln gehaltenen Haarschopf, mit dem länglichen Kinn und den schmalen, leuchtenden Ziegenaugen.

Alles dies trug dazu bei, Jeanne das Aussehen einer echten Tochter Nippons zu geben, die in einem Wohlgeruch von Benzoe und Tee einherwandelt. Und zaudernd mit der Sehnsucht einer exotischen Blume, die von ihrem Heimatlande träumt, blieb sie stehen.

Hinter ihr erschien Helene. Da sie plötzlich aus dem fahlen Tageslicht der Straße in diesen hellen Kerzenschein traten, blinzelten beide. Der warme Dunst und der im Salon vorherrschende Veilchenduft wirkten beklemmend und röteten ihre frischen Wangen. Jeder eintretende Gast zeigte die nämliche Miene des Erstaunens und Zauderns. »Nun, Lucien?« mahnte Frau Deberle.

Der Junge hatte Jeanne nicht bemerkt. Jetzt beeilte er sich, reichte der Freundin den Arm, vergaß aber seine Verbeugung. Beide waren so zart und sanft, der kleine Marquis mit seinem Frack voll Sträußchen und die Japanerin mit ihrem gestickten Purpurgewand, daß man sie für lebende Porzellanfiguren halten konnte.

»Du weißt doch, ich habe auf dich gewartet,« sagte Lucien leise. »Das ewige Armgeben macht mich ganz dumm – nicht wahr? Wir bleiben doch zusammen?«

Und damit setzte er sich mit ihr auf die erste Stuhlreihe. Seine Pflichten als Hausherr hatte er ganz und gar vergessen.

»Wirklich, ich war schon voll Unruhe,« sagte Juliette zu Helene. »Ich fürchtete schon, daß Jeanne krank wäre.«

Helene entschuldigte sich, mit Kindern sei kein Fertigwerden. Sie stand noch inmitten einer Gruppe von Damen, als sie spürte, daß der Doktor hinter sie trat. Er war soeben gekommen. Er hatte den roten Vorhang gehoben, um noch eine Anweisung zu geben.

Plötzlich blieb er stehen. Auch er erriet die junge Frau, die sich nicht einmal umgewandt hatte. In einer schwarzen Grenadierrobe wäre sie ihm niemals königlicher erschienen.

Deberle sog den Duft der Frische ein, die sie von draußen hereingebracht und die von ihren Schultern und ihren nackten Armen unter dem durchsichtigen Stoffe zu atmen schien,

»Henri sieht niemand,« sagte Pauline lachend. »Ei, guten Tag, Henri!«

Der Doktor begrüßte die Damen. Fräulein Aurélie hielt ihn einen Augenblick fest, ihm einen Neffen vorzustellen, den sie mitgebracht hatte. Er blieb gefällig, wie immer, stehen. Helene reichte ihm wortlos ihre mit schwarzem Handschuh bekleidete Hand, die er nur zart zu berühren wagte.

»Wie! da bist du!« rief Frau Deberle. »Ich suche dich überall; es ist beinahe drei Uhr ... man sollte endlich anfangen.«

Der Saal hatte sich gefüllt. Rings an der Wand bildeten unter dem hellen Lichte eines Leuchters die Eltern mit ihren Stadttoiletten einen ersten Rand. In der Mitte des Raumes bewegte sich die kleine lärmende Gesellschaft. Es waren fast fünfzig Kinder, in der buntscheckigen Heiterkeit ihrer hellen Kostüme, unter denen Blau und Rosa vorherrschten. Manchmal wandte sich in dem Gewirr von Bändern und Spitzen, von Samt und Seide ein Gesicht, ein rosiges Näschen, zwei blaue Augen, ein lachender oder schmollender Mund. Da waren auch die Kleinen, nicht größer als ein Schaftstiefel, die sich zwischen zehnjährige Burschen mengten und von den Müttern aus der Ferne vergeblich gesucht wurden. Manche Knaben blieben linkisch neben Mädchen stehen, die sich mit dem Rauschen ihrer Gewänder vergnügten. Andere zeigten sich schon sehr unternehmend, stießen Nachbarinnen, die sie nicht kannten, mit den Ellenbogen und lachten ihnen aufmunternd ins Gesicht. Aber die kleinen Mädchen blieben die Königinnen. In Gruppen zu drei oder vier Freundinnen rumorten sie auf den Stühlen herum und plapperten so laut, daß man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte. Aller Augen waren auf den roten Vorhang gerichtet.

»Achtung!« rief der Doktor, dreimal an die Türe des Eßzimmers klopfend.

Der Vorhang öffnete sich langsam, und im Türrahmen erschien ein Puppentheater. Stille herrschte. Plötzlich sprang Hanswurst hinter der Kulisse mit einem lauten »Quiek« hervor, so wild und unbändig, daß einer der kleinen Jungen mit einem erschreckten Ruf antwortete. Es war eins jener gräßlichen Stücke, in welchen Hanswurst, nachdem er den Polizisten genasführt hat, den Schutzmann umbringt und in toller Lustigkeit alle göttlichen und menschlichen Gesetze mit Füßen tritt. Bei jedem Stockhieb, der die hölzernen Köpfe spaltete, stieß das unerbittliche Publikum helles Gelächter aus. Die Mädchen klatschten und die Jungen lachten mit offenem Munde.

»Das macht ihnen Spaß!« flüsterte der Doktor.

Er hatte seinen Platz neben Helene gewählt, die nicht minder lustig als die Kinder war. Und er, hinter ihr sitzend, berauschte sich an dem Dufte ihres Haares. Bei einem Stockschlage, der besonders kräftig und laut ausfiel, drehte er sich herum und sagte:

»Das ist wirklich gar zu drollig!«

Jetzt mischten sich die aufgeregten Kinder in das Stück. Sie gaben den Schauspielern Antworten. Ein Mädchen, welches das Stück kennen mochte, erklärte, was nun an die Reihe kommen würde ... »Jetzt wird er seine Frau totmachen ... jetzt wird man ihn aufhängen ...« Die kleine Levasseur, die jüngste, die kaum zwei Jahre war, rief plötzlich:

»Mama! man sollte ihm bloß trocken Brot zu essen geben!«

Und dann hagelte es gute Ratschläge. Unterdessen suchte Helene unter den Kindern.

»Ich sehe Jeanne nicht. Ob sie sich amüsiert?«

Da neigte sich der Doktor, legte den Kopf neben den ihren und flüsterte:

»Dort unten steht sie, zwischen dem Harlekin und der Normannin – sehen Sie die Nadeln ihrer Frisur? Sie lacht aus vollem Herzen.«

So blieb er gebeugt und fühlte die laue Wärme von Helenes Gesicht an seiner Wange. Bis zu diesem Augenblick war ihnen kein Geständnis entschlüpft; dies Stillschweigen beließ sie in jener Vertraulichkeit, die durch eine unbestimmte Verwirrung seit einiger Zeit getrübt war. Aber inmitten dieses reizenden Lachens, angesichts dieser Buben und Mädchen, wurde Helene wieder zum Kinde und ließ sich gehen, während der Atem Henris ihren Nacken fächelte. Die dumpfen Stockschläge des Hanswursts ließen sie wohlig erschauern, und sie wandte sich mit leuchtenden Augen um.

»Ach Gott! wie drollig das ist! Ei! wie sie zuschlagen!«

Er antwortete leise:

»Oh! die haben auch entsprechend dicke Holzköpfe.«

Das war alles, was ihr Herz fand. Sie wurden beide wieder zu Kindern. Das wenig vorbildliche Leben Hanswursts ermüdete. Und bei der Lösung des Dramas, als der Teufel erschien und es eine gewaltige Prügelei und ein allgemeines Abwürgen setzte, drückte Helene die auf der Lehne ihres Stuhles ruhende Hand Henris, während das schreiende und in die Hände klatschende Kinderparterre in Ekstase die Stühle bearbeitete.

Der Vorhang war gefallen. Da meldete Pauline mitten im Getöse Herrn Malignon mit der ihr zur Gewohnheit gewordenen Redensart:

»Da ist der schöne Malignon!«

Er kam außer Atem, die Stühle über den Haufen rennend.

»Nein! ist das eine Idee, alles zugeschlossen zu halten!« rief er erstaunt stehenbleibend. »... Man könnte meinen, man käme in ein Totenhaus.«

Und sich nach Frau Deberle umwendend:

»Sie können sich rühmen, mich in Trab gebracht zu haben! Vom frühen Morgen an suche ich Perdiguet, meinen Komiker. Sie wissen doch ... Nun, da ich seiner nicht habe habhaft werden können, bringe ich Ihnen den langen Morigot ...«

Der lange Morigot war ein Dilletant, der die Salons mit Taschenspielerkünsten unterhielt. Man wies ihm ein Tischchen an; er brachte seine hübschesten Nummern, konnte aber seine kleinen Zuschauer nicht fesseln. Die Kleinen langweilten sich bald; Hosenmätze schliefen, an den Fingern lutschend, ein. Andere, größere, drehten den Kopf, lächelten den Eltern zu, die selbst mit Zurückhaltung gähnten. So wurde es allgemein als Erleichterung empfunden, als der lange Morigot sich endlich entschloß, seine Siebensachen zu packen.

»Oh! er ist in seinem Fache sehr tüchtig,« flüsterte Malignon Frau Deberle zu.

Der rote Vorhang hatte sich von neuem geteilt, und ein magisches Schauspiel hatte alle Kinder auf die Beine gebracht.

Unter dem hellen Licht der Krone und der beiden zehnarmigen Leuchter dehnte sich der Eßsaal mit seinem langen, wie für ein großes Essen gedeckten und geschmückten Tische. Es lagen fünfzig Gedecke auf. In der Mitte und an beiden Enden entfalteten sich in niedrigen Körben Blumensträuße, durch hohe Fruchtschüsseln geschieden, auf denen allerlei Überraschungen lagen, die in ihren goldenen und buntbemalten Papieren weithin glitzerten. Dann standen da Baumkuchen, Pyramiden von überzuckerten Früchten, Berge belegter Brötchen und weiter unten viele Schüsseln voll Zuckerwerk und Backwaren; die Torten, Mohrenköpfe und Sahnerollen wechselten mit Biskuits, Knackmandeln und Teegebäck. Fruchtsäfte leuchteten in kristallenen Vasen. Schlagsahne füllte Porzellanschüsseln. Und die handhohen Champagnerflaschen, der Größe der kleinen Gäste angepaßt, blitzten um den Tisch mit ihren silbernen Hälsen. Es war, als sähe man eins jener Riesenleckermahle, das die Kinder im Traume sehen ...

»Nun vorwärts! den Damen den Arm gereicht!« sagte Madame Deberle und amüsierte sich über die Verzückung der Kinder.

Aber das Defilee wollte nicht zustande kommen. Lucien hatte triumphierend Jeannes Arm genommen und nahm die Tete. Die nächsten hinter ihm kamen schon ein wenig ins Gedränge. Die Mamas mußten sie anstellen. Und sie blieben zur Aufsicht, besonders hinter den kleinen Schlingeln. In Wahrheit schienen die Gäste zuerst verlegen. Man sah sich an, wagte nicht, all diese guten Sachen anzufassen, beunruhigt von dieser verkehrten Welt, in welcher die Kinder am Tische saßen und die Eltern standen. Endlich faßten die größeren Mut und langten zu. Als dann die Mütter sich dazwischen mengten, die Baumkuchen zerschneidend und was ihnen nahe saß, bedienend, kam Leben in die kleinen Gäste, und die Schmauserei wurde bald sehr geräuschvoll. Das schöne Ebenmaß der Tafel war wie durch einen Wirbelwind weggefegt. Alles kreiste zur gleichen Zeit inmitten ausgestreckter Arme, die die Schüsseln beim Vorüberwandern leerten. Die beiden kleinen Fräulein Berthier, Blanche und Sophie, lachten selig ihre Teller an, auf denen alles zu finden war, Backwerk, Schlagsahne, Zuckerwerk und Früchte. Die fünf Fräulein Levasseur ließen sich in einem Winkel allerhand Leckereien schmecken, während Valentine, stolz auf ihre vierzehn Jahre, die verständige Dame spielte und sich mit ihrem Nachbarn beschäftigte. Lucien, um sich galant zu zeigen, entkorkte eine Champagnerflasche so ungeschickt, daß er den Inhalt fast auf seine kirschseidene Hose verschüttete. Das gab neuen Lärm.

»Willst du wohl die Flasche in Ruhe lassen!«

»Ich entkorke den Champagner,« rief Pauline, die sich auf eigene Rechnung amüsierte. Sobald der Diener kam, riß sie ihm die Schokoladenkanne aus der Hand und fand ihr Vergnügen daran, die Tassen zu füllen – was sie übrigens mit der Geschicklichkeit und Geschwindigkeit eines Kellners tat. Dann trug sie Eis und Fruchtsäfte auf, ließ alles im Stich, um eine der kleinen Damen vollzustopfen, die man übergangen hatte, und wandte sich mit Fragen bald an die eine, bald an die andere.

»Was möchtest du denn gern, mein Dicker? He? Ein Sahnetörtchen? Warte, mein Lieber, ich will dir Apfelsinen zuschanzen. – Eßt doch, ihr Dummerchen! Spielen könnt ihr doch nachher!«

Frau Deberle mahnte wiederholt, man solle die Kleinen in Ruhe lassen. Sie würden sich schon nehmen und kämen allein ganz gut zurecht. In einer Ecke des Raumes standen Helene und einige Damen und amüsierten sich über die Schwelgerei.

All diese rosigen Mäulchen kauten und knabberten, daß man die weißen Zähne blitzen sah. Und nichts war possierlicher, als die Manieren von wohlerzogenen Kindern zu beobachten, die sich mit der Unerzogenheit von jungen Wilden gehen ließen. Sie nahmen ihre Gläser in beide Hände, um sie bis auf die Neige zu leeren, und besudelten ihre Kleider. Das Lärmen schwoll an.

Man plünderte die letzten Schüsseln. Als sie die Töne einer Quadrille im Salon hörte, tanzte Jeanne auf ihrem Stuhle, und als ihr die Mutter Vorhaltungen machte, jauchzte sie:

»Oh! Mama! Ich fühle mich heute so schrecklich wohl!«

Die Musik hatte auch andere Kinder auf die Beine gebracht. Nach und nach leerte sich die Tafel, und bald saß nur noch ein einzelner dicker Knirps daran, der sich über das Klavier und dessen Töne zu mokieren schien. Eine Serviette um den Hals, mit dem Kinn auf der Schüssel, so klein er war, öffnete er die großen Kulleraugen und schob den Mund vor, sobald ihm die Mutter Schokolade einlöffelte. Die Tasse wurde leer und noch immer schmatzend und die Augen weit aufreißend ließ er sich die Lippen wischen.

»Sapperlot! ein Goldjunge! Dem geht's gut! das laß ich mir gefallen!« sagte Malignon, der ihm träumerisch zusah.

Dann kam die Verteilung der »Überraschungen« an die Reihe. Jedes Kind nahm, sobald es die Tafel verließ, eine der großen vergoldeten Papiertüten an sich. Allerhand Spielzeug, drollige Kopfbedeckungen, Vögel und Schmetterlinge kamen daraus zum Vorschein. Jede Überraschung enthielt eine Knallpille, die von den erfreuten Knaben tapfer abgeschossen wurde, während die Mädchen die Augen schlossen, und wiederholt ansetzen mußten.

Man hörte einen Augenblick nur das dünne Geknatter dieser Kanonade. Und inmitten solchen Getöses gingen die Kinder in den Saal zurück, wo das Piano unablässig die verschiedenen Quadrillefiguren spielte.

»Ich könnte wohl noch ein Törtchen vertragen,« sagte Fräulein Aurélie leise und nahm an der Tafel Platz.

Nun setzten sich mehrere Damen an die frei gewordene, noch immer mit dem Durcheinander dieses gewaltigen Nachtisches bedeckte Tafel. Ein Dutzend war so klug gewesen, mit dem Essen zu warten. Da sie keines Dieners habhaft werden konnten, übernahm Malignon diensteifrig dieses Amt. Er leerte die Schokoladenkanne, prüfte den Inhalt der Flaschen, ja es gelang ihm, noch einiges Eis aufzutreiben. Aber während er den Galanten spielte, kam er immer wieder auf die »seltsame Schrulle« zurück, die Jalousien geschlossen zu halten.

»Wahrhaftig,« sagte er immer wieder, »man sitzt hier wie in einem Keller.«

Helene plauderte mit Frau Deberle, die indessen bald in den Salon zurückkehrte. Da fühlte sie sich leise an den Schultern berührt. Der Doktor stand lächelnd hinter ihr.

»Sie langen ja gar nicht zu?« fragte er.

Und in diese Allerweltsfrage legte er eine so lebendige Bitte, daß sie eine große Verwirrung überkam. Aufregung bemächtigte sich ihrer inmitten der Fröhlichkeit dieser hüpfenden und schreienden kleinen Welt. Mit rosigen Wangen, leuchtenden Augen lehnte sie zuerst ab.

»Nein, danke, nichts von allem!«

Als er aber auf seiner Bitte bestand, sagte sie, um ihn loszuwerden:

»Nun, dann meinethalben eine Tasse Tee!«

Er lief und brachte die Tasse; seine Hände zitterten, als er sie reichte. Und während sie trank, näherte er sich ihr mit dürstenden Lippen. Da wich sie zurück, reichte ihm die leere Tasse und eilte davon, ihn im Eßzimmer mit Fräulein Aurélie allein lassend, die langsam ihren Kuchen kaute und planmäßig die Schüsseln untersuchte.

Das Klavier hämmerte im Hintergrunde des Saales. Und von einem Ende zum andern wogte der Ball in einer wunderhübschen Possierlichkeit. Man scharte sich um die Quadrille, in welcher Jeanne und Lucien tanzten. Der kleine Marquis verhedderte ein bißchen seine Figuren. Es ging erst gut, wenn er Jeanne anfassen mußte. Dann legte er den Arm um sie und schwenkte sie herum. Jeanne schaukelte sich wie eine große Dame. Erst war sie ärgerlich, daß er ihr Kleid zerdrückte, dann aber riß auch sie das Vergnügen mit fort. Sie umfaßte ihrerseits den kleinen Marquis und hob ihn vom Boden. Und der sträußchenbestickte Atlasfrack mengte sich mit der mit Blumen und seltsamen Vögeln geschmückten Robe. Die beiden Porzellanfigürchen zeigten jetzt Anmut und Besonderheit einer Glasschranknippessache.

Nach der Quadrille rief Helene Jeanne zu sich, ihr Kleid wieder zurechtzuzupfen.

»Lucien ist's gewesen!« schmollte die Kleine, »er drückt mich so fest – ach! er ist unausstehlich.«

Die Eltern im Saale lächelten. Als sich das Klavier wieder hören ließ, fingen alle Knirpse an, umherzuspringen. Sobald sie aber sahen, daß man sie beobachtete, wurden sie verlegen und stellten die Hopserei ein. Manche verstanden zu tanzen; die Mehrzahl trampelte in Unkenntnis der Figuren ungelenk herum.

Pauline mengte sich dazwischen.

»Ich muß mich ihrer annehmen,« sagte sie. »O diese schwerfälligen Bengels!«

Sie sprang mitten in die Quadrille hinein und griff zwei der kleinen Tänzer bei den Händen. Den einen links, den andern rechts, gab sie dem Tanz einen solchen Schwung, daß das Parkett krachte. Man hörte nur noch das wüste Hacken der kleinen Füße und das taktmäßige Hämmern des Klaviers. Einige der Großen mischten sich ebenfalls ein. Frau Deberle und Helene führten ein paar schüchterne kleine Mädchen, die nicht zu tanzen wagten, ins dichteste Gedränge. Sie leiteten die Figuren, stießen die Tänzer zurecht und bildeten die Runden. Die Mütter schoben ihnen die kleinsten Knirpse zu, damit auch sie das Vergnügen hätten, ein paar Augenblicke im Saale herumzuhüpfen. Der Ball erreichte den Höhepunkt. Die Tänzer machten ihrer Freude Luft, lachten und schubsten sich wie in einer Schulklasse, die plötzlich in Abwesenheit des Lehrers von toller Freude gepackt wird. Es war wirklich der Galaabend eines Feenmärchens ...

»Man erstickt hier,« sagte Malignon, »ich muß an die frische Luft.«

Er ging, die Tür des Salons weit öffnend, hinaus. Das volle Tageslicht drang mit blassem Lichtschimmer, der den Glanz der Lampen und Kerzen trübte, von der Straße herein. Und alle Viertelstunden riß nun Malignon die Türen auf.

Das Klavier setzte nicht aus. Die kleine Guiraud mit ihrer schwarzen Elsaßschleife auf dem blonden Haar tanzte am Arm eines Harlekin, der zwei Kopf größer war als sie selbst. Ein Schotte schwenkte Marguerite Tissot so geschwind herum, daß sie ihre Milchkanne verlor. Die beiden unzertrennlichen Fräulein Berthier, Blanche und Sophie, hüpften zusammen umher, während ihre Schellen lustig klingelten. Und immer sah man im Trubel ein Fräulein Levasseur; die Rotkäppchen schienen sich zu vervielfältigen; überall sah man Federbüsche und roten Atlas mit schwarzen Samtstreifen.

»Ich kann nicht mehr,« keuchte Helene, die sich eben an die Tür des Eßzimmers gelehnt hatte.

Sie wehte sich, vom Tanze inmitten des kleinen Volks erhitzt, mit dem Fächer Kühlung zu. Und auf ihren Schultern verspürte sie den Atem Henris, der immer noch hinter ihr stand. Da wußte sie, daß er sprechen wollte, hatte aber nicht mehr die Kraft, seinem Geständnis zu entschlüpfen. Er näherte sich – er flüsterte leise, sehr leise in ihr Haar hinein:

»Ich liebe Sie! Oh! ich liebe Sie!«

Es war wie ein Gluthauch, der sie vom Kopf bis zu den Füßen versengte. Gott im Himmel! Henri hatte gesprochen. Nun würde sie nicht mehr den süßen Frieden der Unwissenheit heucheln können. Sie verbarg ihr blutübergossenes Gesicht hinter dem Fächer. Die Kinder klappten in der letzten Quadrille stärker mit den Hacken. Silberhelles Lachen erklang. Vogelstimmchen ließen Jauchzer hören. Frische entstieg dieser Engelsrunde, die in einen Galopp kleiner Teufelchen überging.

»Ich liebe Sie! oh, ich liebe Sie!« wiederholte Henri.

Sie bebte noch immer, wollte nichts mehr hören. Verwirrt flüchtete sie ins Eßzimmer. Aber der Raum war leer; bloß Herr Letellier schlummerte friedlich in einem Sessel. Henri war ihr gefolgt und wagte auf die Gefahr eines öffentlichen Skandals hin ihre Handgelenke zu fassen. Sein Gesicht war verzerrt und zuckte in Leidenschaft.

»Ich liebe Sie ... ich liebe Sie ...«

»Lassen Sie mich gehen,« flüsterte sie schwach, »... lassen Sie mich! Sie sind von Sinnen!«

Man hörte nebenan die Schellen von Blanche Berthier, die die gedämpften Töne des Klaviers begleiteten, und Frau Deberle und Pauline klatschten mit den Händen den Takt dazu. Es war eine Polka. Helene konnte sehen, wie Jeanne und Lucien sich lustig lachend umschlungen hielten.

Da machte sie sich mit einer heftigen Bewegung los und flüchtete in die vom hellen Tageslicht erfüllte Küche. Die plötzliche Helle blendete sie. Sie hatte Furcht, war außerstande, in den Saal zurückzukehren. Sie fühlte, daß die Leidenschaft auf ihrem Gesichte zu lesen war.

Und quer durch den Garten laufend, verfolgt vom Lärm des Festes, rannte sie die Treppen in ihre Wohnung hinauf.


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