Emile Zola
Ein Blatt Liebe
Emile Zola

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16

Als Helene ihre Wohnung wieder betrat, war es längst dunkel geworden. Während sie, sich am Geländer haltend, mühsam die Treppe hinaufstieg, tropfte ihr Regenschirm auf den Stufen ab. Vor der Flurtür blieb sie Atem holend stehen, noch benommen vom Rasseln des Sturzregens, vom Anrempeln der rennenden Leute, geblendet vom Widerschein der Gaslaternen, die in den Pfützen tanzten.

Während Helene nach ihrem Schlüssel suchte, dachte sie, daß sie sich keine Vorwürfe zu machen brauche noch auch Grund zur Freude habe. Man konnte Geschehenes eben nicht rückgängig machen. Sie fand ihren Schlüssel nicht, jedenfalls hatte sie ihn in der Tasche ihres anderen Kleides stecken lassen. Es war ihr außerordentlich peinlich, als ob sie sich selbst das Haus verwehrte. Sie mußte schellen.

»Ah, Madame ist's!« sagte Rosalie, die Tür öffnend. »Ich hatte mir schon Gedanken gemacht.«

Damit nahm sie den Regenschirm, um ihn in der Küche abzustellen.

»Oh, dieser furchtbare Regen! ... Zephyrin ist auch eben erst gekommen ... Naß wie eine Katze. Ich habe mir erlaubt, ihn zum Essen hier zu behalten, Madame, er hat bis um zehn Uhr Urlaub.«

Helene folgte ihr gedankenlos. Sie fühlte das Bedürfnis, alle Räume ihrer Wohnung wiederzusehen, bevor sie ablegte. »Es ist schon recht, Rosalie,« gab sie geistesabwesend dem schwatzenden Mädchen zur Antwort.

In der Küchentür verweilte sie ein wenig und starrte ins brennende Feuer. Mechanisch öffnete sie einen Schrank und schloß ihn wieder. Alle Möbel waren an ihrem Platze, nichts fand sie verändert. Freude überkam sie. Zephyrin hatte sich respektvoll erhoben, und sie nickte ihm lächelnd zu.

»Ich wußte nicht, ob ich den Braten anrichten sollte,« begann das Mädchen wieder.

»Wie spät ist es denn?« fragte Helene, um etwas zu sagen.

»Fast sieben Uhr, Madame.«

»Was, sieben Uhr?«

Das Zeitgefühl war Helene abhanden gekommen. Endlich erwachte sie aus ihrer Versunkenheit.

»Und Jeanne?«

»Oh, die ist sehr artig gewesen, Madame. Ich glaube sogar, sie ist eingeschlafen. Ich habe sie jedenfalls nicht mehr gehört.«

»Hast du ihr denn kein Licht hineingestellt?«

Rosalie wurde verlegen. Sie mochte nicht gestehen, daß ihr Zephyrin Bilder mitgebracht hatte. Nein, das Kind habe sich nicht mehr gerührt. Helene war schon gegangen und trat voll böser Ahnungen ins Zimmer des Kindes. Eiskalter Luftzug drang ihr entgegen.

»Jeanne! Jeanne!«

Nichts rührte sich. Helene stieß an einen Sessel. Die halboffene Tür zum Eßzimmer erhellte einen Winkel des Fußbodens. Sie fröstelte, als ob der Regen mit seinem feuchten Hauche rieselnd ins Zimmer strömte. Sie schaute jetzt nach dem blassen Viereck, welches das Fenster in das Grau des Himmels schnitt. »Wer hat denn hier das Fenster offen gelassen! Jeanne! Jeanne!«

Noch immer kam keine Antwort. Tödliche Unruhe packte die Mutter. Sie wollte aus dem Fenster sehen und fühlte im Tasten einen Haarschopf. Es war Jeanne. Und als Rosalie endlich mit der Lampe kam, sah man das Kind. Es hatte die Wange auf das Fenstersims gelegt, und das Regenwasser aus der Dachrinne hatte sie gänzlich durchnäßt. Die Kleine atmete kaum, und an ihren großen bläulichen Lidern hingen zwei schwere Tränen.

»O du unglückliches Geschöpfchen,« stammelte Helene. »Sie ist schon ganz kalt ... Hier einzuschlafen und bei solchem Wetter. Ich hatte dir doch verboten, das Fenster anzurühren. Jeanne! Jeanne! so wach doch auf!«

Rosalie hatte sich schuldbewußt zurückgezogen. Von der Mutter auf den Arm genommen, ließ das Kind den Kopf fallen und vermochte nicht, den bleiernen Schlaf abzuschütteln. Jetzt endlich öffnete sie noch immer schlaftrunken die Lider und blinzelte geblendet ins Lampenlicht.

»Jeanne, ich bin's! Was ist dir? Schau mich doch an! Mama ist nach Hause gekommen...«

Das Kind musterte die Mutter wie eine Unbekannte. Plötzlich schüttelte es sie. Sie schien endlich die Kälte zu fühlen. Das Bewußtsein kam ihr wieder, und die Tränen tropften von ihren Lidern. Sie schlug um sich, als wehre sie sich gegen die Berührung.

»Du bist's, du bist's! ... o laß mich doch, du drückst mich zu sehr ... mir war so wohl.«

Jeanne musterte die Mutter unruhig. An ihrer einen Hand fehlte der Handschuh, und vor dem bloßen Gelenk der feuchten Handfläche und den lauwarmen Fingern schreckte das Kind zurück.

»Komm, Jeanne, und gib mir einen Kuß,« sagte Helene. »Ich bin ja gar nicht böse...«

Jeanne erkannte auch die Stimme nicht. Sie bekam wieder Schmerzen in; der Brust und begann zu schluchzen.

»Nein, nein, ich bitte dich, laß mich ... Du hast mich allein gelassen ... Ich war so unglücklich,« jammerte sie.

»Aber nun bin ich ja wieder da, mein Liebling ... «, weine doch nicht mehr ...«

»Nein, nein, es ist aus ... ich mag dich nicht mehr ... Oh, ich habe gewartet, gewartet... Ich habe zu viel Schmerzen gelitten...«

Helene hatte sie wieder aufgehoben und zog das eigensinnig sich wehrende Kind sanft an sich. »Nein, nein, Mama! Es ist nicht mehr wie sonst... du bist nicht mehr dieselbe...«

»Wie? Was sagst du da, mein Kind?«

»Ich weiß nicht, aber du bist nicht mehr dieselbe...«

»Du meinst, ich hätte dich nicht mehr lieb?«

»Ich weiß nicht, du bist nicht mehr dieselbe... sag nicht nein! Es ist aus, aus, aus! Ich will sterben!«

Leichenblaß hielt Helene sie wieder in den Armen. Las sie denn das auf ihrem Gesicht? Sie küßte das Kind, aber Jeanne zitterte mit einer Gebärde tiefen Unwillens. Jeanne weinte leise vor sich hin, während sie ein nervöser Krampf streckte. Helene meinte, man solle von solchen Kinderlaunen nicht zuviel Aufhebens machen. Dennoch fühlte sie eine dumpfe Scham, und das Gesicht des Töchterchens an ihrer Schulter trieb ihr die Röte in die Wangen. Dann setzte sie Jeanne wieder ab.

»Sei artig und wisch dir die Augen. Es wird alles wieder gut werden.«

Das Kind gehorchte und zeigte sich sehr sanft, nur ein wenig verschüchtert. Plötzlich hatte sie einen erstickenden Hustenanfall.

»Ach Gott, nun bist du krank. Man kann dich wahrhaftig keine Minute allein lassen! Frierst du?«

»Ja, Mama, im Rücken.«

»Hier, komm, nimm diesen Schal Im Eßzimmer brennt das Kaminfeuer. Dort wirst du warm werden.. Hast du auch Hunger?«

Jeanne stockte. Sie wollte die Wahrheit sagen und mit Nein antworten, aber sie schielte wieder bloß von der Seite und sagte:

»Ja, Mama.«

»Nun, dann wird es nichts Ernstliches sein,« erklärte Helene, sich selber beruhigend. »Aber ich bitte dich, du böses Kind, du jagst mir einen schönen Schrecken ein.«

Als Rosalie mit der Meldung kam, das Essen sei aufgetragen, schalt Helene sie tüchtig aus. Das Dienstmädchen senkte schuldbewußt den Kopf und sagte bedrückt, daß sie die Schelte verdiene und auf das Fräulein besser hätte achtgeben müssen. Um ihre Herrin versöhnlich zu stimmen, half sie ihr beim Auskleiden. Du lieber Himmel! Die gnädige Frau war ja in einer netten Verfassung. Jeanne folgte mit den Augen den Kleidungsstücken, die nacheinander zu Boden fielen, mit Blicken, als wollte sie jedes einzelne ausfragen. Das Band eines Unterrocks wollte sich gar nicht lösen lassen. Rosalie hatte eine Weile zu nesteln, um den Knoten aufzuknüpfen. Das Kind kam näher und zankte, die Ungeduld des Mädchens teilend, über den Knoten. Dann flüchtete sie von den Kleidern, deren feuchter Dunst ihr widerlich war, hinter einen Sessel.

»Madame muß sich jetzt wieder wohler fühlen,« meinte Rosalie. »Es ist was wert, trockene Wäsche auf dem Leibe zu haben, wenn man so durchgeweicht ist.«

Als Helene ihr blaues Hauskleid auf dem Körper fühlte, seufzte sie wohlig. Sie war ja wieder daheim und fühlte endlich die Last der nassen Kleider nicht mehr am Körper.

Das Mädchen mochte noch so sehr drängen, die Suppe stände auf dem Tisch, Helene wollte sich zuerst noch Gesicht und Hände säubern. Als sie erfrischt, noch feucht vom Waschen, mit bis ans Kinn zugeknöpftem Hauskleid am Tische saß, kam Jeanne, nahm ihre Hände und küßte sie.

Während des Essens schwiegen Mutter und Tochter. Das Feuer im Kamin knisterte. Das kleine Eßzimmer hatte mit seinem glänzenden Mahagoni und dem hellen Porzellan einen Schimmer von Gemütlichkeit.

Helene schien wieder in jener Betäubung befangen, die sie am Denken hinderte. Sie aß mechanisch ohne rechten Appetit. Jeanne ließ die Mutter nicht aus den Augen und schaute verstohlen über ihr Glas nach ihr. Sie hustete. Helene, die im Augenblick nicht an das Kind gedacht hatte, überkam sogleich wieder die Unruhe.

»Wie! du hustest noch! Bist du denn noch immer nicht warm?«

»O ja, Mama, mir ist ganz warm.«

Helene wollte ihre Hand prüfen, da erst sah sie, daß das Kind noch den vollen Teller vor sich hatte.

»Du sagtest doch, du hättest Hunger ... Magst du das Essen nicht?«

»O doch, Mama... Ich esse ja...« Jeanne würgte ihre Bissen hinunter. Helene überwachte sie einen Augenblick, dann kehrte ihr in diesem von Schatten erfüllten Gemache die Erinnerung wieder.

Und das Kind sah, daß es nichts mehr galt ... Gegen Ende der Mahlzeit hatten sich seine schwächlichen Gliederchen auf dem Sessel gestreckt. Jeanne glich einer Greisin, mit den blassen Augen sehr alter Jungfern, die niemandes Liebe mehr besitzen werden.

»Mag das Fräulein kein Gebäck?« fragte Rosalie. »Darf . ich abdecken?«

Helene blieb unruhig sitzen.

»Mama, ich bin so schläfrig,« sagte Jeanne entschlossen. »Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mich schlafen lege? Im Bett wird mir's besser sein.«

Wieder schien die Mutter aus ihren Sinnen aufzuschrecken.

»Hast du Schmerzen, mein Liebling? Sprich doch, wo tut es dir weh?«

»Nirgends, wenn ich es dir doch sage ... Ich bin bloß müde ... So müde ...«

Jeanne rutschte von ihrem Stuhl und stellte sich gerade, um zu zeigen, daß sie nicht krank sei. Die müden Beine schwankten auf den Dielen. In der Kammer tastete sie sich an den Möbeln entlang. Jeanne hatte nicht einmal die Kraft zum Weinen, trotz dem Feuer, das ihren Leib verbrannte. Die Mutter hatte sie zu Bett gebracht. Sie konnte ihr nicht einmal das Haar für die Nacht lösen, so eilig hatte es das Kind, sich selbst das Kleidchen auszuziehen. Sie schlüpfte auch ganz allein ins Bett und schloß rasch die Augen.

»Ist dir's jetzt besser?« fragte Helene und zog ihr die Decke zurecht . »Viel besser. Laß mich.«Rühr mich nicht an ... Nimm das Licht hinaus ....«

Sie wünschte nur eins, im Dunkeln allein zu sein, um die Augen wieder zu öffnen und ihr Weh zu fühlen, ohne daß jemand sie beobachtete.


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