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XVI

Am nächsten Tage hatte Diesberg dem Schiedsgericht eines Reit- und Springturniers beizuwohnen. Als er nach Hause kam, fand er das Antworttelegramm Reginas vor:

»Erwarte Dich Donnerstag in Bern, Berner Hof. Regina.«

Das war merkwürdig. Vielleicht auch erklärlich. Sie reiste ihm ein Stück Wegs entgegen. Und Donnerstag – heute war Dienstag, da nahm er am besten schon den Abendzug. Er war in freudiger Erregung, sein Herz schlug in hellen Tönen, er klingelte und rief nach David und Frau Biene: »Packt mir meinen Handkoffer, der Handkoffer genügt – und dann bereitet alles vor zum Empfang der Frau Baronin, ich hole sie!«

Die alten Leute schrien auf und regten die Beine. Diesberg ließ sich inzwischen mit Bärwalde telephonisch verbinden. Es glückte ihm, noch Ottens habhaft zu werden, der mit dem Frühzug zurückgekehrt war, aber eben im Begriff stand, nach Freilehningen zu fahren.

»Was willst du denn schon wieder?« rief der Jungverlobte, »ich habe fürchterliche Eile, ich muß zu meinem Schwiegervater!«

»Du wirst wohl für mich auch noch einen Augenblick Zeit haben«, rief Diesberg zurück. »Sei nicht so egoistisch. Paß' auf. Ich hol' meine Frau in Bern ab. Am Sonntag können wir in Bärwalde sein. Bringe alle Leute auf den Schwung, das Schloß muß blitzsauber sein. An alle Außenpforten Girlanden, an das Parktor ein Triumphbogen, in alle Zimmer Blumen. Den Viererzug an die Bahn, die Gäule mit kleinen Sträußen als Kopfputz. Die Leute im Sonntagsstaat, laß die Livreen nachsehen, benachrichtige auch den Kantor, die Schulkinder sollen ein Lied singen, das Hannchen von der Mamsell kann meinethalben ein Carmen aufsagen, das macht die Krabbe ganz nett. Gerrlich im Frackanzug, nicht in seinem blauen Rock, mehr Haushofmeister als Lakai. Und lauter vergnügte Gesichter, wenn ich bitten darf! Klaus, ich vertraue auf dich, es soll kein protziger, aber ein hübscher, würdiger und anständiger Empfang werden.«

»Hast du sonst noch Wünsche?« rief Otten wieder von Bärwalde aus. »Na, da hab' ich gehörig zu tun. Aber ich tu's gern, Erni. Ich werde alles schönstens besorgen, du sollst deine Freude haben. Sag' mal, soll ich mit Cullon zu Pferde auf den Bahnhof kommen, damit wir neben eurem Wagen rechts und links kurbettieren oder als Vorreiter voranflitzen? Ich denke mir das äußerst vornehm.«

»Mach' bloß keine Witze«, schrie Diesberg in das Schallrohr. »Nichts Auffallendes und keine Albernheiten. Der Pastor wird wohl auch dabei sein wollen, aber sage ihm gleich: keine lange Weihrede und nicht zu viel Schmalz. Bloß ein freundliches Begrüßungswort.«

»Abgemacht. Also Sonntag. Gottlob, daß wir so weit sind. Auf fröhliches Wiedersehn.«

»Wiedersehn, Klaus!«

*

Am Mittwochnachmittag war Diesberg in Bern und fragte im Hotel nach seiner Frau. Sie war noch nicht da, aber die Frau Baronin hatte sich für morgen von Clarens aus telegraphisch ein Zimmer bestellt. Diesberg ordnete das anders an: er nahm einen hübschen Salon mit der Fensteraussicht auf die Alpen und ein Schlafgemach daneben. Dann ließ er sich ein Schweizer Kursbuch geben und studierte den Fahrplan. Regina konnte mit dem Vormittagszug um elf Uhr acht Minuten eintreffen – das war das Wahrscheinlichste, da wollte er sie auf dem Bahnhof erwarten.

Ein gewaltiger Stimmungsumschwung hatte sich in ihm vollzogen. Ein Gefühl der Freiheit, der Loslösung von unbestimmt Quälendem quoll in ihm auf. Ihre nahende Gegenwart erfüllte ihn mit Beruhigung, als komme nun wieder sein Leben in die festen Hände einer Mitschaffenden. Es war wie eine völlige Umkehrung seiner selbst. Er trug sich mit hundert guten Vorsätzen, vor denen hundert Vorwürfe verstummten. Auf Vorwürfe ihrerseits war er gefaßt, aber ein sieghaftes Lächeln half ihm darüber fort. Wenn die Sprache der Liebe wiederkam, schwieg aller Groll. Die Nacht im Chalet von Beausite rauschte mit Liedern und Harfenklang in ihm auf.

Frohgemut benützte er den Rest des Tages zu einem Umherschlendern unter den Arkaden der alten Stadt. Er sah die Läden noch offen und kaufte bei einem Juwelier ein hübsches Geschenk für Regina: zwei kleine, ineinandergefügte Herzen aus Gold, mit Brillanten besetzt, ein Schmuckstück, das sie als Brosche oder Gürtelschnalle tragen konnte. Er fand das Sinnbild reizend und malte sich aus: er wollte ihr sofort zu Füßen stürzen, ehe sie noch das erste Wort gesprochen hatte, und ihr sein Symbolum auf weißen Rosen überreichen. Das dachte er sich poetisch.

Um die Zeit totzuschlagen, sah er sich den Eröffnungsakt einer Sommeroperette an, speiste dann im Restaurant des Berner Hofs zu Abend, durchblätterte ein paar Zeitungen und ging hierauf in sein Zimmer. Im Schlafgemach standen die beiden Betten mit aufgeschlagenen Decken nebeneinander. Auf das Kissen des einen Bettes, das morgen seine Frau einnehmen sollte, legte er den Schmuck der verbundenen Herzen und freute sich kindlich über den Einfall. Dann entkleidete er sich, stellte sich in einer raschen Regung von Eitelkeit in seinem Pyjama aus Rohseide vor den großen Spiegel und fand, daß er noch immer recht stattlich aussah. Auch der leichtgraue Schimmer an seinen Schläfen paßte zu den frischen Farben des kecken liebenswürdigen Gesichts von einst. –

Seit langem hatte er nicht so gut geschlafen wie in dieser Nacht. Als er erwachte, war sein erster Blick auf das Bett neben dem seinen. Er hatte von Regina geträumt. Doch statt ihres dunklen Kopfes sah er nur die beiden goldenen Herzen auf dem Kissen – und belächelte seine Kindlichkeit.

Aber es war ein unendlich wohliges Empfinden dabei, eine eigentümliche innere Schwerlosigkeit, wie eine Aushebung von Raum und Zeit. Die Freude an dem großen, dicken abschließenden Endstrich unter allem Vergangenen zersetzte die bohrende Macht des Gedanklichen und einer unfruchtbaren Zergrübelung dessen, was gewesen war. Diesberg war wieder der Reitersmann, mit einem gewaltigen Sprunge trieb er den Gaul seines Lebens über den Abgrund der Vergangenheit, fest blieb er im Sattel und konnte nun jubelnd seine Kappe schwenken, da er glücklich drüben war und sonniges Neuland vor sich hatte. Keinen Blick wollte er mehr rückwärts werfen, keinen Zweifel mehr aufkommen lassen, die Krise war vorüber; die Erfahrung der Kleinheit war auch eine Lehre gewesen, und lag in der neuen Freiheit ein Zwang höchster Gebundenheit, so gewann er doch durch seine frohe Zustimmung und durch die Idee der Pflicht.

Er pfiff, als er aufstand, und summte ein Liedchen vor sich hin, als er in die Badestube trat. Dann bestellte er sich sein Frühstück auf das Zimmer und wollte hierauf in die Stadt, um noch einen Blumenladen zu plündern. Da er den Hut aufsetzte, klopfte es an die Tür, ein Kellner trat ein und brachte ihm einen Brief.

Als Diesberg die Adresse las, ging ein Nervenruck durch seinen Körper. Das war ja die Handschrift Reginas! Und das Kuvert trug keine Marke! Hastig riß er es auf. Eine Visitenkarte fiel ihm entgegen: »Regina Freifrau von Diesberg, geborene Lipsius« – und darunter stand: »Bitte um Deinen Besuch auf Zimmer Nr. 103.«

Diesberg wurde sehr blaß. Ein physischer Druck ballte sich um sein Herz. Regina war also schon im Hause! Wann war sie gekommen? Gleichgültig – sie war da und bat in formellster Weise um seinen Besuch. Ah, er verstand – sie wollte ihn mit den Vorwürfen empfangen, die er erwartete und für die er gerüstet war! Das waren natürliche Impulse, die sich überwinden ließen. Nun er so weit war, sich von der Tyrannei der Unvernunft endgültig loszusagen, war die kleine Auseinandersetzung nicht mehr zu fürchten.

Er steckte das Schmuckstück ein, glättete noch einmal sein Haar vor dem Spiegel und suchte dann nach dem Zimmer Nr. 103. Es lag in einem andern Trakt des Hauses. Er klopfte an und vernahm von drinnen die Stimme Reginas: »Herein!« –

Sie trat ihm nicht entgegen. Es war ein großes Zimmer, sie stand an einem Fenster, und als Diesberg die Tür geöffnet hatte, schien ihm, als tue ein endloser Raum zwischen ihm und ihr sich auf. Da er die Tür hinter sich schloß, nahm sie auch schon das Wort und sagte:

»Guten Tag, Ernst. Ich kam mit dem Nachtzuge, und du verzeihst, daß ich mir ein eigenes Zimmer wählte. Da ich vermute, daß du mit mir über unsre Scheidung sprechen willst, dünkte mich das richtiger. Nimm Platz, wenn ich bitten darf.«

Der kühle Tonfall und das Eindeutige ihrer Erklärung verlieh Diesberg sofort völlige Selbstbeherrschung. Mit einem Kniefall und allem sonstigen Zauber der Verliebtheit war hier nichts zu machen. Darauf mußte er Verzicht leisten, nur eine starke, auch kampflustige Energie der Gegenwirkung konnte ihm helfen. Ja gewiß, es gab noch einen Kampf – aber er hoffte den letzten. Er blieb ernst, wie sie es war, als er antwortete:

»Gestatte zunächst, daß ich dir die Hand küsse ...« Er tat es, und sie zog ihre Hand nicht zurück. Er sah ihr schmal gewordenes weißes Gesicht mit dem Leid in den dunklen Augen, und das Herz tat ihm weh. Eine rasende Lust packte ihn plötzlich, sie zu umarmen und einen Schauer von Küssen zu Lethefluten werden zu lassen. Doch er bezwang sich.

Sie nahm Platz, und er setzte sich ihr gegenüber an die andere Seite des Tisches. Es war eine frostige, unbehagliche Situation. Es war wie in einem Theaterstück – nun konnte die große Szene beginnen.

Aber dramatisch zugespitzte Dialektik war nicht Diesbergs Sache. In diesem Augenblick suchte der weltgewandte Mann nach einleitenden Worten. Sie kam ihm zuvor.

»Ich glaube, daß die Scheidung keine gerichtlichen Schwierigkeiten machen wird«, sagte sie. »Ich bin willig, die Schuldfrage durch sogenanntes bösliches Verlassen zu übernehmen. Detmold kann die Angelegenheit ordnen. Die Bestimmungen des Ehevertrags bleiben dabei in Kraft. Du behältst Bärwalde, ich behalte mein Vermögen. Aber ich bin auch zu einem weiteren Entgegenkommen bereit, wenn du mir Vorschläge machen willst.«

Das erbitterte ihn. Der alte Schacher ging wieder los. Sie stammte aus einem Kaufmannshause, man merkte es.

»Verbindlichen Dank«, antwortete er. »Du verkennst nur die Prämisse. Ich dachte nicht daran, mit dir über eine Scheidung zu verhandeln. Ich wollte dich zu mir holen, um damit unsrer ungewollten Isolierung und einem Zustande ein Ende zu machen, der für uns beide unerträglich zu werden begann.«

»Auch für dich?« fragte sie.

»Auch für mich. Ich weiß, worauf du anspielst. Ich bin in meinen Briefen nicht immer der liebende Ehemann geblieben, der ich war, als ich dich verließ. Entschuldigungen könnte ich vorbringen, beiläufige wie meine Überhäufung mit Arbeit, auch psychologische. Aber alle Entschuldigungen hätten wenig Wert ohne meine Absicht, diese Sünden der Unterlassung – oder nenne sie Sünden wider den heiligen Geist der Ehe – durch verdoppelte Liebe und Güte auszugleichen. Als ich vorgestern dein Telegramm erhielt, lebte ich in dem törichten Wahne, du wolltest mir bis hierher entgegenreisen. Am Tage vorher fand die Verlobung meiner Cousine Annelene Pakisch mit Klaus von Otten statt. Das war für mich, ich gestehe es dir offen, sozusagen die Erlösung von einem letzten Rest Herzensspannung aus einem Leben und Weben zurückliegender Zeit – und in der vollen Ungebundenheit meiner selbst und einem Gefühl glücklichster Freiheit kam ich her, dich von neuem und für immer an mich zu schließen und mitzunehmen – als meine Frau. Nun sprichst du von der Scheidung. Ich entsinne mich wohl: schon einmal fiel dies Wort aus deinem Munde – es sollte mir damals eine Tür offen lassen. Aber, Regina, die Tür war schon fest geschlossen, als wir uns verlobten. Vorher hatte ich Otten mein Manneswort verpfändet, mich jeder neuen Annäherung an Annelene zu enthalten. Und dies Wort habe ich nicht gebrochen ...«

Sicher fiel es Regina unsagbar schwer, ihre Ruhe zu bewahren und wenigstens äußerlich eine unnachahmliche Haltung von Selbständigkeit beizubehalten. Sie saß sehr steif und fast gezwungen in der Körperstraffung auf ihrem Sessel, über ihr Gesicht glitten wechselnde Farbentöne, alle schattenhaft wie die Reflexe einer herbstlichen Dämmerstunde, und in den Winkeln des reizenden Mundes, der immer noch seine frische Röte hatte, spielte ein ungebändigtes Nervenzucken. Aber ihre Stimme klang schwer und geordnet, als sie erwiderte:

»Du erinnerst mich nicht umsonst an Tage, in denen jede Stunde einen Vorwurf für mich bedeutet. Ja, Ernst, ich lege reumütig das Bekenntnis ab, daß ich in meiner Liebe zu dir gefehlt habe. Was mir mein Weibsinn zurief und die Leidenschaft mir befahl, ging über die Würde des Weiblichen hinaus. Ich rechne dazu, daß mein angebliches Herzleiden nur eine Täuschung war, um mir wenigstens ein Jahr an deiner Seite zu sichern. Es war eine Liebeslüge, die ich dir zu gelegener Zeit gebeichtet haben würde, hätte Wiesingers Erklärung mir nicht das Geständnis vorweggenommen. Es war mein einziges Verbrechen – und ich habe es wieder gutgemacht. Weißt du wann? In jenen Stunden, da du mir gehörtest und meine Liebe über alle Leiden und Schranken siegte. Aber selten ist ein Weib für das, was es gab, so hart bestraft worden. Ich wollte Liebe, keinen Geliebten. O ja, du besangst mich, wie vielleicht ein griechischer Poet die Phryne besungen hat, als ihre Reize ihn begeisterten – aber deine dichterische Anwandlung war nicht von langer Dauer, dann kam die Prosa und die Nüchternheit und das Vergessen. Da wurde deine Frau für dich zu einem Augenblicksliebchen!«

Bei diesem letzten, wie ein Pfeil vom Bogen geschleuderten Satze zitterte ihre Stimme. Empört hob Diesberg die Hände.

»Das weise ich zurück«, rief er. »Ich lasse dir die Berechtigung, dich über meine Vernachlässigung deiner zu beklagen – da bin ich ein reuiger Sünder. Aber du selbst entweihst eine Tempelnacht, wenn du mein Glauben, Lieben und Erinnern schmähst, und wenn du mich beschuldigst, für Stunden, die mir heilig sind, nur noch ein faunisches Grinsen übrig zu haben! Soll ich anders deine Worte deuten? Regina, ich bin kein Schurke!«

»Das habe ich nicht gesagt,« entgegnete sie eifrig, »du mißverstehst mich absichtlich. Ich habe dich nie für schlecht gehalten, niemals – wohl aber für gleichgültig gegen mein Gefühlsleben. Sag', hast du denn meine Briefe nie aufmerksam gelesen?«

»Immer, Regina!«

»Aber nie mit dem Auge der Liebe. Als ich dir schrieb, daß ich von neuem leidend geworden sei, gabst du mir ein paar gute Worte. Aber ich schrieb dir auch von einem dritten Leben, das ich erwartete, und von dem unzerstörbaren Brückenbau zwischen unsern Herzen, den ich erhoffte – verstandest du das alles nicht?«

Er schaute sie großäugig und fragend an. Ein zages Begreifen dämmerte in ihm auf.

»Ich entsinne mich«, stammelte er voller Verwirrung, »und deutete mir diese Wendungen –«

»Falsch!« fiel sie ein, »falsch, weil dein Herz nicht bei mir war! Ich erwartete ein Kind von dir.«

»Ein Kind!« schrie er. »O Regina – mein geliebtes Weib! ...«

Es waren echte Töne. Es war wie ein Feldgeschrei. Er fuhr auf und wollte zu ihr stürzen.

»Ich Narr,« rief er, »ich blöder Junge!«

Sie hatte sich erhoben, ihre Arme wehrten ihm. Jetzt war ihre Haltung wahrhaft königlich. Das ganze Gesicht in seiner herben Geschlossenheit bewußte sich gleichsam der Vollkraft notwendiger Verteidigung gegen einen Überfall seiner Gefühle.

»Bleib«, rief sie zurück. »Dein Jubel kommt zu spät, Ernst, deine Vaterfreude ist hinfällig geworden. Infolge der Gemütserregungen, die du mir nicht erspartest, erlitt ich eine Fehlgeburt.«

Diesberg taumelte auf seinen Sessel zurück. Tief, bis in die letzten Herzensfasern, griff die grausame Wahrheit. »Lieber Gott«, stöhnte er.

Regina drückte die linke Hand gegen die Brust. Ach, dadrinnen zuckte und fieberte es. Eine nervöse Flut stieg in ihr auf. Sie schloß für einen Moment die Augen und ließ sich wieder langsam nieder.

»Es ist überstanden, Ernst,« fuhr sie fort, »ich bin gesundet. Und da nun keine Brücke mehr von mir zu dir führen soll, laß uns in Ruhe, laß uns ohne Erregung über unsre Scheidung sprechen. Und ohne Vorwürfe – es ist alles vorüber.«

»Warum schriebst du nicht klarer, Regina«, rief er verzweifelt. »Wir plumpen Männer verstehen ja so wenig von der weiblichen Seele – ihr seid immer Poesie, euer Leben skandiert die Natur – wir sind die rauhe Alltäglichkeit! Mein Gott, hätte ich das geahnt – nichts hätte mich zurückhalten können, zu dir zu kommen! Ich Esel, ich Esel!« schloß er drastisch und schlug sich vor die Stirn.

Sie ließ ihn austoben, »Lieber Ernst,« sagte sie, »richte nicht mit mir, daß ich nicht klarer schrieb, wie du dich ausdrückst. Ich wollte es nicht! Es war nicht allein frauenhafte Scham, daß ich das unterließ, ich wünschte von dir verstanden zu werden, auch ohne daß ich Tatsachen berichtete wie in einem Rapport. Aber schon damals verstandest du nichts mehr an mir – ich war dir so fremd gerückt wie hundert andre Frauen, die dir auf deinen Wegen begegneten und an denen du grüßend vorübergingst – du lebtest ein Leben für dich, du hattest kein Sehnen mehr nach mir, und endlich verstummte auch die letzte Rücksicht. Nach Wochen des Schweigens und flüchtiger Eildepeschen kommst du nun selbst – nicht weil die Liebe dich zu mir treibt, sondern weil du gezwungen bist, eine andere Liebe ins Grab zu senken. Das nennst du Befreiung von einer Herzensspannung – es mag sein –, ich aber bin mir zu gut dazu, dir nur als Ersatz zu dienen!«

Eine Verfinsterung ging über Diesbergs Züge. Einen Augenblick schien es, als wolle er heftig werden, seine Zähne zerbissen die Lippen, die Brauen schoben sich zusammen. Dann zuckte er mit den Schultern.

»Sagtest du nicht vorhin, ich mißverstände dich mit Absicht?« erwiderte er. »Jetzt scheint es mir umgekehrt. Als wir uns heirateten, habe ich dir unumwunden von Annelene gesprochen, Und gewiß, daß noch lange ihr Bild ein – abseits gelegenes Herzkämmerchen füllte. Willst du deshalb eine unbarmherzige Richterin sein? Regina, diese Restneigung für das Mädelchen, ein verwehendes Gefühl, ein Abschied von der Jugend, vielleicht nur eine Einbildung, wie sie selbst behauptet, hat dir nie schaden können. Ich wiederhole noch einmal: du hast tausendmal recht, wenn du über meine Rücksichtslosigkeit bitter, bitter klagst – aber du darfst nicht sagen, daß ich dich vergessen hätte, das darfst du nicht! Unbewußt spürte ich dich immer um mich – bei Gott, du warst mir Leitstern und Führerin! Warum wurde ich denn ein so ganz anderer Mensch? Warum stürzte ich mich in die Arbeit und spielte nicht mehr und rührte kein Frauenzimmer an und war ein Einsamer in der Lustigkeit meiner Kameraden? Weil du doch in mir lebtest, Regina – mit der Wirkung eines unbewußten Willens – und mit dem Zauber einer unvergeßlichen Nacht. Verurteile mich – aber laß dein Urteil gerecht sein. Willst du die Scheidung,« – ein schwerer Atemzug kam – »so geh' ich... Regina, du willst sie nicht!« schrie er.

Sie hatte längst ihre stolze Haltung einer Königin aufgegeben. Ihr Körper neigte sich vornüber, ihr Kopf war tief gesenkt, rasch ging ihr Odem, unter fallenden Oberlidern bohrte der Blick sich in die Teppichblumen. Der Schmerz vertiefte die Gedanken. O, sie wußte ganz genau, daß ihre Festigkeit brüchig werden würde bei dem Wiedersehen mit ihm – das hatte ihr gestern auch Doktor Wiesinger gesagt, in seiner ruhigen, geklärten Art, die doch durchblicken ließ, wie innig er um ihr Herz und ihre Seele warb. Und da sie dieses Mannes gedachte, der ihr Retter und ihr bester Freund geworden war, und seiner klug abwägenden, leise warnenden Worte, kehrte ihre Entschlußkraft wie unter elektrischer Einwirkung zurück.

»Ja,« sagte sie und schaute Diesberg mit klaren Augen an, »ich will die Scheidung, weil sie auch ein Unrecht gegen dich gutmachen soll. Ich nahm dir deine Freiheit, ich gebe sie dir zurück. Ernst, wir wollen uns in Frieden und Freundschaft trennen. Ich zürne dir nicht mehr – ich habe einsehen gelernt, daß du nicht für die Ehe geschaffen bist, deren natürliche Fesseln unablässig bei dir zur Empfindung kommen und zu beengendem Druck werden. Das Gute in dir habe ich nie verkannt – aber dein ganzer Lebenstypus basiert auf einer großen Freiheit des Wollens – auch in der Liebe. Ja, auch in der Liebe. Sie ist dir ein subjektives Glück, nicht mehr. Wir wollen verständig sein. Täuschungen, wie wir sie erlebten, bringt das Leben Zehntausenden. Wir werden darüber hinwegkommen. Gib mir die Hand, wir wollen Abschied nehmen. Alle Formalien erledigt Detmold – hast du noch Wünsche, so sprich dich mit ihm aus.«

Sie reichte ihm die Hand. Er küßte sie wieder, es war nur eine flüchtige Berührung seiner Lippen, dann trat er rasch zurück. Bei dieser kühlen Verabschiedung regte sich sein Mannesstolz.

»Ich bettle nicht um Gnade, Regina,« entgegnete er hart, »um so weniger, als ich das Gefühl habe, daß die Trennung, die du forderst, anderen Ursachen entspringt, als du angibst. Aber du hast recht, ein Trauerspiel wie das unsre gehört zu den Alltäglichkeiten. Die Frau empfindet jede Vernachlässigung des Mannes mit dem Herzen, dagegen kommt der Verstand nicht auf. Dann naht ihr der Freund und verschärft den Konflikt.«

In ihre Wangen stieg ein glühendes Rot. »Soll ich mich schämen,« antwortete sie, »daß ich einen Freund gewonnen habe, der mir in schweren, schweren Stunden hilfreich und voller Güte zur Seite stand? Gewiß nicht. Aber in einem irrst du, Ernst. Wer so geliebt hat, wie ich, der liebt nicht ein zweites Mal. Die Nacht von Clarens war für mich ein ganzes Leben. Ein zweites Leben, schrieb ich dir damals. Das dritte verlor ich. Glaubst du, ich hätte die Kraft, ein viertes zu beginnen? Meine einzige Rettung ist die Entsagung.«

Er stand an der Tür. Sein Blick umfaßte sie noch einmal. Noch waren ihre Wangen gerötet, sie bot das alte Bild blühender Gesundheit und Schönheit.

»Du bist zu jung, um zu entsagen,« erwiderte er, »das Verlangen nach Leben und Sein wird wiederkommen und auch ein neuer Kampf um die eigene Seele. Regina, vielleicht denkst du dann ein letztes Mal an mich zurück und an diese Stunde. Ich wollte mich dir zu Füßen werfen, in ehrlicher Reue und in alter Liebe. Es wäre nur eine Komödie für dich gewesen. Ein großes Unglück war über uns: unser Getrenntsein. Wären wir beisammen geblieben, so wäre die Zeit die Dienerin unsrer Liebe geworden und die Frühlingsfäden jener Nacht von Clarens eine Kette, die allen Stürmen getrotzt hätte. Ich hoffte noch, ich hoffte mit Zuversicht. Ich sah keine ungelösten Reste. Aber du bleibst hart. So muß ich denn gehen. Alles Gute für dich.«

Die Stimme versagte ihm. Regina hörte die Tür schließen. Da drang ein röchelnder Laut über ihre Lippen, dann ein kurzer Schrei. Sie stürzte ihm nach und faßte nach der Klinke und brach zusammen. –

*

Diesberg war in sein Zimmer zurückgekehrt. Er dachte an gar nichts, er war wie betäubt. Erst allmählich sammelten sich seine Gedanken. Das Herz schmerzte ihm stark. Er spürte, wie ihm das Wasser in die Augen trat. Er fühlte, wie alle unsichtbaren Ordnungen in ihm zerbrachen. Er hatte mit seiner Liebe gespielt und mit seinem Leben.

Nun war alles vorbei. Reißt die Kränze wieder von den Schloßtüren von Bärwalde und werft die Blumen zu den Fenstern hinaus! Die Herrin kommt nicht.

Auch nicht der Herr. Eine fürchterliche Scham zerrte an ihm. Er wollte fliehen, er wußte nicht wohin. Er dachte auch wieder an Argentinien – und plötzlich fiel ihm der Auftrag nach England ein. Das war eine Ablenkung, das konnte Monate in Anspruch nehmen. Inzwischen mochte Detmold die Scheidungsangelegenheit ordnen.

Wieder kamen die Tränen und der Herzdruck. Es war ihm alles so unfaßlich. Es war nur erklärlich, wenn die Vermutung richtig war, der er andeutenden Ausdruck gegeben hatte. Aber das hatte Regina bestritten – und auch er glaubte es nicht.

So blieb also die unabänderliche Tatsache, daß er sich sein Glück verscherzt hatte – in Verkennung der allertiefsten Wesensform des Weibes und in selbstischer Überhebung. Er hatte nichts Böses gewollt, aber in der ewigen Verkettung von Ursachen und Wirkungen hatte das Böse sich gegen ihn gewandt.

In aufgeregter Hast packte er seinen Koffer zusammen. Er wollte zunächst nach Berlin zurück, dort in einem Hotel absteigen und alle Vorbereitungen für die englische Reise treffen. Er wollte fort – am liebsten wäre er bis an das Ende der Welt geflüchtet. Da fiel ihm ein, daß der Kurierzug längst abgefahren war, er konnte also erst wieder den Zug Genf–Berlin benützen, der gegen elf Uhr abends in Bern eintraf.

Im Hotel wollte er nicht bleiben. Er fürchtete, der Zufall könnte ihn noch einmal mit Regina zusammenführen, und die neue zwecklose Attacke gegen sein Herz wollte er sich ersparen. Er nahm sich einen Wagen und fuhr nach Zimmerwald und stieg von dort aus auf die Bütschelegg, Da hatte er die Alpenwelt im Glanze des Sommertages zu seinen Füßen, aber auch die große Erhabenheit vermochte nicht das Leid zu verdrängen, das auf ihm lastete. Er dachte daran, wie in einem heißstürzenden Augenblick ihn eine wilde Lust gepackt hatte, Regina den Willen seiner Liebe aufzuzwingen und seine Küsse zu Lethefluten werden zu lassen. O, hätte er das nur getan! Es wäre eine Aufrufung des Weibes gewesen und vielleicht ... aber es war zu spät. Es gab keine Lethefluten mehr, aus denen Psyche trinken konnte. Es war alles vorbei...

Er stieg wieder bergab. In den Zerfall seines Seelischen mischten sich bittere Gedanken. Er rief das fiebrige Hirn zu Hilfe. War es nicht auch Wahnsinn von Regina, auf diese alberne Scheidung zu drängen, war es nicht Torheit? – Und das arbeitende Hirn gab ihm verstandesklug die ironische Antwort zurück: Jede Torheit der Frau ist eine Dummheit des Mannes! – Richtig, er war verbrecherisch dumm gewesen.

Am Abend stand er vor dem Kurierzuge. Der Schlafwagen war besetzt, aber er hatte noch ein leeres Coupé erster Klasse gefunden. Als er vor dem Abteil stand, um seine Zigarre zu Ende zu rauchen, fühlte er den Druck einer Hand auf seinem Arm. Er wandte sich um und sah eine verschleierte Dame vor sich. Da weitete sich sein armes Herz und drohte zu springen.

»Mein Gott – Regina«, stammelte er.

»Nimm mich mit«, sagte sie mit leiser, sanfter, bittender Stimme. Ihm war es wie Klang von Osterglocken.

Er hob sie in den Wagen, sprang nach und schloß die Tür. Es war an der Zeit, die Schaffner schrien, die Maschine gellte ihren Alarm in die Nachtluft.

Nun lag er doch noch zu ihren Füßen und bedeckte ihre Hände mit Küssen. »Meine geliebte, geliebte Regina,« schluchzte er, »mein Weib!«

Sie neigte sich über ihn und küßte ihn wieder, auf die Stirn, aus die Wange, auf den Mund.

»Ja, Erni,« flüsterte sie, »ich bin auch nur ein Weib ...«


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