Emile Zola
Ein Blatt Liebe
Emile Zola

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12

In diesem August war der Garten des Doktors Deberle ein grünes Blättermeer. Am Zaungitter verschlangen Holunder und Eiben ihre Zweige. Efeu, Geißblatt und Waldreben ließen nach allen Seiten ihre langen Triebe klettern. Der Garten war so winzig, daß ihn das kleinste Schattenfeld verdeckte. Nur in die Mitte des Rondells, zwischen den beiden Blumenrabatten, warf die Mittagssonne einen einzigen gelben Kringel. Zur Treppe hin glühte ein mächtiger Rosenstrauch neben herrlichen Teerosen, die zu Hunderten in Blüte standen. Wenn des Abends die Hitze niedersank, verströmten sie einen durchdringenden Wohlgeruch, und heißer Rosenduft waberte zwischen den Blumen. Wahrhaftig, ein balsamischer einsamer Erdenwinkel.

»Madame,« sagte Rosalie jeden Tag, »darf denn unser Fräulein nicht einmal in den Garten hinunter?«

Wenn Rosalie einen guten Gedanken zu haben glaubte, konnte sie sehr hartnäckig sein. Madame glaube zu Unrecht, daß Schatten schädlich sei. Madame habe bloß Angst, Leute zu belästigen. Aber auch das gelte nicht, denn niemals sei jemand im Garten; der Herr ließe sich nicht mehr sehen und die gnädige Frau wolle bis Mitte September im Seebad bleiben. Die Pförtnerin hätte Zephyrin gebeten, den Garten zu harken. Sie, Rosalie und Zephyrin, seien am letzten Sonntagnachmittag einmal hineingegangen. Oh, wundervoll, unglaublich wundervoll! Helene wollte sich nicht erweichen lassen. Jeanne selbst schien große Lust zu haben, in den Garten zu gehen, von dem sie während der Krankheit so oft gesprochen hatte. Aber eine seltsame Verlegenheit schien ihr eine Bitte bei der Mutter unmöglich zu machen. Am nächsten Sonntag kam das Hausmädchen atemlos ins Zimmer gelaufen:

»Es ist niemand unten, Madame, glauben Sie mir! Bloß ich und Zephyrin mit der Harke... Lassen Sie die Kleine mitkommen, kommen Sie selbst ein bißchen, bloß um mal zu sehen...«

Endlich ließ sich Helene überzeugen und gab nach. Sie wickelte Jeanne in einen Schal und sagte Rosalie, sie solle eine große Decke mitnehmen. In stummem Entzücken wollte das Kind unternehmungslustig ohne Hilfe die Treppe hinunter. Hinter ihr breitete die Mutter die Arme aus, bereit, sie zu stützen. Als sie unten ankamen, stießen sie einen Jubelschrei aus. Sie kannten den Garten nicht wieder. Statt des sauberen bürgerlichen Winkels, den sie im Frühling gesehen hatten, umfing sie jetzt undurchdringliches Dickicht. Helene breitete die Decke am Rande eines Kiesweges aus, wohin das Sonnenlicht seine Kringel warf, und hieß Jeanne sich niedersetzen. Sie legte ihr den Schal um die Schultern und ließ sie sich ausstrecken. So hatte das Kind den Kopf im Schatten und die Füße in der Sonne.

»Fühlst du dich wohl, mein Liebling?«

»O ja, Mama. Du siehst ja, mir ist nicht kalt... Wie leicht man hier atmet! Wie wohl das tut!«

Helene lugte unruhig nach den geschlossenen Läden des Doktorhauses und sagte, sie wolle einen Augenblick wieder hinaufgehen. Sie wies Rosalie an, auf den Stand der Sonne achtzugeben und Jeanne höchstens eine halbe Stunde unten zu behalten und sie nicht aus den Augen zu lassen.

»Keine Angst, Mama!« rief die Kleine lachend. »Hier fahren ja schließlich keine Kutschen.«

Heute war das Wetter noch wärmer. Ein Hagel goldener Sonnenpfeile schüttete sich durch die Blätter. Jeanne ging auf den Arm der Mutter gestützt einige Minuten auf und ab. Ermattet kam sie zu ihrer Decke zurück und machte auch Helene ein wenig Platz. Beide lachten belustigt, wie sie so nebeneinander einträchtig auf der Erde saßen. Zephyrin hatte die Harke beiseite gestellt und half nun seiner Rosalie beim Pflücken von Petersilie, die in dicken Büscheln längs der Mauer wuchs.

Plötzlich gab es gewaltiges Lärmen und Rennen im Hause drüben. Als Helene sich schon zur Flucht wenden wollte, erschien auf der Treppe Frau Deberle. Sie war noch im Reisekleid, schwatzte unaufhörlich und tat außerordentlich geschäftig. Als sie Frau Grandjean mit ihrem Töchterchen auf dem Rasen sitzen sah, lief sie eilig die Stufen hinunter und überschüttete sie mit einem Schwall von Worten und Zärtlichkeit.

»Ah, Sie sind's, meine Teure!... Ich bin glücklich, Sie zu begrüßen... Gib mir ein Küßchen, Jeanne! Du bist also recht krank gewesen, mein armes Kätzchen? Aber jetzt geht's doch schon besser? Du hast ja ganz rosige Bäckchen ... Wie oft habe ich an Sie gedacht, teure Freundin. Ich hatte Ihnen geschrieben. Sie haben doch meine Briefe erhalten? Schreckliche Stunden haben Sie durchleben müssen! Nun ist es ja glücklich überstanden... Sie erlauben doch, daß ich Ihnen einen Kuß gebe?«

Helene hatte sich erhoben. Sie mußte zwei Küsse hinnehmen und erwidern. Sie stammelte verlegen:

»Sie sind doch nicht etwa böse, daß wir in Ihren Garten eingedrungen sind?«

»Was Sie nur von mir denken,« sagte Juliette temperamentvoll. »Sind Sie denn hier nicht zu Hause?«

Endlich ließ sie ihre Gäste allein, wandte sich wieder zur Treppe und rief durch die weitgeöffneten Türen:

»Pierre! Vergessen Sie nichts! Es sind siebzehn Koffer!«

Sogleich kam Frau Deberle zurück und fing an, des langen und breiten von ihrer Reise zu erzählen.

»Oh! eine wunderbare Saison! Wir waren in Trouville, Sie wissen doch. Am Strand eine Menschenmenge, zum Erdrücken!... Papa ist mit Pauline vierzehn Tage dort gewesen... Man freut sich immerhin, wieder zu Hause zu sein ... Ach, das habe ich Ihnen noch gar nicht gesagt. Aber nein, das muß ich Ihnen später unbedingt erzählen...«

Dann küßte sie Jeanne noch einmal und fragte Helene mit ernsthafter Miene:

»Bin ich sehr braun geworden?«

»Nein, man merkt nichts davon,« musterte Helene Frau Deberle.

Juliette mit ihrem hübschen liebenswürdigen Gesichtchen, den hellen Augen und festen Händen, schien nicht älter geworden. Die Seeluft hatte das unbedeutende Gesicht der Doktorsfrau wirklich nicht angegriffen. Sie schien von einem Spaziergange in Paris zurückgekehrt, von einer Besorgung heimzukommen...

»Aber so warten Sie doch! Sie haben ja meinen Lucien noch nicht gesehen,« unterbrach sie sich plötzlich... »Der ist ein kräftiger Bursche geworden!«

Der kleine Junge, den die Kammerfrau vom Staub der Reise säuberte, wurde herbeigebracht, und die Mutter drehte ihn bewundernd nach allen:: Seiten.. Lucien, dick und rotwangig, sonnenverbrannt vom Spielen am Strande, in der Seeluft gebräunt, strotzte vor Gesundheit. Als er Jeanne bemerkte, zögerte er. Sie schaute ihn mit brennenden Augen aus dem mageren Gesichtchen an. In der Flut ihrer schwarzen Haare, umrahmt von langen Locken, glich es der weißen Leinwand. Ihre schönen großen Augen blickten traurig, und trotz der starken Hitze überlief sie ein Frösteln, während die schwachen Finger sich ballten und streckten wie vor einem großen Feuer.

»Nun, willst du ihr keinen Kuß geben?« ermunterte Juliette.

Lucien schien sich zu fürchten. Endlich spitzte er, den Mund vorsichtig verschiebend, die Lippen, um die Kranke möglichst nicht zu berühren. Geschwind fuhr er zurück. Helene war dem Weinen nahe. Wie dieser Junge gedieh! Wie er sich tummelte! Und ihre Jeanne war so schwach, daß sie kaum den kleinen Weg um das Rasenbeet machen konnte. Es gab doch wirklich noch glückliche Mütter! Juliette fühlte plötzlich ihre Taktlosigkeit und schalt auf Lucien ein. »Ei, was bist du für ein grober Klotz! Nimmt man so junge Damen in den Arm...? Sie glauben gar nicht, meine Teure, der Junge ist in Trouville gänzlich verwildert!«

Frau Deberle hatte sich in Zorn geredet. Zum Glück erschien ihr Gatte. So konnte sie von der mißlichen Situation endlich ablenken:

»Ach, da kommt ja Henri!«

Der Doktor hatte seine Frau erst am Abend zurückerwartet, doch sie hatte einen früheren Zug benutzt. Und nun gab es lange Auseinandersetzungen über das Warum und Weshalb, ohne daß es zu einer endgültigen Klarstellung kam. Der Doktor hörte ihr lächelnd zu.

»Na, nun seid ihr ja endlich glücklich da,« meinte er trocken.

Er hatte Helene nur mit stummer Verbeugung begrüßt, dann fiel sein Blick für einen Augenblick auf Jeanne, und er sah verlegen zur Seite. Die Kleine hatte diesen Blick fest ausgehalten, faßte das Kleid der Mutter und zog sie an sich.

»Sieh da, dieser Schlingel,« rief der Doktor, »geht auf wie ein Hefekloß.« Damit hatte er Lucien auf den Arm genommen und ihn auf die Backen geküßt.

»Nun! Und ich? Mich vergißt du wohl ganz?« schmollte Juliette.

Sie bot ihm den Mund, aber ihr Gatte behielt Lucien auf dem Arm und beugte sich nur vor, um seiner Frau einen Kuß zu geben. Alle drei lächelten einander zu. Helene war sehr blaß und wollte sich entschuldigen. Jeanne aber weigerte sich, mit hinaufzugehen. Sie hatte ihre dunklen Blicke noch immer auf das Ehepaar Deberle gerichtet, dann wandte sie sich langsam der Mutter zu. Als nun Juliette ihres Gatten Kuß empfangen hatte, war in die Augen des Kindes eine Flamme geschossen.

»Das Kerlchen ist mir zu schwer,« sagte der Doktor und stellte Lucien wieder auf die Füße. »Also die Saison ist gut gewesen? Ich habe gestern Malignon getroffen. Er hat mir erzählt, wie es euch ergangen ist... Du hast ihn also früher abreisen lassen?«

»Ach, er ist unausstehlich,« erwiderte Juliette verlegen. »Er hat uns die ganze Zeit bloß Verdruß gemacht.«

»Dein Vater hoffte doch für Pauline... Hat er sich nicht erklärt?« »Wer? Er? Malignon?« rief sie erstaunt und tat beleidigt. Dann machte sie eine wegwerfende Handbewegung: »Ach, laß doch, er ist und bleibt ein dummer Junge!... Wie glücklich bin ich, wieder zu Hause zu sein!«

Dann wandte sich Juliette verabschiedend an Helene:

»Ich hoffe, wir werden uns noch recht oft wiedersehen ... wenn es Jeanne hier gefällt, soll sie nur jeden Nachmittag herunterkommen.«

Helene hatte schon nach einer guten Ausrede gesucht und entschuldigte sich damit, man dürfe das Kind noch nicht allzusehr anstrengen. Jeanne fiel ihr lebhaft ins Wort:

»Nein, nein, die Sonne scheint hier gar zu schön... Mama und ich werden gern kommen, liebe Frau Doktor... Sie werden mir doch ein Plätzchen aufheben?«

Der Doktor suchte sich hinter seiner Frau zu verstecken, während das Kind ihm zulächelte.

»Herr Doktor! Sagen Sie es doch der Mama, daß mir die Luft nicht schädlich ist.«

Deberle stieg ein leichtes Rot in die Wangen. Er freute sich sichtlich, von diesem Kinde so freundschaftlich angesprochen zu werden.

»Ganz gewiß! Die frische Luft wird der Genesung unserer kleinen Jeanne nur zuträglich sein, gnädige Frau.«

»Du siehst also, Mütterchen, wir werden schon kommen müssen,« schmeichelte sie mit tränenerstickter Stimme.

Jetzt zeigte sich Pierre auf der Treppe. Er hatte die siebzehn Koffer der Gnädigen verstaut. Juliette, gefolgt von ihrem Gatten und Lucien, eilte davon. Sie müßten sich jetzt schleunigst vom Reisestaub säubern und ein Bad nehmen. Als Helene endlich allein war, kniete sie sich zu dem Kinde auf die Decke, tat, als wolle sie ihr den Schal fester knüpfen, und fragte leise:

»Du bist also nicht mehr auf den Doktor böse?«

Das Kind schüttelte den Kopf.

Helene schien mit ungeschickten Händen den Schal nicht knüpfen zu können. Da flüsterte Jeanne:

»Warum liebt er denn andere? ... Ich will das nicht...«

Ihr Blick wurde hart und finster, während die kleinen Hände die Mutter streichelten. Helene fürchtete sich vor den Worten, die ihr jetzt auf die Lippen kommen könnten.

Seitdem bestand Jeanne hartnäckig darauf, in den Garten zu gehen, wenn sie Frau Deberle unten hörte.

Begierig lauschte sie dem Schwatzen Rosalies über das Doktorhaus, alles im Privatleben dort drüben wurde ihr interessant. Oft schlüpfte sie aus dem Zimmer und spionierte sogar aus dem Küchenfenster. Von ihrem Lehnstühlchen aus schien Jeanne die ganze Familie Deberle zu überwachen. Gegen Lucien war sie zurückhaltend und über seine Spiele und Fragen ungeduldig, wenn der Doktor dabei war. Für Helene waren diese Nachmittage unerträglich. Wenn Henri auf das Haar seiner Frau einen Kuß drückte, gab es ihr stets einen Stich ins Herz.

Wenn sie in solchen Augenblicken der Verlegenheit sich mit Jeanne zu schaffen machte, fand sie das Kind blasser als zuvor, mit großen, weitoffenen Augen, das Gesicht in verhaltenem Zorn verzerrt.

An solchen Tagen war Helene am Ende ihrer Kraft. Jeanne blieb finster und abgespannt, man mußte sie hinauftragen und zu Bett legen. Sie konnte den Doktor nicht mehr neben seiner Frau sehen, ohne jeder seiner Bewegungen mit dem Zorne des verletzten Weibes zu folgen...

»Ich huste morgens. Sie müssen wieder heraufkommen und nach mir sehen, Herr Doktor!«

Eine längere Regenzeit setzte ein, und Jeanne bestand darauf, daß der Doktor endlich mit seinen Besuchen begönne, obwohl es ihr schon weit besser ging. Um das Kind zufriedenzustellen, hatte Helene mehrmals die Einladung der Frau Deberle zum Mittagessen angenommen. Das Kind schien sich zu beruhigen, als es endlich gänzlich gesundet war.

»Bist du jetzt glücklich, meine liebe süße Mama?«

»Ja, mein Liebling, ich bin sehr, sehr glücklich.«

Jeanne strahlte vor Seligkeit.


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