Emile Zola
Ein Blatt Liebe
Emile Zola

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10

Am Abend ging es Jeanne besser. Sie konnte aufstehen, und um die Mutter zu beruhigen, schleppte sie sich ins Eßzimmer, wo sie sich vor ihre leere Schüssel setzte.

»Es wird nichts sein,« tröstete sie und versuchte ein Lächeln. »Du weißt ja, daß ich nicht tapfer bin ... Iß du doch, Mama! Bitte, iß!«

Und als sie sah, daß ihre Mutter blaß wurde und fröstelte, nicht imstande, einen Bissen herunter zu würgen, täuschte sie selbst Appetit vor. Sie möchte ein bißchen Backwerk essen, beteuerte sie. Da nahm sich Helene zusammen und aß. Das Kind schaute sie ständig lächelnd mit nervösem Kopfschütteln bewundernd an. Beim Nachtisch wenigstens wollte Jeanne ihr Versprechen halten, aber ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Es geht nicht, du siehst's doch,« sagte sie matt, »du darfst mich nicht schelten ...«

Jeanne verspürte bleierne Müdigkeit. Ihre Beine erschienen ihr wie tot, und eine Eisenfaust preßte ihr die Schultern zusammen. Aber sie stellte sich tapfer und unterdrückte ihre Schmerzen.

Im Halse rissen die Schmerzen, und der Kopf wurde ihr schwer. Und als Helene das Töchterchen so mager, schwach und doch so tapfer sah, war sie nicht mehr imstande, die Birnen zu essen, die sie sich hatte aufnötigen lassen. Schluchzen würgte sie. Sie ließ ihre Serviette fallen und schloß Jeanne in die Arme.

»Mein Kind, mein Kind!« stammelte Helene. Das Herz wollte ihr brechen in diesem Eßzimmer, wo die Kleine sie so oft mit ihrem Leckermäulchen erheitert hatte.

Jeanne versuchte wieder ihr Lächeln.

»Quäle dich nicht! Es wird nichts sein. Jetzt kannst du mich wieder zu Bett bringen. Ich wollte dich am Tisch sehen, weil ich dich kenne – du hättest sonst gar nichts gegessen.«

Helene trug sie fort. Sie hatte das Bettchen neben das ihrige in die Kammer gerollt. Als Jeanne sich ausgestreckt und bis ans Kinn zugedeckt hatte, fühlte sie sich weit besser und klagte nur noch über dumpfen Schmerz im Hinterkopf. Dann wurde sie zärtlich. Seit sie litt, schien ihre leidenschaftliche Liebe zu wachsen. Helene mußte sie umarmen, mußte geloben, sie recht zu lieben, und ihr versprechen, sie noch einmal in den Arm zu nehmen, wenn sie sich zu Bett legen würde.

»Wenn ich auch schlafe,« versicherte Jeanne, »ich fühle dich trotzdem.«

Sie schloß die Augen und schlummerte ein. Helene blieb bei ihr. Als Rosalie auf den Fußspitzen kam und fragte, ob sie zu Bett gehen dürfe, antwortete sie nur mit einem Nicken.

Es schlug elf, als Helene ein leises Klopfen an der Flurtür zu hören meinte. Sie nahm die Lampe und ging verwundert auf den Korridor.

»Wer ist da?«

»Ich! Öffnen Sie!« kam eine gedämpfte Stimme.

Es war Henri. Helene öffnete arglos. Ohne Zweifel hatte der Doktor von Jeannes neuerlichem Anfall gehört und kam nun selbst, wenn ihn auch Helene nicht hatte rufen lassen. Aber Henri ließ ihr nicht Zeit zum Reden. Er war ihr zitternd mit gerötetem Antlitz in die Eßstube gefolgt.

»Bitte, verzeihen Sie mir!« stammelte der Arzt, ihre Hand fassend. »Drei Tage lang habe ich Sie nicht gesehen. ich konnte es nicht länger aushalten.«

Helene hatte ihre Hand frei gemacht. Sie hatte ihn mit schweigender Strenge angehört, die ihn quälte.

»Oh! weshalb spielen wir diese schreckliche Komödie?« rief Henri, »ich kann nicht mehr; mein Herz droht zu zerspringen. Ich werde noch eine neue Tollheit begehen. Ich möchte Sie umfassen, vor aller Augen entführen.«

In magischem Zwang streckte er die Arme nach ihr aus.

Er hatte sich wieder genähert, er küßte ihr Gewand ... seine fieberheißen Hände irrten umher. Sie blieb kalt und starr wie ein Marmorbild.

»Also wissen Sie noch nichts?« fragte Helene.

Und da er ihr Handgelenk gefaßt hatte und es mit Küssen bedeckte, wehrte sie endlich voll Ungeduld ab.

»Lassen Sie mich doch endlich! Sie sehen ja, daß ich Sie nicht einmal anhöre. Denke ich wohl an solche Dinge!«

Helene beruhigte sich und fragte noch einmal:

»Sie wissen also nichts? ... Nun, meine Tochter ist krank ... ich freue mich, daß Sie gekommen sind ... Sie können mich beruhigen ...«

Die Lampe fassend ging sie voran. Auf der Schwelle wandte sie sich um und sagte hart:

»Ich verbiete Ihnen, hier noch einmal anzufangen ... Niemals! Niemals!«

Ihre hellen Augen glitzerten.

Deberle trat hinter ihr ein und faßte noch immer nicht, was sie ihm sagte. In diesem Zimmer, zur gleichen Nachtstunde, inmitten der verstreuten Linnen- und Kleidungsstücke atmete er wieder jenen Verbenenduft, der ihn am ersten Abend verwirrt; als er Helene mit losem Haar und von den Schultern geglittenem Schal gesehen hatte. Wieder hier zu sein und niederzuknien, all diesen Liebesduft einzuschlürfen, den Tag in Anbetung zu erwarten und sich zu Vergessen... ein Traum! Seine Schläfen pochten, er stützte sich auf die eiserne Bettstatt des Kindes.

»Sie ist eingeschlafen,« sagte Helene leise. »Sehen Sie das Kind an!«

Er hörte sie nicht, die Leidenschaft wollte nicht zum Schweigen kommen. Sie hatte sich über das schlafende Kind gebeugt, und er hatte ihren goldenen Nacken mit den sich kräuselnden feinen Haaren gesehen. Er schloß die Augen, um nicht dem Zwange zu unterliegen, einen Kuß darauf zu drücken.

»Doktor, sehen Sie doch, die Kleine glüht... Es hat nichts auf sich? Sprechen Sie doch!«

In dem tollen Verlangen, das ihm das Hirn zerhämmerte, fühlte er berufsmäßig mechanisch nach dem Puls des Kindes. Aber der Kampf in seinem Innern war zu stark. Er verweilte einen Augenblick reglos, ohne zu wissen, daß er die arme kleine Hand in der seinigen hielt.

»Sagen Sie, Doktor, hat sie starkes Fieber?«

»Starkes Fieber?« echote er geistesabwesend.

Die kleine Hand brannte in der seinigen. Wieder Stillschweigen. Endlich erwachte der Arzt in ihm. Er zählte die Pulsschläge. In seinen Augen erlosch eine Flamme. Sein Gesicht überzog sich mit fahler Blässe, und er bückte sich voll Unruhe, Jeanne aufmerksam betrachtend.

»Der Anfall ist sehr heftig, Sie haben recht.... mein Gott, das arme Kind!«

Sein Begehren war tot, er fühlte nur noch triebhaft den Wunsch, ihr dienstbar zu sein. Er hatte sich gesetzt und befragte die Mutter über die Symptome, die dem Anfall vorausgegangen waren.

Da erwachte das Kind mit einem Seufzer. Jeanne klagte über starkes Kopfweh. Die Schmerzen in Hals und Schultern waren so heftig geworden, daß sie sich ohne zu stöhnen kaum rühren konnte.

Helene, die an der anderen Seite des Bettchens kniete, sprach ihr Mut zu und lächelte, während ihr das Herz vor Jammer zu springen drohte.

»Ist da jemand, Mama?« Das Kind wandte sich suchend um und sah den Arzt.

»Es ist ein Freund, du kennst ihn.«

Die Kranke musterte den Doktor nachdenklich und zögernd, dann verklärte sich ihr Gesicht. »0 ja, ja, ich kenne ihn. Ich liebe ihn sehr.«

Und dann schmeichelnd:

»Er muß mich gesund machen, der Herr Doktor, nicht wahr? Mama soll wieder froh werden. Ich will auch alles trinken, was Sie verordnen, ganz gewiß!«

Der Doktor hatte wieder nach dem Puls gegriffen, während Helene die andere Hand hielt. So schaute Jeanne mit einem leichten nervösen Schütteln ihres Köpfchens die beiden aufmerksam an, als hätte sie sie noch niemals gesehen. Dann fröstelte sie, und die kleinen Hände krallten sich.

»Geht nicht fort, nicht fort ... Ich fürchte mich ... Helft mir, helft mir! Laßt nicht die vielen Leute zu mir herein ... Ich will bloß euch, bloß euch beide, ganz nahe ... Ganz nahe zu mir her, ihr alle beide ... zusammen.«

Jeanne zog sie krampfhaft an sich und murmelte: »Zusammen, zusammen ...«

Die Fieberkrämpfe wiederholten sich. In lichten Augenblicken dämmerte Jeanne in einen trägen Schlummer hinüber. Der Atem ging unhörbar, und sie lag wie tot. Wenn sie dann wieder jäh auffuhr, lag es vor ihren Augen wie weißer Nebel. Sie sah und hörte nichts mehr. Der Doktor hatte einen Teil der Nachtwache übernommen. Es wurde eine sehr schlimme Nacht. Nur einmal war er hinuntergegangen, sich selbst etwas zu trinken zu holen. Als er gegen Morgen fortging, begleitete ihn Helene angstvoll ins Vorzimmer.

»Nun?«

»Die Sache ist sehr ernst. Aber bitte, ängstigen Sie sich nicht. Bauen Sie auf mich... Ich werde gegen zehn Uhr wiederkommen...«

Helene fand das Kind im Bettchen sitzen. Es suchte mit irren Blicken umher.

»Ihr habt mich allein gelassen! Allein gelassen! Ich fürchte mich, ich will nicht allein bleiben,« jammerte sie.

Die Mutter suchte sie mit einem Kuß zu trösten, aber das Kind wollte sich nicht beruhigen.

»Wo ist er? Oh, sag ihm, daß er nicht fortgeht... Ich will, daß er hierbleibt... ich will...«

»Er wird ja wiederkommen, mein Engel,« sagte Helene weinend. »Er wird uns nicht verlassen, das verspreche ich dir. Er liebt uns beide zu sehr... Komm, sei lieb und leg dich wieder. Ich bleibe bei dir und warte, bis er wiederkommt.«

»Wirklich? Wirklich?« flüsterte das Kind, schon wieder in tiefen Schlummer sinkend.

Es folgten schreckliche Tage, drei angstvolle, fürchterliche Wochen. Das Fieber setzte nicht eine Stunde aus. Jeanne hatte nur ein wenig Ruhe, wenn der Arzt da war und sie seine und der Mutter Hand in den ihren fühlte. Die Krankheit hatte Sinne und Empfindungen des Kindes geschärft. Jeanne fühlte, daß nur noch ein Wunder seiner Liebe sie retten konnte. Durch viele Stunden schaute sie mit ernsten, nachdenklichen Augen auf das an ihrem Bette sitzende Paar. Alles menschliche Leiden trat in diesen Blick der Todkranken. Sie sprach nicht, sagte alles nur mit dem warmen Druck ihrer Hände. Es war die flehentliche Bitte, sie nicht allein zu lassen. Wenn der Arzt nach kurzer Abwesenheit wieder hereinkam, geriet sie in helles Entzücken. Ihre Augen, die den Blick nicht von der Tür gelassen hatten, füllten sich mit Freude. Dann schlief sie ruhig ein und konnte hören, wie der Arzt und die Mutter sich um sie zu schaffen machten und leise flüsterten.

Am Morgen nach dem Anfall hatte sich Doktor Bodin eingestellt. Jeanne hatte nur schmollend den Kopf gewendet und auf die Fragen des alten Hausarztes jede Auskunft verweigert.

»Ihn nicht, Mama! Nicht ihn, ich bitte dich,« sagte sie leise.

Als Doktor Bodin am andern Tage wiederkam, mußte ihm Helene vom Widerwillen des Kindes sprechen. So trat denn der alte Arzt nicht mehr ans Krankenbett selbst, sondern erkundigte sich täglich einmal und besprach sich zuweilen mit seinem Kollegen Doktor Deberle, der dem alten Herrn gegenüber große Ehrerbietung zeigte. Auch der Priester und Herr Rambaud kamen jeden Abend und verbrachten in bangem Schweigen eine Stunde bei der Freundin. Doch auch von ihnen wollte das Kind nichts wissen. Die Brüder mochten sich noch so sehr in eine Ecke drücken, Jeanne fühlte sofort ihre Anwesenheit. Dann warf sie sich ungeduldig herum und lallte:

»Oh, Mama! Mir ist schlecht... ich ersticke vor Hitze... schick doch die Leute fort... bitte gleich...«

Helene gab dann den Freunden schonend zu verstehen, daß die Kleine schlafen wolle, und sie gingen mit gesenkten Köpfen weg. Dann tat Jeanne einen tiefen Atemzug, schaute im Zimmer umher und heftete dann ihre Augen mit unsagbarer Zärtlichkeit auf Mutter und Arzt.

»Guten Abend... jetzt ist's mir wohl... bleibt bei mir!«

Drei Wochen fesselte die Krankheit das Kind ans Bett. Zu Anfang war Henri täglich zweimal gekommen, brachte dann bald die ganzen Abende dort zu und widmete dem Kinde alle Stunden, über die er verfügen konnte. Zuerst hatte er an ein typhusähnliches Fieber geglaubt, aber bald hatten sich so widersprechende Merkmale gezeigt, daß sich der Arzt nicht mehr auskannte. Es handelte sich zweifellos um die Anzeichen einer Bleichsucht, die so schwer feststellbar ist und deren Komplikationen im Pubertätsalter oft sehr bedenklich werden können. Deberle fürchtete, daß das Herz und auch die Lunge angegriffen sei. Was ihm zu schaffen machte, war die nervöse Aufgeregtheit der kleinen Patientin, die er nicht zu beruhigen vermochte, und vor allem jenes heftige hartnäckige Fieber, das der ärztlichen Behandlung energischen Widerstand entgegensetzte. Er widmete diesem seltsamen Fall all sein Können mit dem einzigen Gedanken, daß er sein Glück, sein eigenes Leben behandele. Ein großes Schweigen, getragen von einer feierlichen Erwartung, war in ihm. Nicht ein einziges Mal erwachte in diesen Wochen der Angst seine Leidenschaft. Es erregte ihn nicht, wenn Helenes Atem ihn streifte. Wenn ihre Blicke sich begegneten, sprachen sie von der freundschaftlichen Trauer zweier Menschen, die ein gemeinsames Unglück bedroht.

Eines Abends erriet Helene, daß Henri ihr etwas verheimliche. Seit Minuten schon beobachtete er Jeanne prüfend, ohne ein Wort zu sprechen. Die Kleine klagte über unerträglichen Durst. Sie würgte, und ihre ausgedörrte Kehle ließ ein ständiges Pfeifen hören. Das Gesicht war tief gerötet, und eine dumpfe, schwere Müdigkeit umfing sie, so daß sie nicht einmal die Augen zu öffnen vermochte. Sie lag matt und bewegungslos, nur das Röcheln verriet ihr Leben.

»Es geht ihr sehr schlecht, nicht wahr?« fragte Helene stockend.

Nein, aber es sei noch keine Änderung eingetreten. Henri war sehr blaß, sein Unvermögen drückte ihn schwer. Da sank Helene trotz aller Selbstbeherrschung auf ihrem Stuhle zusammen.

»Sagen Sie mir alles. Sie haben versprochen, mir die Wahrheit zu sagen. Geht es zu Ende?« Und als er schwieg, drängte sie mit Heftigkeit:

»Sie sehen ja, daß ich stark bin. Weine ich etwa? Verzweifle ich denn? Sprechen Sie! Die Wahrheit will ich wissen!«

Henri sah sie fest an.

»Nun denn! Die Krise ist da. Wenn sie nicht binnen einer Stunde diese Schläfrigkeit überwunden hat, ist es vorüber.«

Helene gab keinen Laut von sich. Eiseskälte kroch an ihrem Körper hinauf, und das Entsetzen trieb ihr das Haar zu Berge. Ihre Augen senkten sich auf Jeanne. Sie fiel auf die Knie und nahm das Kind schützend in die Arme, wie um es an ihrer Schulter zu hüten. Während einer bangen Minute brachte sie ihr Gesicht dicht an das des Kindes und tränkte es mit ihren Blicken, wollte ihm den eigenen Atem, das eigene Leben leihen. Das Röcheln der Kranken wurde schwächer und schwächer.

»Ist denn gar nichts zu machen?« fragte sie verzweifelt. »Warum sitzen Sie da müßig herum? ... Tun Sie doch irgend etwas ... Tun Sie doch etwas ... Was soll ich denn tun? Sie werden sie doch nicht sterben lassen ...«

»Ich werde alles tun,« sagte der Doktor schlicht.

Deberle hatte sich erhoben. Er wollte den Kampf aufnehmen. All seine Kaltblütigkeit und Entschlossenheit raffte er zusammen. Hatte er bisher noch nicht die Anwendung schärfster Mittel aus Furcht, den schwachen Körper noch mehr zu entkräften, gewagt, jetzt zögerte der Arzt nicht länger. Er schickte Rosalie zur Apotheke und ließ ein Dutzend Blutegel holen. Er verheimlichte auch der Mutter nicht, daß es bei diesem letzten verzweifelten Versuch um Leben und Tod ginge. Als die Blutegel gebracht waren, sah er ihr den Ekel an.

»O Gott! O Gott! Wenn Jeanne nun stirbt ...«

Er mußte ihr das Einverständnis mit dieser Behandlung abringen.

»Nun denn, setzen Sie sie an! Aber möge der Himmel Ihnen Hilfe leihen!« Helene hatte das Kind nicht aus den Armen gelassen. Sie weigerte sich auch, aufzustehen, denn sie wollte den Kopf der Kleinen an ihrer Schulter fühlen. Deberle sprach kein Wort. Sein Gesicht zeigte einen letzten gespannten Ausdruck, und sein Geist war ganz Konzentration. Zuerst wollten die Blutegel nicht fassen. Minuten verstrichen. Der Pendel der Standuhr in dem großen, schattengetränkten Raume hackte sein unerbittliches hartnäckiges Ticktack in die Stille. Jede Sekunde trug eine Hoffnung hinweg. Unter dem gelben Lichtkreis der Hängelampe hatte der bloße Körper des Kindes zwischen den zurückgeworfenen Bettüchern eine wächserne Blässe angenommen. Helene sah trocknen Auges, vom Schmerz zermartert, auf die kleinen, absterbenden Glieder. Um einen Tropfen vom Blute ihres Kindes zu sehen, hätte sie gern das eigene dahingegeben. Endlich zeigte sich ein roter Tropfen. Die Egel hatten gefaßt. Einer nach dem andern saugte sich fest. Das Leben des Kindes entschied sich. Es waren fürchterliche Minuten voll peitschender Erregung. War dies schon der letzte Hauch, der Seufzer des Todes, mit dem Jeannes Leben entfloh? Oder war es des Lebens Wiederkehr? Helene fühlte, wie das Kind erstarrte. Rasende Lust packte sie, die gierig schlürfenden Tiere wegzureißen. Aber eine höhere Gewalt ließ ihre Hände sinken, mit offenem Munde erstarrte sie zu Eis. Der Pendel hackte weiter sein grausames Ticktack, und das halbdunkle Gemach schien angstvoll zu warten.

Jetzt bewegte sich das Kind. Langsam hoben sich die Lider, dann sanken sie wieder, verwundert und müde. Ein leichtes Zittern, gleich einem Hauche, glitt über das totenblasse Gesicht. Jeanne bewegte die Lippen. Helene beugte sich gierig gespannt in heftiger Erwartung vor.

»Mama, Mama!« flüsterte Jeanne.

Da trat Henri ans Kopfende des Bettes neben die junge Frau.

»Sie ist gerettet!«

»Sie ist gerettet... sie ist gerettet... gerettet!« Helene stammelte es von Freude übermannt. Sie war neben dem Bette zu Boden geglitten und schaute mit irrem Blick bald auf die Kranke, bald auf den Arzt.

Mit einer plötzlichen Bewegung sprang sie auf und warf sich dem Retter an den Hals.

»Ah! Ich liebe dich!«

Sie küßte ihn, umschlang ihn. Das war ihr Geständnis, ihr so lange zurückgedrängtes Geständnis! Endlich war es ihr in dieser Herzenskrise entschlüpft. Die Mutter und das liebende Weib wurden eins. Helene bot ihre Liebe dankerfüllt dar.

»Ich weine. Du siehst, ich kann noch weinen. Ach Gott! Wie ich dich liebe. Wie glücklich werden wir sein.«

Die Glückliche hatte zum vertrauten Du gefunden und schluchzte. Der Quell ihrer Tränen, der seit Wochen versiegt war, rieselte über ihre Wangen. Sie blieb in seinen Armen, vertraulich und kosend wie ein Kind, fortgerissen von diesem Aufwallen ihrer Zärtlichkeit. Dann sank sie auf die Knie. Sie hob Jeanne wieder auf den Arm, sie an ihrer Schulter einzuschläfern, und während das Kind in Schlaf fiel, sandte sie Henri einen liebeverheißenden Blick.

Es wurde eine glückselige Nacht. Der Doktor blieb sehr lange. Jeanne lag ausgestreckt in ihrem Bettchen, bis zum Kinn zugedeckt. Das feine braune Köpfchen war in den Kissen vergraben. Jeanne schloß erleichtert und ermattet die Augen, ohne zu schlafen. Die Lampe auf dem Ecktischchen neben dem Kamin erhellte nur eine Ecke des Zimmers und ließ Henri und Helene, die zu beiden Seiten des schmalen Bettes saßen, in einem undeutlichen Schatten.

Das Kind trennte sie nicht, brachte sie vielmehr mit seiner Unschuld an diesem ersten Liebesabend einander näher. Sie atmeten tiefen Frieden nach den langen Tagen der Angst, die sie durchlebt hatten. Endlich fanden sie sich Seite an Seite mit weit offenen Herzen. Sie fühlten, daß sie sich nach den gemeinsam bestandenen Schrecken und Freuden nur noch stärker liebten.

Das Krankenzimmer wurde zum Mitschuldigen; es war so heimelig, so erfüllt mit jenem Frommsein, das als bewegtes Schweigen um ein Krankenbett lagert. Zuweilen stand Helene auf und ging auf den Fußspitzen, einen Trank zu holen, die Lampe heraufzuschrauben oder Rosalie eine Anweisung zu geben. Dann winkte ihr der Doktor, leise aufzutreten. Wenn Helene ihren Platz wieder einnahm, tauschten sie ein vertrautes Lächeln. Es fiel kein Wort. Jeanne allein nahm ihr Denken und Sinnen in Anspruch, Jeanne gehörte ihnen beiden wie ihre Liebe. Zuweilen aber, wenn sie sich um die kleine Kranke zu tun machten, etwa das Deckbett in die Höhe zogen oder ihr den Kopf höher rückten, fanden sich ihre Hände. Es war die einzige Zärtlichkeit, unabsichtlich und verstohlen, die sie einander vergönnten.

»Ich schlafe nicht, ich weiß ja, daß ihr da seid,« flüsterte Jeanne.

Dann freuten sich beide, das Kind sprechen zu hören. Wunschlos trennten sich ihre Hände, das Kind gab ihnen Ruhe und Frieden.

»Bist du munter, mein Liebes?« fragte Helene, wenn sie nur sah, daß die Kranke sich bewegte.

Jeanne antwortete nicht sogleich. Sie sprach wie im Traume.

»Oh! Ja, ich fühle mich gar nicht mehr schlecht ... Ich höre euch, und das freut mich.«

Dann schloß sie wieder die Augen und lächelte glücklich.

Als sich am andern Morgen der Priester und Herr Rambaud einfanden, ließ sich Helene die Ungeduld anmerken. Die Besucher störten sie in ihrem glücklichen Winkel. Und als sie teilnehmend fragten und man den Gesichtern die Angst vor schlimmen Nachrichten ansah, war sie so grausam, zu sagen, daß es Jeanne noch immer nicht besser ginge. So unüberlegt hatte sie allein aus der Selbstsucht heraus geantwortet, die Freude über die Rettung des Kindes für sich und Henri allein zu behalten. Warum wollte man ihr Glück teilen? Es gehörte ihnen beiden – unteilbar. Nein, kein Fremder sollte zwischen ihre Liebe treten.

Der Priester war ans Bett getreten.

»Jeanne! Deine guten Freunde sind da ... Du erkennst uns wohl nicht!«

Das Kind schüttelte ernst den Kopf. Jeanne wollte nicht plaudern, wechselte nur nachdenklich einen Blick des Einverständnisses mit ihrer Mutter. Die beiden Getreuen gingen wieder, und noch größer war ihr Schmerz.

Nach drei Tagen erlaubte Henri der Kranken das erste Ei. Es war ein großes Ereignis. Jeanne wollte die Kostbarkeit durchaus allein mit Mutter und Doktor bei verschlossenen Türen verspeisen. Da Herr Rambaud gerade zugegen war, flüsterte ihr die Mutter, die schon eine Serviette über die Bettdecke gebreitet hatte, ins Ohr:

»Warte, bis er fort ist.«

Als sich Rambaud bald darauf verabschiedete, rief Jeanne:

»Schnell, schnell ... das ist viel schöner, wenn nicht so viele Leute da sind.«

Helene hatte das Kind aufgesetzt, und Henri schob ihr zwei Kissen in den Rücken. So wartete Jeanne mit glückstrahlenden Augen, den Teller auf den Knien, auf ihre Mahlzeit.

»Soll ich dir das Ei aufschlagen?«

»Ja, so ist es recht, Mama.«

»Und ich will dir auch drei recht feine Schnittchen fertigmachen,« sagte der Doktor.

»0 nein ... ich will vier Schnittchen essen. Da staunst du, gelt?«

Jeanne hatte den Doktor zum ersten Male geduzt. Als er ihr das erste Schnittchen gab, haschte sie nach seiner Hand und küßte sie mit leidenschaftlicher Zuneigung.

»Nun sei recht lieb,« sprach ihr Helene zu und konnte kaum die Tränen zurückhalten. »Iß nun schön dein Ei, mein Kind! Du machst uns eine große Freude.«

Jeanne aber war noch so schwach, daß sie schon beim zweiten Schnittchen wieder Müdigkeit fühlte. Sie lächelte tapfer bei jedem Bissen und sagte, sie habe zu weiche Zähne. Henri sprach ihr Mut zu, und Helene kamen die Freudentränen. Dem Himmel Dank! Sie sah das Kind essen! Dieser Anblick rührte sie tief. Plötzlich kam ihr der Gedanke, daß ihre kleine Jeanne starr und tot unter einem Grabtuch läge ... und nun aß das Kind! Es aß so lieb und zierlich mit langsamen Gesten, ein wenig zögernd, – endlich eine Genesende!

»Du bist doch nicht böse, Mama? Ich tue, was ich kann. Ich bin schon beim dritten Schnittchen. Bist du nun zufrieden?«

»Ja, ganz zufrieden, mein Liebling. Ich freue mich ja so schrecklich!«

Und in dem Übermaß des Glückes, das ihr das Herz sprengen wollte, vergaß sie sich und lehnte sich an Henris Schulter. So lächelten beide dem Kinde zu. Dann aber schien Jeanne unwillig zu werden. Sie schaute die beiden verstohlen an und senkte den Kopf, während Schatten von Zorn und Mißtrauen sich auf das schmale Gesichtchen legten. Sie aß nicht mehr.


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