Emile Zola
Ein Blatt Liebe
Emile Zola

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14

Man hatte den Nachtisch aufgetragen, und die Damen wischten sich behutsam die Finger. Für einen Augenblick trat an der Tafel Stille ein. Frau Deberle schaute umher, um zu sehen, ob alle fertig wären. Dann erhob sich die Hausfrau, und es gab ein großes Hin- und Herrücken von Stühlen. Ein alter Herr hatte sich als rechter Tischnachbar beeilt, ihr den Arm anzubieten.

»Nein, nein,« wehrte sie höflich ab und geleitete ihn selbst zur Tür. »Wir werden den Kaffee im kleinen Salon nehmen.«

Mehrere Paare folgten ihr. Zuletzt gingen zwei Damen mit ihren Herren in eifriger Unterhaltung, ohne sich der Gesellschaft anzuschließen. Im kleinen Salon war die Etikette gelockert. Der Kaffee stand schon auf dem Tisch und wurde von einem großen lackierten Tablett serviert. Frau Deberle machte mit der Liebenswürdigkeit der Hausherrin die Runde und kümmerte sich persönlich um die verschiedenen Wünsche. In Wirklichkeit war es ihre Schwester Pauline, die es sich lebhaft angelegen sein ließ, die Herren zu bedienen. Es waren an die zwölf Personen zugegen, ungefähr die übliche Zahl, welche die Familie Deberle an jedem Donnerstag bei sich zu Gaste sah. Gegen zehn Uhr kamen noch viele Leute.

Helene hatte den Kaffee zurückgewiesen und sich recht abgespannt abseits in eine Ecke gesetzt. Sie trug ein schwarzes Samtkleid ohne Besatz in strenger Draperie. Man rauchte im Salon. Die Zigarrenkisten standen neben ihr auf einer Konsole. Der Doktor trat heran und bediente sich.

»Ist Jeanne munter?«

»Sehr munter,« antwortete sie. »Wir sind heute im ›Bois‹ gewesen. Sie hat sich gründlich ausgetobt... Und jetzt wird sie wohl schlafen ...«

So plauderten sie mit lächelnder Vertraulichkeit wie Leute, die sich alle Tage sehen. Man hörte die laute Stimme Frau Deberles:

»Ei, Frau Grandjean kann es Ihnen sagen. Nicht wahr? Am zehnten September bin ich von Trouville nach Hause gekommen. Es regnete, und am Strand war es unausstehlich.«

Einige Damen umstanden die Hausherrin, die von ihrem Aufenthalt im Seebad sprach. So mußte sich Helene der Gruppe der Plaudernden anschließen.

»Wir waren vier Wochen in Divard,« erzählte Frau de Chermette. »Oh, eine herrliche Gegend und reizende Gesellschaft!«

»Hinter unserer Villa hatten wir einen Garten, und eine Terrasse ging aufs Meer hinaus,« schwatzte Frau Deberle weiter. »Sie wissen doch, ich hatte mich entschlossen, meinen Landauer und den Kutscher mitzunehmen. Das ist für die Spazierfahrten immer so bequem ... Frau Levasseur hat uns besucht.«

»Ja, an einem Sonntag,« bestätigte diese. »Wir waren in Cabourg. Oh! Sie hatten eine herrliche Wohnung, bloß ein bißchen teuer.«

Frau Berthier unterbrach sie und wandte sich an Juliette:

»Ist es wirklich wahr, daß Sie bei Herrn Malignon Schwimmuntericht hatten?«

Helene bemerkte auf Frau Deberles Gesicht ein plötzliches Unbehagen. Sie glaubte schon mehrmals beobachtet zu haben, daß es ihr peinlich war, wenn unvermutet der Name Malignon fiel. Doch schon hatte sich die junge Frau wieder in der Gewalt.«

»Ein prächtiger Schwimmer! Als ob der irgend jemandem Unterricht geben könnte! Übrigens habe ich vor kaltem Wasser schreckliche Angst. Wenn ich bloß jemanden baden sehe, kriege ich schon eine Gänsehaut.«

»Also ist's ein Märchen, das man uns aufgebunden hat?« fragte Frau Guiraud.

»Natürlich. Ich wette, er hat es selbst erfunden. Er verwünscht mich nämlich, seit er mit uns dort unten vier Wochen zusammen gewesen ist.«

Unterdessen war Fräulein Aurélie eingetreten. Sie begann sofort mit einem Lobpreis auf Juliettes Robe aus gepreßtem marineblauem Samt, mit schwarzer Seide garniert. Jetzt erst schienen die anwesenden Damen die Robe zu bemerken. Köstlich! Wirklich köstlich! Das Fräulein kam also direkt von Worms, eine Tatsache, die für weitere fünf Minuten Unterhaltungsstoff lieferte. Der Kaffee wurde genommen. Die Gäste hatten die geleerten Tassen aufs Kaffeebrett, auf den Tisch und die Konsolen abgestellt. Warmer Dunst, Kaffeeduft mit den leichten Parfüms der Toiletten vermischt, begann den Salon zu füllen. Frau Deberle hatte ihrem Gatten einen verstohlenen Wink gegeben. Er verstand und öffnete selbst die zum großen Saal führende Tür, und während der Diener das Kaffeebrett davontrug, ging man hinüber. Es war in dem großen Räume fast kühl. Sechs Lampen und ein zehnarmiger Kronleuchter füllten ihn mit grellem weißem Lichte. Einige Damen hatten sich dort schon um den Kamin gruppiert, und ein paar Herren standen zwischen den aufgespreizten Röcken. Durch die offene Tür des Resedasalons hörte man die scharfe Stimme Paulines, die es sich dort mit dem kleinen Tissot gemütlich gemacht hatte.

»Da ich einmal eingegossen habe, müssen Sie auch austrinken. Was soll ich nun damit machen? Pierre hat doch schon das Tablett weggetragen.«

Dann sah man sie ganz in Weiß in einem mit Schwan besetzten Kleide. Mit einem Lächeln, das ihre Zähne zwischen den frischen Lippen zeigte, rief sie:

»Da kommt der schöne Malignon!«

Begrüßung und Händedrücke nahmen kein Ende. Herr Deberle hatte seinen Platz neben der Tür gewählt, und seine Gattin, die unter den Damen auf einem niedrigen Taburett saß, mußte sich alle Augenblicke erheben. Als Malignon sich vorstellte, wandte sie den Kopf zur Seite. Malignon war modisch gekleidet und frisiert. Ein tadellos gezogener Scheitel lief bis in den Nacken hinunter. Beim Eintreten hatte er das Einglas ins Auge geklemmt – »außerordentlich schneidig«, bemerkte Pauline – und ließ nun seine Augen wie ein Feldherr durch den Salon wandern. Er drückte dem Doktor nachlässig die Hand und trat dann auf Frau Deberle zu. Er reckte sich, in einen schwarzen Frack gezwängt, zu seiner ganzen Länge auf.

»Ah, Sie sind's!« sagte sie anzüglich. »Es scheint, Sie schwimmen jetzt!«

Malignon verstand zwar nicht, antwortete aber geistesgegenwärtig:

»Aber gewiß, meine Gnädigste ... ich habe doch einmal einen Neufundländer gerettet, der am Ertrinken war.«

Die Damen fanden das reizend, und sogar die Hausherrin gab sich geschlagen.

»Ich glaube Ihnen den Neufundländer gern – aber Sie wissen doch, daß ich nicht ein einziges Mal in Trouville gebadet habe.«

»Ach so, Sie meinen die Schwimmstunde, die ich Ihnen gegeben habe... habe ich Ihnen nicht einmal in Ihrem Eßzimmer gesagt, daß man Hände und Beine bewegen müsse?«

Die Damen lachten. Er war kostbar. Juliette zuckte die Achseln. Mit diesem Malignon konnte man wirklich kein ernstes Gespräch führen. So erhob sie sich und trat zu einer Dame, der der Ruf einer vorzüglichen Pianistin vorausging und die zum ersten Male in diesem Kreise hier Gast war. Helene saß neben dem Kamin, sah und hörte sich alles mit unerschütterlicher Ruhe an. Malignon schien sie besonders zu interessieren. Sie hatte gesehen, wie er sich gewandt Frau Deberle näherte, die sie jetzt hinter ihrem Lehnsessel plaudern hörte. Sie lehnte sich ein wenig zurück, um besser zu verstehen.

»Warum sind Sie gestern nicht gekommen? Ich habe bis um sechs auf Sie gewartet.« Das mußte Malignons Stimme sein.

»Lassen Sie mich doch in Ruhe. Sind Sie verrückt?« flüsterte Juliette.

Jetzt wurde Malignons Stimme lauter.

»Ha, gnädige Frau! Sie glauben mir die Geschichte mit dem Neufundländer nicht! Ich habe eine Rettungsmedaille bekommen. Darf ich sie Ihnen zeigen?«

Und dann setzte er kaum hörbar hinzu:

»Sie haben es mir doch versprochen ... Besinnen Sie sich doch...«

Eine ganze Familie erschien, und Frau Deberle erging sich von neuem im üblichen Begrüßungsschwall, während Malignon mit dem Einglas im Auge zu den Damen trat.

Helene lehnte sich leichenblaß zurück. Das war ein Blitzschlag, etwas Unerwartetes, Ungeheuerliches! Wie konnte diese so glückliche Ehefrau mit so ruhigem Gesicht ihren Gatten hintergehen? Und ausgerechnet mit diesem Malignon!

Plötzlich traten ihr die Nachmittage im Hausgarten wieder vors Auge. Juliette, lächelnd und zärtlich, und der Kuß des Doktors berührte ihr Haar. Sie liebten einander doch! Und plötzlich übermannte Helene ein Zorn, als ob sie persönlich von dieser Doktorsfrau betrogen würde.

Es demütigte sie um Henris willen, und tolle Eifersucht packte sie. Sie mußte unbedingt wissen, was Henri in diesem Augenblick tat und sprach. Sie erhob sich, suchte im Saale und fand ihn endlich.

Doktor Deberle plauderte im Stehen mit einem hochgewachsenen Herrn. Er war sehr ruhig, seine Miene zeigte Zufriedenheit, und sein Lächeln hatte den gewohnten Zug höflicher Aufmerksamkeit. Sie hatte unsagbares Mitleid mit ihm, und in ihrer uneingestandenen Beschützerrolle wuchs ihre Liebe zu ihm. Ein unbestimmter Gedanke sagte ihr, daß sie, Helene, den Freund nun für das verlorene Eheglück schadlos halten müsse.

Henri schien sie zu übersehen, hatte sich ihr auch nicht mehr genähert, nur zuweilen lächelte er ihr von weitem zu. Zu Beginn des Abends hatte sie sich erleichtert gefühlt, ihn so vernünftig zu sehen. Aber seit sie nun wußte, wie es um die beiden anderen stand, hätte sie sich nun einen Beweis seiner Zärtlichkeit gewünscht, selbst auf die Gefahr hin, bloßgestellt zu werden. Liebte er sie denn nicht mehr, daß er so kalt blieb? Ach! Wenn sie ihm nur alles hätte sagen, wenn sie ihm die Schmach dieses Weibes, das seinen Namen trug, hätte offenbaren können! Während das Piano drüben lustige Weisen erklingen ließ, wiegte ein Traum sie ein: Henri hatte Juliette verstoßen, und sie, Helene, war mit ihm als seine rechtmäßige Frau in einem fernen Lande, dessen Sprache sie nicht verstanden...

Eine Stimme schreckte sie auf.

»Nehmen Sie denn gar nichts?« Es war Pauline.

Der Salon hatte sich geleert. Man war zum Tee ins Eßzimmer gegangen. Helene erhob sich mühsam. Alles kreiste in einem Wirbel. Sie glaubte, daß sie die vorhin belauschten Worte, diesen kaltlächelnd friedlichen Bruch einer bürgerlichen Ehe nur geträumt habe. Wenn das alles wahr wäre, würde Henri bei ihr sein und sie gemeinsam dieses Haus verlassen haben.

»Sie nehmen doch eine Tasse Tee?«

Helene dankte lächelnd Frau Deberle, die ihr am Tische einen Stuhl aufgehoben hatte. Schalen mit Gebäck und Zuckerwerk bedeckten den Tisch, indes ein großer und einige kleinere Kuchen kunstreich auf Tellern aufgebaut waren. Es war recht eng. Die Teetassen, zwischen denen graue Servietten mit langen Fransen lagen, drängten sich aneinander. Nur die Damen konnten Platz finden. Einige hatten sich die Mühe gemacht, die Herren zu bedienen. Diese tranken entlang den Wänden im Stehen und mußten Obacht geben, sich nicht gegenseitig durch unfreiwillige Ellbogenstöße in Gefahr zu bringen. Andere wieder, die in den Salons zurückgeblieben wären, warteten geduldig, bis die Kuchenschale auch zu ihnen gewandert war. Pauline feierte Triumphe. Man plauderte lebhafter, silberhelles Lachen klang auf.

»Reichen Sie mir doch bitte den Kuchen,« bat Fräulein Aurélie, die neben Helene zu sitzen kam. »All dies Zuckerzeug ist nicht das Richtige.«

Sie hätte schon zwei Schalen geleert und sagte, zufrieden mit vollem Munde kauend:

»Ah, die Leute gehen ja ... jetzt wird's endlich gemütlich werden.«

Wirklich begannen einige Damen sich zu verabschieden und drückten Frau Deberle die Hand. Viele hatten sich schon heimlich empfohlen. Der Raum wurde leer, und die Herren setzten sich ihrerseits an den Tisch. Nur Fräulein Aurélie wich und wankte nicht. Sie hätte noch gar zu gern ein Glas Punsch getrunken.

»Ich will Ihnen eins verschaffen,« sagte Helene und erhob sich.

»O nein, danke. Bemühen Sie sich doch meinetwegen nicht.«

Seit einer Weile überwachte Helene den schönen Malignon. Er hatte soeben dem Doktor die Hand gedrückt und grüßte jetzt Juliette in der Tür. Es war ihm nichts anzumerken. Sein Gesicht war blaß und ruhig, die Augen klar, und bei seinem konventionellen Lächeln hätte man glauben können, daß er die Gastgeberin soeben zu dem gelungenen Abend beglückwünsche. Als Pierre auf einer Anrichte unfern der Tür den Punsch eingoß, wußte es Helene so einzurichten, daß sie sich hinter der Portiere verbergen konnte. Sie lauschte.

»Ich bitte Sie,« flüsterte Malignon, »kommen Sie am Nachmittag ... Ich werde Sie um drei Uhr erwarten ...«

»Sie glauben das doch wohl nicht im Ernst,« lachte Frau Deberle laut ... »Was reden Sie da für Dummheiten?«

Malignon ließ nicht locker.

»Ich warte also auf Sie ... Kommen Sie am Nachmittag ... Sie wissen doch, wo es ist?«

»Nun ja denn, also am Nachmittag,« flüsterte Juliette hastig.

Malignon verneigte sich und ging. Als Frau de Chermette und Frau Tissot sich gemeinsam empfahlen, geleitete sie Juliette verbindlich lächelnd ins Vorzimmer: »Ich werde Sie am Nachmittag besuchen ... Ich habe morgen eine Unmenge Besuche zu machen ...«

Helene stand noch immer bleich und reglos hinter dem Vorhang. Sie taumelte und ging nach einer Weile in den Salon zurück. Hier ließ sie sich in einen Armsessel sinken, die Lampe gab einen rötlichen Schein, und die niedergebrannten Kerzen des Kronleuchters drohten die Seidenmanschetten in Brand zu setzen. Vom Speisezimmer her hörte man den Aufbruch der letzten Gäste. So war es also doch kein Traum. Juliette wollte zu diesem Manne gehen! Morgen, sie hatte sich den Tag gemerkt... Oh, sie würde jetzt keine Rücksicht mehr kennen! Es war ein Aufschrei ihrer Seele. Dann wieder meinte Helene, sie müsse zuerst mit Juliette reden und sie vor ihrem Fehltritt bewahren. Diesen einzig richtigen Gedanken aber schob sie als unpassend beiseite. Sie starrte in den Kamin, wo ein verlöschender Brand knisterte.

»Ei! Da sind Sie ja, meine Liebe,« rief Juliette näher tretend. »Reizend, daß Sie nicht auch schon gegangen sind. Endlich kann man aufatmen!«

Und als Helene aus ihren Gedanken gerissen sich erheben wollte, rief sie lebhaft:

»Warten Sie doch, wir haben es ja nicht eilig. Henri, gib mir mein Riechfläschchen.«

Einige wenige Vertraute hatten sich verspätet. So setzte man sich vor den Kamin und machte noch ein wenig Konversation. Henri war gegen seine Frau von besonderer Aufmerksamkeit, Er hatte ihr das Riechfläschchen gebracht und fragte nun, ob sie nicht recht müde sei und sich nicht gar zu sehr angestrengt habe. Freilich, sie fühlte sich ein wenig abgespannt, war aber recht zufrieden, daß der Abend so geglückt war. Sie erzählte, daß sie nach solchen geselligen Empfängen nicht recht einschlafen könne und sich bis in den frühen Morgen im Bett herumwerfe. Henri neckte sie lächelnd. Helene beobachtete Juliette in einem Zustand des Dahindämmerns, der jetzt das ganze Haus einzulullen schien.

Bis auf zwei Personen waren inzwischen alle Gäste gegangen. Pierre hatte eine Droschke geholt. Es schlug ein; Uhr, Helene blieb bis zuletzt. Henri tat sich als Hausherr keinen Zwang mehr an, stand auf und löschte zwei Kerzen des Kronleuchters.

»Oh, ich bringe Sie ja um Ihren Schlaf,« stotterte Helene und erhob sich plötzlich. »Werfen Sie mich doch hinaus!«

Sie war rot geworden, und das Blut drängte ihr zum Herzen. Das Ehepaar geleitete sie ins Vorzimmer. Da es hier fühlbar kalt war, sorgte sich der Doktor um seine Frau.

»Geh hinein! Du bist erhitzt, du wirst dich erkälten.«

»Nun denn, so leben Sie wohl,« rief Juliette und gab Helene spontan einen Kuß. »Besuchen Sie mich doch öfter.«

Henri hatte den Pelzmantel von der Garderobe genommen, um Helene hineinzuhelfen. Er schlug ihr den Kragen in die Höhe, und beide schauten lächelnd in den Spiegel, der eine Wand des Vorzimmers einnahm. Da warf sich Helene plötzlich ihrem Liebhaber nach rückwärts in die Arme. Seit Monaten hatten beide nur einen freundschaftlichen Händedruck gewechselt – sie wollten einander nicht mehr lieben. Sein Lächeln verschwand, und er warf die Maske ab. Henri preßte sie, gänzlich von Sinnen, an sich und küßte sie auf den Hals, indes sie den Kopf zurückbeugte, ihm den Kuß zurückzugeben.

Helene verbrachte eine schreckliche Nacht. Sie war mit ihrer Willenskraft am Ende, und unaussprechliche Gedanken marterten ihren Geist. Sie versuchte einzuschlafen, aber im Bett wurden die Qualen unerträglich. Sie wälzte sich im Halbschlummer wie auf einem glühenden Roste. Hirngespinste wuchsen vor ihr auf ins Unendliche und verfolgten sie. Nur einen Gedanken faßte jetzt ihr Hirn. Sie mochte sich wehren, wie sie wollte, dieser Gedanke blieb und schnürte ihr den Hals zu. Die Dämmerung graute. Da erhob sie sich mit dem unerschütterlichen Entschluß einer Nachtwandlerin, entzündete die Lampe und schrieb mit verstellten Schriftzügen ein Billett. Es war eine unbestimmte Denunziation von drei Zeilen. Der Doktor Deberle wurde gebeten, sich noch am gleichen Tage an dem und dem Orte zu der und der Stunde einzufinden. Der Zettel enthielt keine Unterschrift. Helene siegelte den Umschlag und schob den Brief in die Tasche. Dann legte sie sich nieder und fiel sogleich in einen bleischweren Schlaf, der ihr keine Erquickung brachte.

Rosalie konnte den Kaffee erst nach neun Uhr auftragen. Zerschlagen, totenblaß vom nächtlichen Alpdruck, hatte sich Helene sehr spät erhoben. Sie suchte in der Tasche ihres Kleides, fühlte den Brief, steckte ihn wieder ein und setzte sich schweigend vor ihr Tischchen ans Fenster. Auch Jeanne hatte Kopfweh, war verdrießlich und unruhig. Sie mochte noch nicht aufstehen und hatte an diesem Morgen zum Spielen keine rechte Lust. Der Himmel war bleigrau, und ein fahles Licht verdüsterte das Zimmer, während jähe Windstöße von Zeit zu Zeit gegen die Scheiben drückten.

»Bist du krank, Jeanne?«

»Nein, Mama, es ist bloß der garstige Himmel.«

Helene versank wieder in ihr Stillschweigen. Sie trank zerstreut ihren Kaffee und starrte ins Kaminfeuer. Dann erhob sie sich. Sie hatte sich zu ihrer Pflicht entschlossen, mit Juliette zu reden und sie zum Verzicht auf das Stelldichein mit Malignon zu bewegen. Über das Wie war sie sich noch nicht klar, nur war ihr die Notwendigkeit dieses Ganges zur Gewißheit geworden.

Als es zehn Uhr schlug, kleidete sie sich an. Jeanne wandte keinen Blick von ihr. Als das Kind sah, daß die Mutter nach dem Hut griff, preßte sie die kleinen Finger zusammen, und ein Schatten von Schmerz stand auf ihrem Gesichte. Stets zeigte sich Jeanne auf die Ausgänge der Mütter eifersüchtig.

»Rosalie, sieh zu, daß du recht bald mit den Zimmern in Ordnung kommst... Ich bin gleich wieder da.«

Dann umarmte sie Jeanne flüchtig, ohne ihren Kummer zu sehen. Als sie aus dem Zimmer war, tat das Kind, das sich bisher zusammengenommen hatte, einen tiefen Seufzer.

»Oh, das ist gar nicht schön, Fräulein,« suchte das Dienstmädchen in seiner Art zu trösten. »0 weh, o weh, man wird Ihnen die Mama nicht stehlen... Immer können Sie doch nicht an ihren Röcken hängen!«

Helene war in die Rue Vineuse eingebogen und hielt sich an den Hauswänden, sich gegen den Regensturm zu schützen.

Pierre öffnete, schien aber recht verlegen.

»Ist Frau Deberle zu Hause?«

»Ja, Madame, ich weiß bloß nicht recht. ..«

Als Helene in den Salon gehen wollte, erlaubte er sich, ihr in den Weg zu treten.

»Warten Sie, Madame, ich will einmal nachsehen.«

Der Diener öffnete die Tür einen Spalt, und schon hörte man Juliette ärgerlich rufen:

»Wie! Sie haben doch jemand vorgelassen? Ich hatte es doch ausdrücklich verboten! Keine Minute kann man ungestört sein.«

Helene stieß die Tür auf, entschlossen, die Pflicht, die sie vor sich sah, zu erfüllen.

»Ah, Sie sind's... Ich hatte falsch verstanden,« entschuldigte sich Juliette, doch war ihr der Besuch augenscheinlich lästig.

»Störe ich?«

»Nein, nein, Sie werden sogleich alles verstehen, meine Liebe. Wir bereiten eine Überraschung für meinen nächsten Gesellschaftsmittwoch vor. Wir proben nämlich ›Laune‹. Wir hatten gerade diesen Morgen gewählt... oh, bleiben Sie doch nur. Sie werden ja nichts ausplaudern.«

Dann klatschte sie in die Hände und wandte sich an Frau Berthier, die mitten im Salon stand und sich nicht einmal nach der Besucherin umgesehen hatte. Ohne sich weiter um Helene zu kümmern, gab sie ihre Anweisungen:

»Bitte noch einmal! Sie dürfen den Satz ›heimlich sparen, ohne daß der Mann es weiß‹ nicht so stark betonen. Bitte diesen Satz noch einmal!« Helene hatte aufs höchste erstaunt im Hintergrund Platz genommen. Sie hatte eigentlich einen ganz anderen Auftritt erwartet. Sie hatte geglaubt, Juliette nervös, zitternd und zagend bei dem Gedanken an das Stelldichein zu finden. Sie hatte sich selbst schon gesehen, wie sie die Freundin beschwor, alles noch einmal gut zu bedenken, und diese würde sich dann ihr mit ersticktem Schluchzen in die Arme werfen. Dann würden sie zusammen geweint haben und Helene mit dem Gedanken gegangen sein, daß Henri nun endgültig für sie selbst verloren sei, sie aber sein' Eheglück gefestigt habe. Und nun nichts von alledem! Jetzt war sie in eine Theaterprobe, von der sie nichts verstand, hineingeschneit. Juliette war innerlich gänzlich ruhig, wohl ausgeschlafen und konnte sich nun über eine Schauspielergeste mit Frau Berthier herumstreiten.... Diese Gleichgültigkeit, dieser Leichtsinn trafen Helene wie ein kalter Wasserstrahl, sie, die noch soeben glühend vor Leidenschaft dieses Zimmer betreten hatte.

»Wer spielt den Chavigny?« warf sie hin, um etwas zu sagen. Juliette wandte sich verwundert um.

»Natürlich Malignon.... Er hat den Chavigny doch den ganzen letzten Winter gespielt.... Aber man kann den garstigen Kerl ja niemals zu einer Probe herankriegen ... Meine Damen! Ich werde die Rolle Chavignys lesen ... Sonst kommen wir überhaupt nicht weiter.«

Helene hielt hartnäckig an ihrem Entschluß fest und versuchte Juliette beiseite zu ziehen.

»Bloß auf eine Minute. Bloß ein paar Worte...«

»Gänzlich unmöglich, meine Liebe ... Sie sehen doch, daß ich stark engagiert bin ... Vielleicht morgen, wenn's Ihnen paßt...«

»Ich wollte nur fragen, ob Sie nicht heute Frau von Chermette einen Besuch machen wollten?«

»Ja, heute nachmittag.«

»So darf ich mich Ihnen vielleicht anschließen? Ich hatte der Dame schon seit langem einen Besuch versprochen.«

Juliette war verlegen, doch fand sie schnell ihre Geistesgegenwart wieder.

»Gewiß, aber gewiß ... ich würde mich natürlich glücklich schätzen ... Bloß muß ich vorher noch allerlei Lieferanten aufsuchen und weiß wirklich nicht, wann ich bei Frau von Chermette sein werde.«

»Oh; das macht mir gar nichts aus,« blieb Helene hartnäckig. »Ein Spaziergang ist mir nur zuträglich.«

»Nun, so hören Sie. Ich darf ja mit Ihnen offen sein ... Sie würden mir lästig fallen ... Am nächsten Montag habe ich dann mehr Zeit.«

All das brachte Juliette so gänzlich unbefangen mit ruhigem Lächeln heraus, daß Helene in ihrer Verwirrung nichts mehr zu sagen wußte. Sie reichte Juliette, die eilig den Tisch zum Kamin tragen wollte, noch rasch die Hand und wollte sich zurückziehen, während die Probe ihren Fortgang nahm. Plötzlich hörte sie Henri sagen:

»O bitte, meine Damen, lassen Sie sich nicht stören. Ich gehe nur eben durchs Zimmer ...«

Juliette aber wollte die Probe nicht fortsetzen, solange ihr Gatte da bliebe. Männer dürften nicht alles wissen. So zeigte sich der Doktor sehr liebenswürdig, wünschte ihnen Glück und versprach sich eine große Überraschung. Er trug schwarze Handschuhe, und sein Gesicht war glatt rasiert. Er kam offensichtlich von seinen Patienten. Er hatte Helene mit einem leichten Nicken gegrüßt und verabschiedete sich ebenso. Helene hatte geschwiegen und wartete auf irgend etwas Außergewöhnliches. Dies plötzliche Erscheinen des Ehemanns schien ihr bedeutsam. Doch als er nun gegangen war, kam er ihr mit seiner ahnungslosen Höflichkeit durchaus lächerlich, vor. Also auch ihn interessierte dieses dumme Komödienspiel! Plötzlich erschien ihr dies ganze Haus von einer erkältenden Feindlichkeit. Nichts hielt sie jetzt mehr zurück. Sie verabscheute Henri wie Juliette gleicherweise. Auf dem Grund ihrer Tasche fühlte sie den Brief zwischen den Fingern. So stammelte sie nur ein Auf-Wiedersehn und ging, während sich die Möbel vor ihren Augen zu drehen begannen. Als sie auf der Straße war, riß Helene den Brief heraus und schob ihn mechanisch in den Postkasten. Dann blieb sie eine Weile verblüfft stehen und starrte auf den schmalen Kupferdeckel, der klappernd über den Schlitz zurückgefallen war.

»Das ist besorgt.«

Noch einmal überzeugte sie sich, daß sie niemand beobachtet hatte, dann bog sie um die Ecke und ging wieder in ihre Wohnung hinauf.

»Nun, bist du auch artig gewesen, mein Liebling?« begrüßte sie Jeanne mit einem Kuß.

Die Kleine saß noch immer auf dem gleichen Stuhle und hob ihr schmollendes Gesicht. Wortlos legte sie beide Ärmchen um den Hals der Mutter und seufzte schwer.


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