Emile Zola
Ein Blatt Liebe
Emile Zola

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19

Als Frau Deberle Jeannes Tod erfuhr, weinte sie auf und hatte einen Nervenzusammenbruch. Es war eine lärmende Verzweiflung, die jedes Maß überschritt, Sie kam zu Helene und stürzte sich in ihre Arme. Auf ein hingeworfenes Wort hin faßte sie den Plan, der kleinen Toten ein ergreifendes Begräbnis auszurichten, und dieser Gedanke nahm sie sogleich bis in die kleinsten Einzelheiten in Anspruch. Helene blieb in Tränen aufgelöst, zerschlagen und gänzlich willenlos auf ihrem Stuhle sitzen. Herr Rambaud verlor den Kopf und willigte gern in Frau Deberles Anordnungen. Nur einmal schreckte Helene aus ihrer Versunkenheit auf, um zu sagen, daß sie Blumen wünsche, viele Blumen ...

Sogleich machte sich Frau Deberle daran, zu ihrer gesamten Bekanntschaft zu laufen und die schreckliche Neuigkeit zu verbreiten. Juliette dachte an einen Trauerzug kleiner Mädchen in weißen Kleidern, sie brauchte wenigstens dreißig und verwendete den ganzen Tag darauf, sie zusammenzuholen. Sie hatte sogar in der Beerdigungsanstalt vorgesprochen und die Behänge ausgewählt. Man würde die Gartengitter mit schwarzem Flor verkleiden und die Leiche, begraben unter einem Berg von Lilien, zur Schau stellen.

»Wenn es doch nur morgen schönes Wetter sein würde,« entschlüpfte es ihr eines Abends, als sie ihre Gänge und Laufereien besorgt hatte.

Es wurde ein strahlender Morgen. Ein blauer Himmel wölbte sich, und rein und belebend wehte ein, linder Frühlingswind. Das Begräbnis war auf zehn Uhr festgesetzt. Um neun Uhr wurde die Trauerdraperie aufgestellt, und Juliette kam den Arbeitern mit guten Ratschlägen zu Hilfe. Die weißen Behänge mit silbernen Fransen öffneten einen Gang zwischen beiden Gittertüren, die mit Lilien besteckt waren. Dann lief Frau Deberle geschwind in den Salon zurück, die Damen zu begrüßen. Der größeren Räumlichkeiten wegen sammelte sich das Trauergeleit im Doktorhause. Nur eines war ein wenig peinlich: ihr Gatte hatte schon am frühen Morgen nach Versailles fahren müssen, wie er sagte, zu einer Konsultation, die sich nicht aufschieben ließ.

Frau Berthier fand sich mit ihren beiden Töchtern als erste ein.

»Es ist kaum zu glauben, meine Liebe! Henri läßt mich im Stich... Aber Lucien! Willst du denn die Damen nicht begrüßen?«

Lucien schien sich mit seinen schwarzen Handschuhen über Sophie und Blanche zu wundern, die in Prozessionskleidern vor ihm standen. Ein seidenes Band umschloß ihre Musselinkleider, und ein bis zum Boden wallender Schleier verdeckte das Häubchen aus Tüllstickerei. Während die Mütter plauderten, musterten die drei Kinder einander. Endlich sagte Lucien: »Jeanne ist tot.«

Das Herz war ihm schwer, und er lächelte verwundert. Seit er wußte, daß Jeanne tot war, war er nicht mehr der wilde Junge. Er hatte die Dienerschaft ausgefragt, weil die eigene Mutter zu sehr in Anspruch genommen war. Also wenn man tot war, rührte man sich nicht mehr?

»Sie ist tot, sie ist tot,« echoten die beiden Schwestern mit ihren rosigen Gesichtern. »Ob wir sie noch einmal sehen werden?«

Lucien überlegte zerstreut mit offenem Munde und sagte dann bestimmt:

»Wir werden sie nicht mehr sehen.«

Unterdessen hatten sich andere weißgekleidete Mädchen eingefunden, und Lucien ging ihnen auf einen Wink der Mutter entgegen. Marguerite Tissot glich mit ihren großen Augen und dem weißen Musselinkleid einem jungfräulichen Kinde. Ihre blonden Haare schlüpften aus dem kleinen Häubchen und lagen wie ein goldgesticktes Mäntelchen unter dem Weiß des Schleiers. Ein heimliches Lächeln machte bei den Anwesenden die Runde, als sich die fünf Fräulein Levasseur zeigten. Alle waren gleich gekleidet. Die Älteste ging voran und die Jüngste bildete den Schluß wie beim Ausflug eines Mädchenpensionates, und ihre weiten bauschigen Röcke nahmen eine ganze Ecke des Raumes allein in Anspruch. Als die kleine Guiraud kam, erhob sich ein Flüstern. Man ließ sie Revue passieren, man lachte und küßte sie. Sie glich einem weißen, ein wenig zerzausten Turteltäubchen, war nicht größer als ein Vogel und erschien im Gewirr der zitternden Gaze unmäßig dick und kugelrund, so daß sogar die eigene Mutter die Händchen der Kleinen nicht mehr wiederfinden konnte. Der Salon glich einer stäubenden Schneewolke. Nur das Schwarz der Anzüge einiger Jungen durchsetzte das flimmernde Weiß. Da Luciens kleine Dame tot war, suchte er nach einer andern. Er zögerte lange und hätte gern eine Dame geführt, die größer als er, ähnlich Jeanne, war. Jetzt schien er sich doch für Marguerite entschieden zu haben, deren Haar er bewunderte, und wich nicht mehr von ihrer Seite.

»Der Sarg ist noch nicht heruntergetragen,« sagte Pauline zu ihrer Schwester. Pauline war so quicklebendig und aufgeregt, als handle es sich um die Vorbereitungen zu einem Ball. Juliette hatte alle Mühe gehabt, die Schwester davon abzubringen, ebenfalls in Weiß zu erscheinen.

»Wie!« rief Juliette empört. »Woran denken denn diese Leute? Ich will rasch selbst hinaufgehen. Du bleibst hier bei den Damen!«

Im Salon unterhielten sich die Mütter in dunklen Toiletten mit halblauter Stimme, während die Kinder reglos herumstanden in Sorge, ihre Kleider zu zerknittern. Als Juliette in das Leichenzimmer trat, traf es sie wie ein eisiger Hauch. Jeanne lag noch mit gefalteten Händen auf dem Bett in einem weißen Kleide mit weißer Haube und weißen Schuhen. Eine Krone aus weißen Rosen machte sie zur Königin ihrer kleinen Freundinnen, der von der dort unten harrenden Menge gehuldigt wurde. Vor dem Fenster stand auf zwei Stühlen der mit Seide ausgeschlagene Eichensarg, geöffnet gleich einem Juwelenschrein. Nur eine Kerze brannte. Der verdunkelte Raum hatte den feuchten Duft und den feuchten Frieden eines seit langer Zeit vermauerten Kellers. Juliette, die eben aus der Sonne und dem lachenden Leben dort draußen nun plötzlich hier stand, blieb stumm stehen und hatte gänzlich vergessen, weshalb sie gekommen war.

»Es sind schon sehr viele Leute da,« flüsterte sie endlich, und als niemand antwortete, redete sie bloß, um zu sprechen, weiter:

»Henri hat zu einer Konsultation nach Versailles fahren müssen. Wollen Sie das bitte entschuldigen...«

Helene saß am Totenbett und hob die rotgeränderten Lider. Seit sechsunddreißig Stunden weilte sie hier trotz der flehentlichen Bitten des Herrn Rambaud und des Abbé Jouve, die mit ihr die Totenwache hielten. Die beiden Nächte hatte sie sich in endlosem Kampfe gequält. Dann war der schreckliche Schmerz des Einkleidens der Toten gekommen. Die weißseidenen Schuhe hatte sie noch selbst dem toten Kinde über die Füßchen gestreift. Jetzt war sie am Ende ihrer Kraft, im Übermaß ihres Kummers dämmerte sie dahin.

»Sie haben doch Blumen?« lallte sie mühsam, die Augen noch immer auf Frau Deberle gerichtet.

»Aber ja, gewiß, meine Liebe!« beruhigte Juliette. »Machen Sie sich nur keine Sorge...«

Ja, seit ihr Kind den letzten Seufzer getan, hatte Helene nur noch die eine Sorge: Blumen, Blumen, Blumen... Wenn jemand eintrat, sah sie unruhig auf, ob er auch Blumen mitgebracht habe.

»Haben Sie Rosen?« stammelte sie wieder.

»Freilich, freilich... Sie werden zufrieden sein, meine Liebe.«

Helene nickte befriedigt und versank wieder in ihr starres Brüten. Die Leichenträger warteten noch immer auf dem Flur, und es mußte ein Ende gemacht werden. Herr Rambaud, selbst gänzlich verstört, gab Frau Deberle einen Wink, ihm behilflich zu sein und die Bedauernswerte wegzuführen. So nahmen beide Helene sanft tröstend unter die Arme, stützten sie und führten sie ins Eßzimmer, Plötzlich wehrte sich Helene und suchte sich verzweifelt loszumachen. Sie ließ sich vor dem Bett zu Boden fallen und klammerte sich an die Leintücher, während Jeanne in all der lärmenden Unruhe im ewigen Schweigen verharrte. Das Gesicht der Toten zeigte einen finsteren, abweisenden Zug, der Mund war zu einem rachsüchtigen Schmollen verzogen, und dieses finstere, gnadenlose Totenantlitz war es, das Helene außer Fassung brachte. Sie hatte es recht gut beobachtet in diesen sechsunddreißig Stunden. Diese grollende Maske schien nur noch grimmiger und zorniger zu werden, je mehr sie der Auflösung entgegenging. Wenn ihre Jeanne nur noch ein letztes Mal ihr kindlich zugelächelt hätte – es wäre ihrem zerrissenen Mutterherzen ein Trost gewesen.

»Nein, nein, nein!... Lassen Sie mich noch hier ... Sie können sie mir nicht nehmen, ich will sie küssen ... Oh, einen Augenblick ... einen einzigen Augenblick ...«

Sie umfing die Tote mit zitternden Armen und verwehrte sie den Trägern, die verdrossen im Vorzimmer warteten. Aber ihre Lippen wärmten das kalte Gesicht nicht, und sie fühlte, wie Jeanne sie noch immer abwies. Endlich überließ sie das Kind den Händen derer, die sie forttrugen, und sank auf einen Stuhl im Eßzimmer. Sie wiederholte die dumpfe Klage:

»Ach, mein Gott!... Ach, mein Gott!...«

Die Aufregung hatte Herrn Rambaud und Frau Deberle erschöpft, und als sie bald darauf die Tür öffneten, war es zu Ende. Alles war völlig lautlos vor sich gegangen. Die geölten Schrauben hatten die Sargdeckel auf ewig verschlossen. Ein weißes Tuch verhüllte die Bahre.

Man ließ jetzt Helene gewähren. Als sie wieder ins Sterbezimmer trat, wanderte ihr irrer Blick über Möbel und Wände. Rosalie hatte die Gardine zugezogen, um die letzten Spuren der kleinen Dahingeschiedenen zu tilgen. Die Finger in einer irren Gebärde spreizend, stürzte Helene zur Treppe. Herr Rambaud hielt sie zurück, und Frau Deberle sprach beruhigend auf sie ein. Helene versprach, sich zusammenzunehmen und dem Leichenzuge nicht zu folgen. Nur zusehen wollte sie, sie würde sich auch im Pavillon ruhig halten. Man mußte sie ankleiden. Juliette verbarg ihren Hausrock unter einem schwarzen Schal, nur den Hut fand sie nicht. Endlich entdeckte sie einen und riß von ihm einen Strauß roter Verbenen ab. Herr Rambaud, der an der Spitze des Zuges gehen sollte, nahm Helenes Arm. Als man im Garten war, flüsterte Frau Deberle:

»Lassen Sie sie nicht aus den Augen!... Ich ... ich habe noch viel zu erledigen ...«

Dann entfernte sich Juliette eilig, während Helene mit zu Boden geschlagenen Blicken mühsam Schritt vor Schritt setzte. Als sie in den hellen Sonnentag hinaustrat, seufzte sie:

»Ach, du mein Gott, welch herrlicher Morgen!«

Jetzt sah sie den kleinen Weg unter den weißen Vorhängen. Herr Rambaud suchte ihr sanft den Weg; zu verstellen.

»Fassen Sie Mut! Ich bitte Sie...« sagte er mit zitternder Stimme.

Der kleine Sarg badete sich im Strahl der Sonne. Am Fußende hatte man auf einem Spitzenkissen ein silbernes Kruzifix niedergelegt, und daneben zitterte ein Wedel in einem Weihrauchfasse. Die großen Kerzen brannten ohne jede Flamme gegen die Sonnenscheibe... Es war, als ob unzählige kleine Seelen tanzend gen Himmel flögen... Unter schwarzen Behängen bildeten die Baumzweige mit ihren schwellenden Knöspchen eine Wiege. Es war ein Frühlingswinkel, in den durch einen Spalt der Tücher der Goldstaub eines breiten Sonnenstrahles fiel und die den Sarg bedeckenden Blumen überschüttete. Es war ein Garten weißer Kamelien und Lilien, von weißen Nelken, ein dichter Schneefall weißer Blumenblüten... Die Leiche blieb unsichtbar. Weiße Trauben hingen am Grabtuche nieder, und weiße Hyazinthen waren herabgefallen und entblätterten sich. Die wenigen Spaziergänger in der Rue Vineuse blieben mit bewegtem Lächeln vor diesem sonnenbeschienenen Garten stehen, wo die kleine Tote unter den Blumen schlief. All dieses Weiß sang, blendende Reinheit flammte im Lichte, und die Sonne wärmte die Vorhänge, die Sträuße und Kronen zu schauerndem Leben. Über den Rosen summte eine Biene.

»Die Blumen ... die Blumen ...« flüsterte Helene.

Sie preßte ihr Taschentuch an die Lippen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Es schien ihr, als ob es Jeanne nun endlich warm sein müsse, und es überkam sie ein Gefühl der Rührung gegen all die Leute, die ihr Kind in dieses reiche Blumenmeer gebettet hatten. Schon wollte Helene näher treten... Herr Rambaud mochte sie nicht hindern. Wie wohlig war es ihm unter den schwarzen Behängen! Frühlingsduft stieg empor, und die laue Luft tat keinen Atemzug. Sie beugte sich nieder und suchte nach einer Rose, um sie sich anzustecken.

»Bleiben Sie nicht hier,« sagte er, die Trauernde mit sich fortziehend. »Sie zittern ja. Sie haben versprochen, sich zu schonen.«

Er wollte sie in den Pavillon geleiten, als Pauline erschien. Sie hatte es übernommen, den Trauerzug zu ordnen. Die kleinen Mädchen kamen eins hinter dem andern aus dem Hause. Die weißen Kleider bauschten sich in der Sonne und zeichneten zarte Schatten wie auf Schwanenfittichen. Mit diesen kleinen Gestalten schien die ganze Keuschheit des Frühlings gekommen. Jetzt standen sie schon im Kreise rings um den Rasenplatz, leicht bebend einem Flaum gleich, der in der freien Luft sich leise bläht ...

Und als so der Garten sich über und über in Weiß verwandelt hatte, überkam Helene eine Erinnerung. Sie gedachte des Balles in jener schönen Saison mit den vielen vergnügt hüpfenden und tanzenden Kinderfüßen ... Sie sah wieder Marguerite als Milchmädchen verkleidet mit ihrem Milchkännchen; sah Sophie als Kammerzofe am Arm ihrer kleinen Schwester Blanche, an deren Narrenkostüm ein lustiger Glöckchenreigen geklingelt hatte. Dann kamen die fünf Fräulein Levasseur als Rotkäppchen in Lothringer Hauben mit schwarzsamtnen Bändern, und die kleine Guiraud tanzte übermütig als Elsässerin mit einem doppelt so großen Harlekin. Heute trugen die Kinder alle Weiß. Auch Jeanne war weiß, auf dem weißen Atlaskissen inmitten weißer Blumen ...

»Wie groß sie alle geworden sind,« flüsterte Helene unter Tränen.

Alle waren sie wieder da ... nur ihr eigenes Kind fehlte. Damen kamen vorbei und grüßten sie ehrerbietig ... Die Kinder schauten nach ihr mit großen verwunderten Augen.

Pauline ging geschäftig umher und gab mit gedämpfter Stimme ihre Weisungen. Nur zuweilen vergaß sie auf Augenblicke den Ernst der Stunde.

»Aber ich bitte euch! Seid doch artig ... Sieh mal her, du kleines Schaf, du bist ja schon schmutzig ...«

Der Leichenwagen fuhr vor, und der Zug konnte sich in Bewegung setzen.

Frau Deberle erschien aufgeregt und rief:

»Die Sträuße sind ja vergessen ... Rasch, Pauline, die Sträuße!«

Es entstand einige Unruhe. Man hatte für jedes der kleinen Mädchen einen weißen Rosenstrauß bereit, die nun verteilt werden mußten... Die erfreuten Kinder hielten die dicken Büschel steif vor sich wie Kerzen. Lucien, der keinen Schritt von Marguerite wich, sog den Duft aus dem Strauße und hielt ihn auch seiner Begleiterin hin. All diese Rangen lachten mit ihren Rosensträußen im Sonnenlicht und wurden dann plötzlich still, als der Sarg von schwarzgekleideten Männern auf den Wagen gehoben wurde.

»Ist sie da drin?« fragte Sophie leise.

Ihre Schwester Blanche nickte und sagte nachdenklich: »Für tote Männer ist das Ding sooo groß...«

Sie meinte den Sarg und breitete die, Arme, soweit sie konnte. Die kleine Marguerite lachte und steckte die Nase in ihre Rosen... und dann berichtete sie, wie angenehm das Kitzeln beim Riechen sei. Da versenkten auch die andern ihre Nasen in die Sträuße, um zu sehen, wie es tue, bis man sie zur Ordnung rief.

Der Leichenzug hatte sich in Bewegung gesetzt. An der Ecke der Rue Vineuse stand eine Frau, die bloßen Füße in Holzschuhen, und wischte sich mit dem Schürzenzipfel die Tränen von den Backen. Ein paar Leute lagen in den Fenstern, und man hörte Worte des Mitleids in der totenstillen Straße. Geräuschlos rollte der schwarzverhangene Leichenwagen dahin. Man hörte nur den taktmäßigen Hufschlag der Schimmel auf dem gewalzten Kies der Straße... Es schien eine ganze Ernte von Blumen, Sträußen und Kronen, die dieser Wagen davonführt. Der Sarg war gänzlich unter ihnen verschwunden, und leichte Stöße erschütterten die aufgehäuften Garben. An den vier Ecken des Wagens flatterten lange weiße Atlasbänder, von vier kleinen Mädchen gehalten. Es waren Sophie und Marguerite, das eine der Levasseur-Mädchen und die kleine Guiraud, die so ängstlich trippelte, daß die Mutter neben ihr her gehen mußte. Die andern umringten in geschlossener Schar den Leichenwagen. Leise und vorsichtig traten sie auf, und die Wagenräder drehten sich in diesem weißen Musselin wie von einer Wolke getragen, aus der zarte Engelsköpfchen lächelten. Herr Rambaud schritt mit blassem Gesicht in gebeugter Haltung dahin. Es folgten die Damen mit ein paar kleinen Jungen, sodann Rosalie und Zephyrin und als letzte die Dienstboten des Hauses Deberle. Fünf leere Trauerwagen folgten. Über der sonnenhellen Straße flatterte bei der Vorbeifahrt dieses Frühlings ein weißer Taubenschwarm.

»Mein Gott, wie peinlich! Wenn doch Henri diese Konsultation verschoben hätte! Ich hatte ihn doch so gebeten ...«

Frau Deberle wußte nicht, womit sie Helene, die teilnahmslos in einem Sessel des Pavillons saß, unterhalten sollte. Henri hätte sie wenigstens trösten können. Die Situation war wirklich sehr unangenehm. Zum Glück erklärte sich Fräulein Aurélie bereit, hierzubleiben. Sie liebte freilich traurige Situationen nicht und würde sich wohl mit dem Imbiß beschäftigen, der für die Kinder bei der Rückkehr bereitstand. So beeilte sich Frau Deberle, den Trauerzug einzuholen, der soeben in die Rue de Passy zur Kirche hin einbog.

Der Garten war menschenleer. Arbeiter legten schon die Behänge zusammen. In der Wagenspur im Sande lagen nur noch ein paar abgefallene Kamelienblüten. In dieser plötzlichen Einsamkeit und Stille überkam Helene von neuem die Angst, da nun das Band zwischen Mutter und Kind auf ewig zerrissen war. Nur einmal noch, nur ein einziges Mal noch bei Jeanne sein! Die Zwangsvorstellung, daß Jeanne im Groll von ihr geschieden sei, das finstere, stumme Gesicht des Kindes fuhr über sie hin mit dem hellen Brand eines glühenden Eisens. Als Helene gewahrte, daß nur noch Fräulein Aurélie auf sie achtgab, versuchte sie ihr zu entschlüpfen und auf den Kirchhof zu laufen.

»Ja, ja, wirklich ein herber Verlust,« tröstete die alte Jungfer und machte es sich in einem Lehnstuhl bequem. »Ich hätte die eigenen Kinder auch lieber gehabt als mein Leben, vor allem so ein kleines Mädchen! Aber dann bin ich auch wieder recht zufrieden, daß ich nicht geheiratet habe... Man geht da so manchem Kummer aus dem Wege...«

In ihrer Gutmütigkeit glaubte sie Frau Grandjean zu zerstreuen. Sie schwatzte weiter von einer ihrer Freundinnen, die sogar ein halbes Dutzend Kinder gehabt hätte – alle waren gestorben. Eine andere Dame hatte nur einen Sohn behalten, der seine Mutter später prügelte. Der hätte ruhig sterben können. Der Mutter wäre es nicht schwer geworden, sich zu trösten. Helene schien zuzuhören, nur zuweilen befiel sie ein Zittern der Ungeduld.

»Sie werden auch noch ruhiger werden,« glaubte Fräulein Aurélie trösten zu müssen. »Du meine Güte! Einmal endlich heilen alle Schmerzen.«

Die Tür zum Eßzimmer ging zugleich auf den japanischen Pavillon hinaus. Fräulein Aurélie war aufgestanden, öffnete die Tür und reckte den Hals. Kuchenschüsseln standen bereit. Da flüchtete Helene eilig durch den Garten. Die Leute vom Beerdigungsinstitut trugen soeben die Leitern durch das geöffnete Tor.

Links biegt die Rue Vineuse in die Rue des Réservoirs, wo man den Friedhof von Passy findet. Jetzt stand Helene vor dem gähnenden Kirchhofstor, hinter dem sich die Anlagen mit den weißen Grabmälern und schwarzen Kreuzen dehnten. Sie trat ein. Zwei hohe Fliederbüsche trieben am Ende des ersten Ganges ihre Knospen. Die Dahineilende schreckte eine Schar Sperlinge auf, und ein Totengräber hob den Kopf. Der Leichenzug schien noch nicht angelangt, der Friedhof war menschenleer. Weiter schritt Helene bis zur Brüstung der Terrasse und sah plötzlich hinter einem Akaziengebüsch die kleinen Mädchen, die vor dem offenen Grabe knieten, in das man soeben den Sarg gesenkt hatte. Abbé Jouve spendete mit erhobener Hand den letzten Segen. Die Feier war zu Ende.

Pauline hatte die einsame Trauernde bemerkt und machte Frau Deberle aufmerksam.

»Wie! Sie ist doch noch gekommen! Aber das geht doch nicht! Das ist doch gegen jeden Anstand...«

Damit ging Juliette auf Helene zu und zeigte ihr unverhohlen ihre Mißbilligung; auch die andern Damen kamen neugierig näher. Herr Rambaud hatte sich schweigend neben die Freundin gestellt. Helene lehnte an einem Akazienbaum. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe, von all diesen Leuten zermalmt und zerdrückt. Während sie mit einem Kopfnicken die Beileidsbezeigungen entgegennahm, folterte sie ein einziger Gedanke: Wieder war sie zu spät gekommen... Immer wieder schaute sie zur Gruft hinüber, vor der ein Friedhofswärter den Gang fegte.

»Pauline! Gib auf die Kinder acht!« rief Frau Deberle laut.

Die kniende Kinderschar fuhr in die Höhe wie ein Schwarm aufgescheuchter Sperlinge. Ein paar der Kleinsten, die sich mit ihren Knien in den Röckchen verheddert hatten, blieben auf der Erde sitzen und mußten aufgehoben werden ...

Während der Sarg in die Tiefe gesenkt wurde, hatten die Großen die Köpfe gereckt, um auf den Grund des Grabes zu sehen. Es war sehr dunkel ... Sophie versicherte leise, daß man viele, viele Jahre dort drin bleiben müsse. »Die Nacht auch?« fragte die kleine Levasseur. »Gewiß, auch die Nacht! Immer, immer!« Alle sahen einander mit großen Augen an, als hätten sie soeben eine Räubergeschichte gehört. Als sie dann in loser Reihe wieder das Grab umstanden, kam ihnen die Lebenslust zurück. Es war ja nicht wahr, man erzählte sich nur dummes Zeug. Das Wetter war gar zu schön und der Friedhof mit seinem hohen Grase so verlockend. Wie hätte man hier so prächtig hinter all den großen Steinen Verstecken spielen können! Schon tanzten die kleinen Füße, und die weißen Kleider wehten wie Fittiche. Im Schweigen der Gräber taute der laue, leise Sonnenregen die Kinderherzen auf. Lucien hatte die Hand unter Marguerites Schleier geschoben und berührte ihr Haar, um zu prüfen, ob es auch nicht gefärbt wäre. Dann sagte er ihr, daß sie heiraten würden. Marguerite war nicht abgeneigt, nur fürchtete sie sich, daß er sie dann immer an den Haaren ziehen würde. Da faßte Lucien wieder zu und fand die hellen Haare weich wie Seidenpapier.

»Lauf nicht so weit weg!« mahnte Pauline.

»Nun, ich denke auch, wir wollen aufbrechen!« sagte Frau Deberle. »Die Kinder müssen Hunger haben ...«

Nun mußten die kleinen Mädchen, die auseinander geflogen waren wie ein Pensionat auf dem Spaziergang, zusammengesucht werden. Als man zählte, fehlte die kleine Guiraud. Endlich fand man auch sie in einem Laubengang, wo sie unter Mutters Sonnenschirm würdevoll auf und ab marschierte. Die Flut der weißen Gewänder vor sich her schiebend, drängten nun auch die Damen dem Ausgang zu. Frau Berthier beglückwünschte Pauline zur Heirat. Im nächsten Monat sollte die Hochzeit sein. Frau Deberle erzählte, daß sie übermorgen mit ihrem Manne und dem Jungen nach Neapel zu reisen gedächte. Die Leute zerstreuten sich... Zephyrin und Rosalie waren bis zuletzt geblieben. Nun gingen auch sie Arm in Arm. Bei aller Traurigkeit freuten sie sich auf den kleinen Spaziergang. Sie gingen sehr langsam und waren noch einen Augenblick am Ende des Hauptganges zu sehen.

»Kommen Sie!« sagte Herr Rambaud leise.

Helene bat ihn zu warten. Sie blieb allein, und es war ihr, als hätte man ein Blatt aus dem Buche ihres Lebens herausgerissen. Als die letzten Trauergäste gegangen waren, kniete sie mühsam an der Gruft nieder. Der Priester im Chorhemd hatte sich noch nicht erhoben. Beide beteten lange.

Dann sagte er zu seinem Bruder mit einem Blick voll milder Barmherzigkeit auf die Trauernde:

»Gib ihr deinen Arm!«

Am Horizont leuchtete Paris im strahlenden Frühlingsmorgen, Auf dem Friedhof schlug ein Fink.


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