Emile Zola
Ein Blatt Liebe
Emile Zola

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5

Helene hatte, wie Doktor Bodin es vorausgesagt, vierzehn Tage das Zimmer hüten müssen.

Eines Morgens stand sie vor ihrem Bücherschrank, als Jeanne hüpfend und in die Hände klatschend hereintrat.

»Mama! Ein Soldat, ein Soldat!«

»Was, ein Soldat?« sagte die junge Mutter, »was soll ich denn mit deinem Soldaten?«

Aber das Kind hüpfte und rief in einem fort: »Ein Soldat, ein Soldat!«, ohne sich weiter zu erklären. Da stand Helene, weil sie die Zimmertür offen gelassen hatte, auf und war sehr erstaunt, sich im Vorzimmer einem Soldaten gegenüber zu sehen. Rosalie war ausgegangen. Jeanne mußte trotz des ausdrücklichen Verbotes der Mutter auf dem Flur gespielt haben.

»Was wünschen Sie?« fragte Helene.

Der kleine Krieger, verwirrt durch die Erscheinung einer so schönen und in ihrem spitzenbesetzten Hauskleide so weißen Dame, scharrte mit dem Fuße auf den Dielen, grüßte und stotterte:

»Verzeihen Sie ... entschuldigen Sie ...«

Mehr Worte fand er nicht und wich, immer mit den Füßen scharrend, zur Wand zurück. Als er nicht mehr weiter rückwärts konnte und sah, daß die Dame mit unwillkürlichem Lächeln wartete, wühlte er gewaltig in seiner rechten Tasche, aus der er ein blaues Schnupftuch, dann ein Messer und ein Stück Brot hervorzog. Er betrachtete jeden Gegenstand und steckte ihn wieder ein, dann fuhr er in die linke Tasche. Dort fanden sich ein Ende Bindfaden, zwei verrostete Nägel und in die Hälfte eines Zeitungsblattes gewickelte Heiligenbilder. Er vergrub alles wieder in der Tiefe seiner Tasche, dann klopfte er sich auf die Schenkel. Und verblüfft stotterte er:

»Verzeihen Sie ... entschuldigen Sie ...«

Aber plötzlich fuhr er mit dem Finger an die Nase, gutmütig brummelnd. Dummkopf! Er besann sich. Er machte zwei Knöpfe seines Waffenrocks auf, fuhr in die Brusttasche, wobei er den Arm bis zum Ellenbogen vergrub. Endlich angelte er einen Brief heraus und schüttelte ihn heftig, wie um ihn vom Staube zu reinigen, bevor er ihn der vornehmen Dame übergab.

»Ein Brief für mich; wissen Sie das auch bestimmt?« fragte Helene.

Der Briefumschlag trug ihren Namen und ihre Anschrift in grober bäurischer Schrift. Und sobald sie angefangen hatte zu verstehen, bei jeder Zeile durch Schnörkel und seltsame Rechtschreibung aufgehalten, lächelte sie. Der Brief war von Rosalies Tante, und Zephyrin Lacour hieß der Überbringer. Da nun Zephyrin Rosalies Liebster war, bat sie also die gnädige Frau, den Kindern zu erlauben, sich sonntags einander zu besuchen. Und am Schlusse standen die Worte: »Der Herr Pfarrer erlaubt's.«

Helene faltete bedächtig den Brief zusammen. Während sie ihn entzifferte, hatte sie mehrmals den Kopf gehoben, um den Soldaten zu mustern. Er stand noch immer gegen die Wand gezwängt, und seine Lippen bewegten sich. Er schien jeden Satz mit einer leichten Bewegung des Kinns zu betonen. Ohne Zweifel wußte er den Brief auswendig.

»So! Sie sind also Zephyrin Lacour?«

Er fing an zu lachen und straffte den Hals.

»Treten Sie näher, mein Bester. Bleiben Sie doch nicht da stehen!«

Er führte den Befehl aus, hielt sich aber dicht an der Tür, während Helene sich setzte.

»Sie haben Beauce vorige Nacht verlassen?« fragte Helene in der Absicht, nähere Auskunft zu erhalten.

»Ja, gnädige Frau!«

»Und nun sind Sie in Paris! Das tut Ihnen nicht leid?«

»Nein, gnädige Frau!«

Zephyrin wurde kühner. Er sah sich im Zimmer um. Die blauen Plüschvorhänge erregten seine Bewunderung.

»Rosalie ist nicht da,« fuhr Helene fort, »aber sie wird bald zurück sein. Ihre Tante schreibt mir, Sie seien ihr guter Freund!«

Der Krieger gab keine Antwort, senkte verlegen den Kopf und fing wieder an, mit der Fußspitze auf den Dielen zu scharren.

»Nun, wenn Sie Ihre Militärzeit hinter sich haben, sollen Sie Rosalie heiraten?«

»Gewiß,« versetzte der Krieger errötend, »ganz gewiß. Das steht bombenfest.«

So durch das freundliche Wesen der Dame gewonnen, drehte Zephyrin erst sein Käppi zwischen den Fingern, dann legte er eine Hand mit gespreizten Fingern aufs Herz. Helene war ernst geworden. Der Gedanke, einen Soldaten in ihre Küche einzuführen, beunruhigte sie. Der Herr Pfarrer mochte noch so viel erlauben, ihr kam es nicht ungefährlich vor. Auf dem Lande ist man frei und ungeniert. Liebschaften sind da in flottem Gange. Sie ließ ihre Befürchtungen durchblicken. Als Zephyrin begriffen hatte, war's ihm, als sollte er vor Lachen platzen. Aus Achtung vor der Dame hielt er an sich und schob sein Käppi von einer Hand in die andere. Als Helene noch immer schwieg, glaubte er zu verstehen, daß sie in seine Treue Zweifel setzte. Er rief mit Feuer:

»Sie denken vielleicht, daß ich Rosalie hintergehen will? Wenn ich Ihnen aber doch sage: Ich habe versprochen, sie zu heiraten! und das wird wahr bleiben, so wahr die Sonne uns bescheint...«

In diesem Augenblick wirbelte Jeanne tanzend ins Zimmer.

»Rosalie! Rosalie!« sang sie nach einer tänzelnden Melodie, die sie selbst erfand.

Durch die offene Tür hörte man das Keuchen des sich mit ihrem Korbe schleppenden Dienstmädchens. Zephyrin wich in eine Ecke der Stube zurück. Ein stummes Lachen spaltete seinen Mund von einem Ohr zum andern, und seine tiefliegenden Augen leuchteten in bäurischer Durchtriebenheit. Rosalie trat geradewegs ins Zimmer, da sie die Gewohnheit hatte, die eingekauften Eßwaren der Herrin zu zeigen.

»Madame, ich habe Blumenkohl gekauft... Sehen Sie nur! zwei Köpfe für achtzehn Sous ... das ist nicht teuer.«

Sie hielt ihren halboffenen Korb vor sich, als sie endlich den grinsenden Zephyrin gewahrte. Schrecken nagelte Rosalie an die Dielen. Es dauerte Sekunden, – sie hatte ihn jedenfalls in der Uniform nicht gleich erkannt. Ihre runden Augen vergrößerten sich, ihr fettes Gesicht wurde blaß, während ihre schwarzen Haare sich sträubten.

»Oh!« sagte sie bloß.

Und vor Erstaunen ließ sie den Korb fallen. Die Vorräte rollten auf den Teppich, die Blumenkohlköpfe, Zwiebeln und Erdäpfel. Jeanne stieß einen Freudenruf aus und warf sich mitten im Zimmer auf die Erde und jagte hinter den Erdäpfeln her, bis unter die Sessel und den Spiegelschrank. Rosalie, noch immer vor Schreck gelähmt, rührte sich nicht:

»Wie! du bist's! Was machst du denn da? sprich! he? Was machst du denn da?«

Sie drehte sich nach Helene um und fragte:

»Haben Sie ihn denn hier hereingelassen?«

Zephyrin sagte nichts, sondern begnügte sich, verschmitzt zu blinzeln. Da stiegen Rosalie die Rührungstränen in die Augen, und um ihre Freude über das Wiedersehen zu bezeugen, fand sie nichts Gescheiteres, als sich über ihren Krieger lustig zu machen.

»Nanu!« sagte sie an ihn herantretend, »du bist nett, sauber, in dem Kasten da! Hätte an dir vorbeigehen können und würde nicht einmal ›Gott grüß dich‹ gesagt haben ... Was bist du denn geworden? Siehst aus, als trägst du dein Schilderhaus auf dem Buckel! Und geschoren haben sie dich auch! Herr Gott, siehst du häßlich aus! bist du häßlich!«

Zephyrin, dem diese Worte in die Nase gingen, entschloß sich endlich, den Mund aufzumachen.

»Das ist nicht meine Schuld ... ganz sicher ... wenn man dich zu den Soldaten steckte, dann wollten wir erst mal sehen ...« Sie hatten ganz und gar vergessen, wo sie sich befanden; das Zimmer, die gnädige Frau und Jeanne, die noch immer nach Erdäpfeln auf den Dielen suchte. Das Dienstmädchen hatte sich vor dem kleinen Soldaten aufgepflanzt und die Hände über der Schürze gefaltet.

»So! Geht denn alles gut da unten?«

»Ja, bis auf Guignards Kuh, die ist krank geworden. Der Schmied ist gekommen ... und hat ihnen wohl gesagt, sie hätte Wasser.«

»Wenn sie voll Wasser ist, dann ist's aus mit ihr – Sonst geht alles gut?«

»Ja doch, ja doch – der Feldhüter hat sich den Arm gebrochen. Vater Caniret ist gestorben, der Herr Pfarrer hat seinen Geldbeutel verloren mit noch achtzig Sous drin, als er aus Grandval heimkam ... Sonst geht alles gut.«

Sie schwiegen, schauten einander mit funkelnden Augen und zusammengekniffenen Lippen an. Das mußte so ihre Art sein, einander zu umarmen, denn sie hatten sich nicht einmal die Hände gereicht. Rosalie hatte sich endlich besonnen und war untröstlich, als sie ihr Gemüse auf der Erde liegen sah. Eine schöne Bescherung! Er verführte sie zu netten Dingen. Madame hätte ihn auf der Treppe abfertigen sollen. Brummend und scheltend bückte sie sich und tat die Erdäpfel, die Zwiebeln und den Blumenkohl zum großen Verdruß Jeannes wieder in den Korb. Und als sie in die Küche ging, ohne Zephyrin weiter zu beachten, hielt Helene sie zurück, um ihr, gerührt durch die ruhige Gesundheit der beiden Liebesleute, zu sagen:

»Höre, meine Tochter! Deine Tante hat mich gebeten, dem Burschen zu erlauben, dich sonntags zu besuchen. Er wird nachmittags kommen, und du wirst dich bemühen, ihm den Dienst ein bißchen zu erleichtern.«

Rosalie blieb stehen und wandte bloß den Kopf. Sie war es brummend zufrieden.

»Oh! Madame! Er wird mir nette Unruhe machen!«

Und über ihre Schulter hin warf sie Zephyrin einen Blick zu und schnitt ihm zärtliche Grimassen. Der kleine Soldat verharrte reglos, den Mund in stummem Lachen verzogen. Dann zog er sich langsam zurück, dankte, sein Käppi gegen das Herz drückend. Die Tür wurde geschlossen, aber er grüßte noch immer.

»Mama, ist das der Bruder von Rosalie?« fragte Jeanne.

Helene blieb angesichts dieser Frage verlegen. Sie bedauerte die in einer gutmütigen Regung gegebene Erlaubnis. So suchte sie nach einer neuen Erklärung und sagte:

»Nein, er ist ihr Vetter.«

»Ach!« sagte das Kind ernst.

Rosalies Küche ging nach dem Garten des Doktor Deberle hinaus. Im Sommer wuchsen die Zweige der Rüstern durch das sehr große Fenster. Es war der luftigste Raum der Wohnung. Weiß von Licht, so hell, daß Rosalie einen blauen Kattun als Vorhang hatte anbringen müssen, den sie nachmittags zuzog. Sie beklagte nur die Winzigkeit dieser Küche, die sich in Gestalt eines Vierecks in die Länge dehnte, mit dem Herde zur Rechten, einen Tisch und das Büfett zur Linken. Aber sie hatte Geräte und Möbel so geschickt untergebracht, daß sie sich neben dem Fenster einen freien Winkel geschaffen hatte, wo sie des Abends arbeitete.

Am nächsten Samstag gegen Abend hörte Helene ein solches Rumoren in der Küche, daß sie hinüberging.

»Ich scheuere, Madame,« erklärte Rosalie schweißtriefend auf dem Boden gekauert und beschäftigt, die Steinfliesen mit ihren kurzen Armen zu waschen.

Niemals hatte sie ihre Küche so schön gemacht. Eine Braut hätte drin schlafen können, so weiß war alles. Tisch und Schrank schienen neu behobelt, sie hatte ihre Finger dabei wund gerieben. Helene blieb einen Augenblick stehen, dann lächelte sie und ging.

Nun gab es an jedem Samstag das gleiche Reinemachen; vier volle Stunden wurden in Staub und Wasser verbracht. Rosalie wollte am Sonntag Zephyrin ihre Sauberkeit vorführen. An diesem Tage empfing sie Besuch. Ein Spinngewebe würde ihr Schande gemacht haben. Wenn alles um sie her blitzte, wurde sie umgänglich und fing zu singen an. Um drei Uhr wusch sie sich noch einmal die Hände und setzte eine neue Bandhaube auf. Dann zog sie den Kattunvorhang halb zu und erwartete Zephyrin inmitten ihrer schönen Ordnung, in einem Geruch von Thymian und Lorbeerblatt.

Um halb vier Uhr pünktlich kam Zephyrin. Er spazierte auf der Straße, bis die Uhr des Stadtviertels geschlagen hatte. Rosalie hörte seine schweren Schuhe gegen die Stufen poltern und öffnete, wenn er auf dem Flur stehenblieb. Sie hatte ihm verboten, die Klingelschnur zu ziehen. Jedesmal wechselten sie die gleichen Worte.

»Du bist's?«

»Ja, ich bin's.«

Und sie blieben Nase an Nase stehen mit funkelnden Augen und verkniffenem Munde. Dann folgte Zephyrin Rosalie, aber sie ließ ihn erst eintreten, wenn er Tschako und Säbel abgenommen hatte. Sie mochte das durchaus nicht in der Küche haben, sondern versteckte beides hinter einem Schranke. Dann setzte sie ihren Liebsten neben das Fenster in die ausgesparte Ecke und erlaubte ihm nicht, sich zu rühren.

»Verhalte dich still! Du kannst mir zusehen, wie ich die Mahlzeit für die Herrschaft richte, wenn du willst.«

In der ersten Zeit glaubte Helene, das Pärchen überwachen zu sollen. Sie kam manchmal unvermutet, aber immer fand sie Zephyrin in seinem Winkel zwischen Tisch und Fenster neben dem Ausguß, der ihn zwang, die Beine an den Leib zu ziehen. Sobald Madame erschien, erhob er sich kerzengerade, wie beim Appell, und rührte sich nicht. Wenn Madame das Wort an ihn richtete, antwortete er nur durch strammes Grüßen und respektvolles Brummeln. Nach und nach beruhigte sich Helene, da sie sah, daß die beiden immer nur das Gesicht ruhiger gesetzter Liebesleute zeigten.

An einem Sonntag ging Helene wieder einmal nach der Küche. Ihre Pantoffeln dämpften den Schall ihrer Schritte; sie blieb auf der Schwelle stehen, ohne daß Magd oder Soldat sie bemerkt hätten. Zephyrin saß in seinem Winkel vor einer Tasse dampfender Fleischbrühe. Rosalie, der Tür den Rücken zugewendet, schnitt ihm ein paar lange Brotschnitten ab.

»Da, da iß, mein Kleiner. Du marschierst zu viel, das höhlt dir ja den Magen aus ... So! hast du genug oder willst du noch mehr?«

Und sie umfaßte ihn mit einem zärtlich besorgten Blick. Zephyrin setzte sich breitspurig vor die Tasse und verschlang die erste Schnitte mit einem Haps. Sein hafergelbes Gesicht wurde rot im Dampfe der Fleischbrühe, der es badete.

»Sapperlot! Was für eine Kraft! Sage mal, was tust du eigentlich in die Brühe?«

»Warte, wenn du die Birnen gern ißt ...«

Aber als sie sich umwandte, gewahrte sie ihre Herrin. Rosalie stieß einen leisen Schrei aus. Beide blieben wie versteinert. Dann entschuldigte sich Rosalie mit jähem Wortschwall.

»Es ist mein Anteil, Madame, wahrhaftig! ich würde mir keine Brühe genommen haben. Glauben Sie mir, bei allem, was mir heilig ist! Ich hab zu ihm gesagt: ›Wenn du meinen Anteil an der Suppe haben willst, will ich ihn dir geben.‹ Na, du, so rede doch! Du weißt doch, daß es so ist und nicht anders!«

Und beunruhigt vom Schweigen ihrer Herrin fuhr sie rührselig fort:

Er war zum Sterben hungrig, Madame; er hatte mir eine rohe Möhre wegstiebitzt ... man füttert sie gar so schlecht! Und dann denken Sie doch: wie weit er gelaufen ist, den ganzen Fluß entlang, ich weiß gar nicht einmal wo überall – Sie selbst, Madame, würden zu mir gesagt haben: ›Rosalie, gib ihm doch eine Tasse Brühe.‹«

Angesichts des kleinen Soldaten, der mit vollem Munde dastand, ohne daß er zu schlucken wagte, konnte Helene nicht streng bleiben.

»Nun, meine Tochter! Wenn der Bursche Hunger hat, wird man ihn schon zum Essen bitten müssen – ich erlaube es dir.«

Sie hatte angesichts dieser beiden jungen Leute jene Rührung gefühlt, welche sie schon einmal veranlaßt, Milde zu üben. Die Liebe der beiden hatte eine so ruhige Sicherheit, daß sie die schöne Ordnung des Küchengeräts nicht im mindesten störte.

»Sag, Mama,« fragte am Abend Jeanne nach langer Überlegung, »umarmt Rosalie denn ihren Vetter niemals, warum denn nicht?«

»Und warum sollen sie sich denn umarmen?« sagte die Mutter. »Wenn ihr Geburtstag ist, da werden sie sich schon umarmen ...«


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