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VI

Es kamen unruhige Tage. Natürlich wußte man schon über den Kreis hinaus bis in alle Winkel des Regierungsbezirks, daß Bärwalde verkauft worden war; auch die kleinen Klatschblätter hatten sich damit beschäftigt, und eine Zeitung hatte sogar eine genealogische Ausgrabung versucht und erzählte ihren Lesern von dem Prinzen Springinsfeld und der schönen Bäckermeisterstochter, den Stammeltern des Freiherrn von Diesberg. Das war Erni nun freilich ziemlich gleichgültig, er machte selbst zuweilen sein Scherzchen über die Ururgroßmutter aus dem Bäckerladen hinter der Nikolaikirche zu Zerbst. Unangenehmer war ihm dagegen die erhöhte Beachtung seiner Gläubiger, die sich plötzlich in ungeahnter Fülle meldeten. Sie trafen zum Teil auch persönlich ein; ein Düngemittelgeschäft und eine Motorenfabrik schickten ihre Vertreter, ein Berliner Schneidermeister erschien höchstselbst, Hirsch Seligmann fuhr in einem eleganten Einspuz vor das Schloß und hatte seine Nichte bei sich, kam aber nur, wie er sagte, um sich einmal nach dem Befinden des Herrn Barons zu erkundigen, und tat auch sonst sehr leutselig. Es ratterte und klapperte jetzt viel auf die Rampe. Irgendwie war verbreitet worden, Diesberg wolle die ganze Schloßeinrichtung verkaufen, Agenten meldeten sich, der dicke Baron Brenkenhoff, eine seiner schwarzen Zigarren im rechten Mundwinkel, wollte zwei Waschtische und ein paar Schränke haben, der Landrat von Gaedechens telephonierte, er reflektiere auf das Mobiliar eines Fremdenzimmers.

Herr von Otten hatte sich inzwischen im Amtshause angesiedelt. Da hatte er vier Zimmer für sich, sie waren mäßig ausgestattet, aber eigene Möbel schon unterwegs. Er ging mit Feuereifer ins Geschirr, er war im Morgendämmer auf, und oft sah man ihn noch vor dem Schlafengehen mit einer Laterne in der Hand durch die Ställe wandern. Geld schien keine Rolle zu spielen. Das eiserne Inventar wurde vervollständigt, der laue Herbst gestattete noch umfangreiche Reparaturen an den Gebäuden, Maurer und Zimmerleute arbeiteten im Hofe, neue Scharwerker wurden eingestellt, das Brillengesicht eines Sekretärs tauchte auf, ein Tippfräulein in roter Bluse erschien und brachte die Maschine mit. Vorläufig speiste Herr von Otten noch im Schlosse, später wollte er sich eine Köchin in das Amtshaus nehmen. An den Abenden saß er gewöhnlich ein Stündchen mit Diesberg zusammen, dem der kluge und tätige Riese von Tag zu Tag besser gefiel. Dieser Otten mit dem harten Stahl in den Augen war guter ostpreußischer Schlag, aber in der Fremde gewitzigt geworden, in Wissen und Können hatte er eine unverlegene Art, in seinem festen Draufgängertum weitsichtige Ziele. »Herr von Diesberg,« sagte er ihm gelegentlich bei einer Flasche Steinberger (denn Diesberg wollte den Weinkeller leeren, ›ehe es zu spät wurde‹), »lassen Sie mich die Sache mit Ihren Gläubigern in die Hand nehmen. Setzen Sie mir eine Liste auf, geben Sie mir Ihre Rechnungen, in vier Wochen sind Sie ein freier Mann und singen.«

Mit Herrn Simmens in Burgersroda wurde zuerst abgerechnet. Herr von Otten fuhr hinüber und kam lachend zurück. »Dieser Master ist aus der Schule von Manchester,« sagte er, »aber ich bin auch kein Greenhorn. Zweitausend Mark in seiner verwickelten Aufstellung habe ich schlankweg gestrichen, der Mann rechnet wie Jules Verne, und sein Pensionspreis für die Gäule ist eine Frechheit. Ich weiß auch nicht, ob er die Prämien für Ihre Gewinnritte immer nach Recht und Pflicht notiert hat – das wollen wir auf sich beruhen lassen. Von Ihren Gäulen nehme ich die beiden Stuten zurück, den Hengst habe ich ihm verkauft, da hat er gehandelt wie ein Mühlendammer, aber blechen mußte er doch, er braucht die Kreatur. Dreißigtausend Mark, Herr von Diesberg – die legen wir für Hirsch Seligmann zurück, der kommt morgen an die Reihe ...«

Auch die Auflassung erfolgte nun, der kranke Lipsius wurde dabei durch Detmold vertreten, der Diesberg den überschüssigen Rest der Kaufsumme in bar auszahlte. Jetzt wollte Erni schleunigst seine Wechsel- und Schuldangelegenheit mit dem Geheimrat geordnet wissen, aber es stellte sich heraus, daß das für den Augenblick unmöglich war, Lipsius mußte das Bett hüten, und Detmold erklärte, für diese Privatsachen nicht zuständig zu sein. Inzwischen durchfegte Herr von Otten weiter die Gläubigerliste Diesbergs. Alle Rechnungen wurden auf Heller und Pfennig bezahlt, doch es wuchsen in der Umgegend auch noch einige Wucherpflanzen, die einer Sonderbehandlung bedurften. Es waren dies kleine Agenten, Holz-, Getreide- und Pferdehändler, die sich nebenbei mit Geldgeschäften befaßten und unverschämte Prozente verlangten. Die gedachte Herr von Otten auf seine Art zu kurieren. Er lud sie zu einem bestimmten Abend in sein Amtszimmer, es waren ihrer sechs Kerle mit schlauen Gaunergesichtern und unterwürfigen Mienen, mit vorgeschobenen Schultern geduckt schreitend, ein galizischer Handelsmann darunter mit tatarischen Zügen und gefettetem Haar und ein aus Rasse und Art gefallener reicher Bauer, der jeden Satz mit seinem Ehrenwort bekräftigte. Sie schurrten vor der Stube lange mit ihren Stiefeln auf dem eisernen Schmutzbrett, traten dann ein, wünschten gesegneten guten Abend und drängten sich an der Wand. Nun las ihnen Otten erst den Wucherparagraphen aus dem Strafgesetzbuch vor und eröffnete ihnen sodann, daß er von dem Herrn Baron von Diesberg beauftragt worden sei, gegen die geehrten Anwesenden Klage wegen Bewucherung zu erheben. Einen Augenblick herrschte dräuende Stille, eine halbe Minute lang lebte alles im Bann der Furcht, hierauf hub ein zeterndes Durcheinander an, jeder beschwor die getroffene Abmachung, der Galizier beim Gott seiner Väter, der brave Bauersmann mit seinem Ehrenwort. Es war ein wildes Geschrei, doch Otten blieb zähe, sechs Prozent Verzugszinsen bewilligte er und als Zugabe noch eine feine Zigarre, direkt aus der Havanna bezogen, und ein Glas Punsch. Dabei rief er mit einer Stimmgewalt, als gelte es Sturm: »Fräulein Schauroth!« – und nun öffnete sich die Tür zum Nebenzimmer, und das Tippfräulein mit der roten Bluse trat ein, lieblich lächelnd, unter dem Arm eine Zigarrenkiste und in den Händen eine mächtige Terrine, der Dampf und Duft entquollen. Allmählich legte sich das Getöse, man lenkte ein, man wollte verhandeln, man machte Vorschläge, doch Otten hatte bereits das Geld für jeden einzelnen abgezählt und die Quittungen ausgeschrieben und donnerte jetzt wieder los: »Also, meine Herren, entweder – oder! Hier liegt meine Uhr, fünf Minuten warte ich noch. Wer nicht will, mache die Tür von außen zu ...« Wispern und Flüstern, erregte Mienen, heftige Gesten, zugleich rasches Erfassen der Lage – die fünf Minuten waren noch nicht verflossen, da hatte männiglich unterzeichnet und sein Geld eingestrichen. Nun waren alle sehr freundlich und griffen fußkratzend in die Zigarren und ließen sich Punsch einschenken. »Auf das Wohlgedeihen des Herrn Barons«, rief Otten. Da nahm der ehrliche Bauer das Wort, das hielt er für schicklich. »Auf Ehrenwort,« sagte er mit starker Betonung, »das ist ein Edelmann. Wir trinken zu seinem Wohle!« – Es gab auch noch ein zweites Glas, und eine zweite Zigarre, eine Havanna von der tiefbraunen Sorte mit gelben Flecken, bekam jeder in die Hand. Hierauf empfahl man sich. Manche gelangten erst nach Überwindung von Widerständen und Hemmnissen an den heimischen Herd, andere legten sich zu Hause gleich in die Betten und klagten, ihnen sei schlecht. Otten hatte dem Punsch nämlich einen Zusatz gegeben, bestehend aus einer Flasche Rhabarberwein, und was diese Tinktur nicht zuwege brachte, vollendete der prima Tabak aus der pfälzischen Havanna. »Es ist die lindeste Strafe und zugleich eine gesunde,« sagte er, als er in das Schloß kam, »hier sind die Quittungen, Herr von Diesberg, nun sind Sie ein schuldenfreier Mann.«

Diesberg bedankte sich herzlich und lachte über den Rhabarberpunsch. »Sie sind ein erfindungsreicher Kopf, Herr von Otten,« antwortete er, »das gehört mit zu Ihrem Wesen, es ist verwirklichte Phantasie und Sinn für lustige Abenteuer. Also jetzt bin ich wirklich sozusagen ein freier Mann, das kommt mir ganz komisch vor, und fast ist mir, als fehle mir etwas. Aber ich glaube, man gewöhnt sich auch daran, nicht jeden Morgen auf dem Frühstückstische ein paar Rechnungen zu finden und seinen Gläubigern in lieber Erinnerung zu sein. Ganz zu Ende gekommen bin ich übrigens immer noch nicht, ein Gläubiger ist mir geblieben. Mit Lipsius käme ich gern ins Reine – hoffentlich ist er bald wieder gesund.«

Aber er gesundete überhaupt nicht mehr. Als der erste Schnee fiel, erhielten Diesberg wie Otten die von Regina unterzeichnete Anzeige, daß ihr Vater nach längerem Leiden sanft an einem Herzschlage verschieden sei. Otten wollte der Einäscherung beiwohnen, auch Erni entschloß sich dazu, er hatte im Hause des Verstorbenen verkehrt und wünschte Regina seine versöhnliche Stimmung zu zeigen.

In der Kuppelhalle des Krematoriums lag die Stille der Feier über einer großen Trauerversammlung. Zahlreiche Berufsgenossen des Geheimrats hatten sich eingefunden, auch Herren der Regierung und die Vertreter gemeinnütziger Vereine, des Gerichts, des Magistrats, der Parlamente – sie standen stumm vor ihren Plätzen, die Zylinderhüte in den Händen, und zwischen sie schoben sich die dunkel verschleierten Gesichter der Damen, meist Freundinnen Reginas, die ganz allein auf einem Sessel, von Zwergpalmen und Rhododendren umgeben, vor dem Sarge saß. Rechtsanwalt Detmold hatte sie in die Halle geführt, Verwandte besaß sie nicht, außer einem Bruder ihres Vaters, der Professor in Bonn war, derzeit aber in Florenz weilte und sich mit einer Beileidsdepesche begnügt hatte.

Diesberg hatte noch einen freien Stuhl in der zweiten Sitzreihe gefunden, von der aus er zwischen den Schultern eines behäbigen Börsianers und einer kleinen hüstelnden Frau Regina deutlich sehen konnte. Sie hatte, als der Chorgesang begann, den langen Schleier über die rechte Schulter gelegt und zeigte das blasse Gesicht, das Diesberg heute zum ersten Male ungewöhnlich schön fand. Es lag doch ein großer ästhetischer Reiz in der stolzen Regelmäßigkeit ihrer Züge, der harmonischen Gliederung des Profils, das etwas kühl und herbe erscheinen konnte, aber durch das Auge belebt wurde. Das Auge, von langen dunkeln Wimpern umkränzt, war seegrün, doch vielleicht infolge eines Lichtreflexes hatte Diesberg den Eindruck, als sei diese Grundfarbe goldig überpudert. Regina weinte nicht. Sie saß fast regungslos in ihrem Sessel und schaute mit leicht gesenktem Blick in das Grün der Pflanzen und in die ungeheure Blumenfülle, die einen Bogen über den Sarg spannte.

Die Feier währte endlos. Ein halbes Dutzend Redner pries den Verstorbenen als Menschen, als Juristen, als Politiker, als Mitglied der Kinderhilfe, als Ehrenvorsitzenden des Vereins für graphische Künste, als Begründer des Lipsiusschen Waisenhauses – es war eine zähe Ruhmredigkeit, die endlich der Geistliche mit dem Segen abschloß. Dann hub wieder Orgelspiel und Gesang an, und langsam versank der Sarg in die Tiefe, und jetzt ging über die Züge Reginas ein Ausdruck lösender Weichheit – sie schloß die Augen und drückte ihr Taschentuch gegen das Gesicht.

Ein Schwarm von Menschen umdrängte sie, um ihr ein paar gleichgültige Beileidsworte zu sagen. Diesberg fand diese übliche Kondolationskur herzlos und grausam und hielt sich zurück. Aber als der Rechtsanwalt Detmold Regina aus der Halle führte, traf ihn ihr Blick. Sie blieb einen Augenblick stehen, ihr Gesicht hellte sich auf, sie gab ihm die Hand und sagte: »Es ist sehr lieb von Ihnen, daß Sie gekommen sind, Herr von Diesberg ...« Er verneigte sich tief, und sie schritt weiter.

Draußen hielt ihr Auto, der Diener stand am Schlage, Detmold, immer den Hut in der Hand, half ihr beim Einsteigen und setzte sich dann ihr gegenüber auf den Rücksitz. Sie blieb stumm und hatte wieder den verdüsternden Schleier vor dem Gesicht, auch Detmold sprach nicht, er dachte an einen Prozeß, der ihn in Anspruch nahm, und nebenbei auch an eine neue Novelle, die seiner Abendstunden Muße füllte. Aber da sah er, daß Regina sich bewegte und den Schleier ein wenig über dem Munde lüftete. »Lieber Freund Detmold,« sagte sie, »bei Herrn von Diesberg ist mir eingefallen – es müssen im Geheimschrank Papas noch irgendwelche Papiere von ihm liegen, die bitte ich mir zu übergeben.«

Der Rechtsanwalt neigte den Kopf. »Sehr wohl, gnädiges Fräulein«, erwiderte er. –

*

Am Nachmittag ließ sich die Gräfin Düren bei Regina melden und wurde angenommen. Die rundliche kleine Frau stürzte ihr in der ewigen Hast ihres Temperaments mit ausgebreiteten Armen entgegen und schloß sie an sich. »Meine liebe, liebe Regina,« rief sie, »seien Sie mir nicht böse, daß ich der Trauerfeier nicht beiwohnen konnte. Es ging beim besten Willen nicht, ich hatte nämlich – erschrecken Sie nicht – wieder einmal eine Vernehmung beim Staatsanwalt.«

Regina führte sie zu einem Sessel. »Ich würde auch nicht böse gewesen sein, wenn ein anderer Grund Sie verhindert hätte«, erwiderte sie. »Ich hatte auf Schlichtheit und warme Herzen gehofft, aber es war eine frostige Feier voll akademischer Steifheit. Sechs Leute sprachen in Leitartikeln ... Was hatten Sie mit dem Staatsanwalt zu tun, Pauline?«

Sie saßen sich gegenüber, die kleine Gräfin in einer dunklen Pelzjacke, mit einem etwas auffallenden Riesenhut, der sich über einem hübschen brünetten, sehr regsamen Gesicht türmte.

»Ach – die alte Geschichte«, sagte sie, »wegen meines letzten Vortrags im Neuen Frauenverein – Sie waren nicht da.«

»Thema: die freie Liebe«, schaltete Regina ein. Sie vermied dabei ein Lächeln.

»Nein – die Hörigkeit des Weibes hieß das Thema. Aber allerdings, die Freiheit in der Liebesfrage spielte mit hinein, und da ich, wie immer, kein Blatt vor den Mund nahm, hat sich der Staatsanwalt entrüstet.«

Regina lächelte nun doch. Sie hatte viel für die lebhafte Frau übrig und lag dabei häufig in Streit mit ihr. Die Gräfin Düren spielte eine große Rolle in der Frauenbewegung und war infolge ihrer radikalen Ansichten mit ihrer ganzen Familie zerfallen. Sie lebte getrennt von ihrem im Rheinischen ansässigen Gatten, verbarg aber nicht ihr Freundschaftsverhältnis zu einem jungen Komponisten, den sie aus dem Elend gezogen hatte.

»Sie kennen meinen Widerstand gegen eine ungeregelte Form der Ehe,« sagte Regina, »wir haben öfters darüber gesprochen. Sie stößt jede Gesetzmäßigkeit des Eherechts über den Haufen.«

»Es gibt Ausnahmefälle. Sehen Sie mich an. Seit vier Jahren dränge ich auf Scheidung meiner Ehe und kann sie nicht durchsetzen, weil die Gegenseite immer wieder neue Ausflüchte findet. Nach dem Gesetz bin ich also eine Ehebrecherin, wenn ich inzwischen ein Liebesverhältnis mit einem andern Mann eingehe. Da ich nun aber nicht geneigt bin, mich selbst auf Eis zu legen, so pfeife ich auf das Gesetz. Übrigens war das nur ein vereinzelter Punkt in meinem Vortrage, die Frage der Scheidungserschwerung. Ich habe das ganze Gebiet des Geschlechtsverkehrs behandelt und mich vor allem für die freie Liebeswahl des Weibes eingesetzt.«

»Was verstehen Sie darunter?«

»Das Allernatürlichste: daß auch ein Mädchen das Recht hat, dem Manne ihrer Neigung ihre Liebe zu gestehen. Das wird man heute noch unweiblich finden. Unweiblich ist ja unser ganzer Kampf um die Gleichberechtigung.«

»Sie wissen, daß ich mich in diesem Kampfe auf Ihre Seite gestellt habe. Nur gegen Übertreibungen wehrte ich mich. Die Geschlechtsverschiedenheit macht auf manchem Gebiete Abweichungen unumgänglich. Das erkannte auch Bebel. Aber darin haben Sie zweifellos recht, daß an der Gleichberechtigung nicht nur der Kopf, sondern ebenso das Herz der Frau teilnehmen soll.«

»Da wären Sie also nur theoretisch gegen das Recht der freien Liebe, Reginchen?« fragte die Gräfin, und Spottgekräusel überwölbte ihre Lippen.

Regina wurde wärmer bei der raschen Wendung im flüchtigen Hin und Her der Unterhaltung. »Ich möchte nicht mißverstanden werden«, sagte sie. »Es gibt ganz gewiß unsichtbare Ordnungen im Leben der Gesellschaft, die den Menschen als geistiges und sittliches Wesen über das Animalische stellen. Zerstört man sie, so vernichtet man die Gesellschaft selbst.«

»Das wäre an sich kein Unglück.«

»Lassen Sie mich bei dem bleiben, was Sie vorhin berührten. Es zerbricht noch nicht die Fundamente der Gesellschaft, wenn die Frau in ihrer Liebeswahl für die Ehe so frei und ungehindert ist wie der Mann. Es wäre nicht einmal eine Erweiterung unserer Moralbegriffe, sondern nur eine Änderung in der gesellschaftlichen Gepflogenheit. Das, was wir heute Takt nennen, wurde zu anderen Zeiten belächelt. Es gilt nicht als taktlos, einen Mann durch die Miene und die Sprache der Augen fühlen zu lassen, was man für ihn empfindet, aber ihm zu sagen, daß man ihn lieb hat, ehe er selbst gesprochen, das würde unerhört sein.«

»Ja, natürlich,« rief die Gräfin lebhaft, »unerhört, unweiblich, unschicklich, wahrscheinlich auch unsittlich! Es widerspricht ja der sogenannten guten Sitte. Und in diesem Falle noch mehr, weil bei der Liebe doch immer der eigensinnige geschlechtliche Instinkt der treibende Faktor ist, und den darf wohl der Mann ahnen lassen, doch nie das Weib. Und sehen Sie, Regina, das ist's, was ich so abscheulich finde, daß wir verbergen sollen, was die Natur uns schenkte, daß uns die Sitte quält, den Blutumlauf unsres Herzens zu hemmen statt ihn zu beschleunigen. In hundert-, hunderttausend Fällen ist die Ehe noch immer eine Zwangsinstitution. Äußere Gründe sprechen mit, Geld- und Sippenfragen, und gewöhnlich ist ein dritter der leitende Teil, sei's Vater oder Onkel, der Agent oder ein guter Freund. Der Mann wird dem Mädchen zugeführt, und immer ist nur er der werbende Teil, der Pfau, der das Rad schlägt und sein schönes Gefieder brüstet – der das Weib sich erobert. Versuchen Sie es einmal umgekehrt, Regina, zeigen Sie einem Mann Ihr offenes Herz und mühen Sie sich, ihn zu gewinnen, dann sind Sie sicherlich eine schlaue Kokette – und erzählen Sie ihm, wie lieb Sie ihn haben, dann steht die Gesellschaft Kopf!«

»Es würde mich nicht anfechten«, erwiderte Regina, und ein Schatten des Sinnens strich durch ihr Auge. »Alles ist möglich – ich fand noch keinen, aber alles ist möglich. Möglich ist, daß ich einmal einem Mann begegne, der gleichgültig an mir vorüberschreitet, und der doch den Wunsch in mir weckt, ihn wiederzusehen – und ich lerne ihn kennen, und er verstrickt mich in einen unzerreißbaren Zauber –«

»Alles ist möglich«, warf die Gräfin ein.

»Und ich fühle, daß er nicht hellsichtig genug ist, mich zu begreifen, denn das Netzauswerfen verstehe ich nicht – glauben Sie, es würde mir an Mut gebrechen, ihm zu sagen, daß ich ihn liebe?«

Nun lachte die kleine Gräfin hell und lustig, erhob sich und gab Regina einen hörbaren Kuß. »Ja, das glaube ich, mein Schatz,« rief sie, »denn dazu würde eine nicht gewöhnliche Courage gehören, und die Gesellschaft hat uns zur Feigheit erzogen...« Sie schloß die Riegel an ihrer Pelzjacke und warf einen Blick in den Spiegel auf ihren Hut ... »Die Gesellschaft ist schuld an der Verkehrung aller Begriffe,« fuhr sie fort und schlug mit der flachen Hand wie in straffer Züchtigung auf das goldbraune Fell ihrer Muffe, »sie war immer die Erzieherin zur Falschheit und zur Komödie! Ist es nicht Blödsinn, daß das weibliche Geschlecht nicht wählen darf, sondern einfach gewählt wird? Damit legt man den Weg frei zu einem psychologischen Betruge – jawohl! Wie es mir ergangen ist, so ergeht es unzähligen. Als man mir den Mann zuführte, den man mir zu geben wünschte, sah ich, er war hübsch und stattlich, und merkte auch, er war von leicht spielendem Geiste. Er gefiel mir, es war zweifellos eine gegenseitige Anziehung da, er belebte meine Phantasie, mit allem, was ich dachte, verknüpfte sich sein Bild. War es eine den Himmel zur Erde ziehende Liebe? Nein, es war Selbsttäuschung, Regina, er war der mir vorbestimmte Bräutigam, und da vollzog sich nun der übliche Prozeß, daß zu dem äußeren Gefallen an dem Mann ein gewisses Seelenverhältnis trat, daß man sich im übrigen bei den bräutlichen Schäkerstunden ganz gut amüsierte – und daß ich schließlich zu dem Glauben kam, ihm nun auch ein Herz voll Liebe schenken zu müssen. Aber das Herz ließ sich nicht belügen, das merkte ich nach der Hochzeit. Es war ein gegenseitiger Betrug, von meiner Seite aus ganz gewiß kein gewollter, es war mehr eine Nutzanwendung, wie der gesellschaftliche Schliff und sein ewiges Theaterspiel sie uns lehrt. Es war kein Funke dabei von dem, was Liebe heißt.«

Auch Regina hatte sich erhoben, die Gräfin stand vor ihr, kleiner als sie, den Kopf gereckt, ein Leuchten in den dunklen Augen und ein hübsches Lächeln um den Mund.

»Heut' weiß ich, was Liebe ist,« sprach sie hastig weiter und griff nach den Händen Reginas, »keine Anpassung geistiger Werte, nicht Achtung und Freundschaft und Pflichtgefühl, das alles ist Unsinn. Liebe ist eine seligmachende und auch verfluchte Realität, ist der höchste Instinkt und der vollkommenste Egoismus. Über Täuschungen und Verhüllungen bin ich hinweggeglitten. Illusion ist mir Wahrheit geworden. Ich ließ mich nicht mehr wählen, ich wählte selbst. Das konnte ich, die ich abseits der Gesellschaft stehe, wenigstens der meiner Kreise. Aber ob Sie das können, Regina? Nein, Regina, und ich rate auch nicht dazu. Man muß der Welt gegenüber sehr rücksichtslos sein, wenn man der eigenen Stärke nachgeben will ...« Sie schaute wieder in den Spiegel, rückte an ihrem Hut und zupfte an ihrer Jacke ... »So, nun bin ich fertig«, sagte sie. »Ich kam her, um Ihnen einen Kondolenzbesuch zu machen, und habe Ihnen eine Vorlesung gehalten. Streichen Sie aus in Ihrem Köpfchen, was ich geschwatzt habe, es braucht nicht haften zu bleiben. Addio, Liebchen ...«

Wieder küßte sie Regina rechts und links auf die Wangen und huschte hinaus. Es war bei ihr immer ein Huschen und Fliegen, etwas eigentümlich Schwerloses, ein Temperament, das nur durch den Vorzug guter Nerven einigermaßen Bändigung fand.

Regina streckte sich auf ihren Liegestuhl und zog ein Fell über die Beine. Sie fröstelte ein wenig, obwohl die Luft warm durch das Zimmer strich. Sie fühlte sich auch ermüdet durch die herzglanzlose Feier des Vormittags und hätte gern ein halbes Stündchen geschlafen. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Das Geplauder der Gräfin läutete noch durch ihr Hirn, ein Läuten wie von Osterglocken mit schrill aufschreienden Tönen dazwischen.

Lebte diese frische, kleine Frau wirklich in restlosem Glück mit dem von ihr Erwählten, oder war auch das nur Einbildung und Selbstüberredung, ein phantastisches Schwärmen, das die Wirklichkeit betrog? Sie wirbelte durch eine Jagd von Eindrücken, sie ging immer mit dem Modernsten und liebte heftigen Widerspruch gegen das von gestern, sie griff auf, was der Allgemeinsinn verketzerte, und war lustig in der Opposition gegen Alteingeführtes. Sie war gut zu leiden, auch in ihren Übertreibungen, und Regina stritt gern mit ihr, weil sie lockeren Geistes war und eine behende Zunge hatte in der Verteidigung ihrer Ansichten. Freilich, ihren Herzauserwählten, den Pol ihrer Sehnsucht, hätte Regina nicht lieben können, dagegen wehrte sich ihr Geschmack. In einer musikalischen Soiree bei der Gräfin war ihr der junge Künstler einmal vorgestellt worden, ein bleicher Gesell von haarbuschigem Typus, mit Gluderaugen und der Gebärde der Genialität, ein Geigenspieler aus einer verschobenen Ahnenkette Paganinis. Aber darauf kam es nicht an. Für sie war er der Begehrte, aus metaphysischen und physischen Gründen, ganz gleich, und da hatte sie ihn sich erwählt, zum Spott und Lachen einer kleinen Welt, die in anderen Anschauungen lebte.

Regina bohrte den Kopf tief in das weiche Seidenkissen. Das war die »freie Liebe«, für die schon die George Sand in ihren Emanzipationsbestrebungen mit theoretischem Feuer eingetreten war, dem auch das Feuer der Praxis nichts nachgab. Regina fühlte, wie der Blutzulauf in ihre Wangen das Kissen hitzte, wie in Gedankenübertragung und gestaltender Phantasie ererbte Scham ihr Gesicht rötete – o nein, sie war nicht wie Gräfin Düren, sie war keine Revolutionärin gegen die bürgerliche Moral! Sie war nur ein verliebtes Mädchen, das im heißen Drange seiner Natur nach Mitteln und Wegen suchte, den zu gewinnen, der ihr Herz in allen Höhen und Tiefen füllte. Und da sie noch so dachte, in unbewußt grübelnder Selbstentschuldigung, fühlte sie etwas, das sie in schauerndes Empfinden tauchte: das sichere Bewußtsein, daß zwischen der freien Liebe der kleinen Gräfin und der Freiheit der Liebeswahl, wie sie sich sie auslegte, nur ein winziges Schrittmaß lag. Und in diesem Augenblick verlor sie das Begreifen von etwas Natürlichem, von dem Ewigkeitsfrühling junger Herzen und der Widerspruchslosigkeit ihres Sehnens, sie hörte wieder das Wort der Gräfin von der »verfluchten Realität« – und da kamen die Tränen ...

*

– – Diesberg hatte vor einigen Tagen einen Brief seines alten Freundes und Regimentskameraden aus Argentinien erhalten, der ihm alle halbe Jahre einmal schrieb und dem er auch regelmäßig antwortete. Diesmal zeigte Herr von der Gloehn ihm an, daß er sich mit einer reizenden (übrigens in Deutschland erzogenen) Argentinierin verheiratet und nun die Absicht habe, seine Estanzia zu vergrößern. Dazu suche er einen Kompagnon mit etwa zwei- bis dreimalhunderttausend Mark Einlage und frage an, ob Diesberg ihm in dieser Angelegenheit nicht behilflich sein könnte, falls er nicht selbst Lust hätte, den Sprung über das Wasser zu machen. Davon war schon früher die Rede gewesen, als Erni ihm in seinen Briefen mit Galgenhumor seine Nöte geklagt hatte, aber Gloehn ließ durchblicken, daß ihm in diesem Falle außer an fröhlicher Kameradschaft doch auch an einem beträchtlichen Kapitalseinschuß liege. Er begründete dies damit, daß alles in Argentinien der Natur des Landes gemäß auf den Großbetrieb zugeschnitten sei, zumal die Viehzucht, und daß die Preise für Zuchtstiere zur Veredlung der Herden ungeheuer hoch seien. Der Brief interessierte Diesberg lebhaft, vor allem das, was Gloehn über die gleichfalls beabsichtigte Vermehrung seines Pferdebestandes schrieb, den er durch die beliebt gewordenen Hackneys auffrischen wollte.

Erni sprach mit Herrn von Otten über den Brief; der abermalige argentinische Lockruf erregte ihn, er suchte nach Neuland und fühlte sich hier nur als fünftes Rad am Wagen. Allerdings ging er Otten tatkräftig zur Hand, die ganze Art des Eingreifens dieses Mannes machte ihm Freude, und seine eigentümlich rhythmische Energie teilte gewissermaßen ihm selbst sich mit. Aber er empfand stark, daß er auf früherem Eigentum immer nur für Fremde tätig war, daß er auf seltsame Weise »in der Luft schwebte«. Er gab den Auswanderungsplan noch nicht auf, und um einmal klar zu übersehen, was ihm der Verkauf des Schloßmobiliars bringen könne, schrieb er einem Berliner Antiquitätenhändler, er möge eine Taxierung vornehmen. Es war ein alter Herr namens Fröbel, der sich schon einmal gemeldet hatte, als die Nachricht von der Versteigerung durch die Zeitungen gegangen war, und der eilends eintraf, um gleich acht Tage zu bleiben, denn die Aufnahme des Inventars und die Abschätzung ging natürlich nicht so rasch. Otten beobachtete diesen Hergang mit ironischem Lächeln. »Wollen Sie denn alles verkümmeln?« fragte er Diesberg, »wollen Sie nicht wenigstens Ihren Stiefelknecht behalten?«

»Den fabriziere ich mir drüben selbst«, erwiderte Diesberg. »Natürlich alles – wenn ich schon auswandere, will ich auch die letzte Erinnerung an die alte Heimat löschen.«

Dabei blieb er, er war jetzt hartnäckig geworden. Eines Nachmittags erklärte Herr Fröbel, nun sei er fertig, und legte Erni die seitenlange Aufstellung vor. Dazu gab er kurze Erklärungen. Ölbilder, Waffenschmuck, Teppiche, wertvolle alte Möbel, kostbare Nippes und derlei mehr hatte er mit festen Preisen versehen, den gewöhnlicheren Hausrat nur so ungefähr taxiert, es war möglich, daß der noch einen höheren Ertrag bringen konnte, darüber wollte er erst mit einigen kleineren Kollegen vom Fach verhandeln. Immerhin schloß die Aufstellung mit dreihundertzwanzigtausend Mark ab.

»Lieber Otten,« sagte Diesberg am Abend, nachdem man Herrn Fröbel glücklich losgeworden war, »es liegt noch eine vereinsamte Magnumflasche Ayala im Keller, die müssen wir heute leeren. Mir ist unheimlich zumute. Ich bin plötzlich ein ungeahnt wohlhabender Mann geworden. Wenn der Antiquitätengreis mich auszahlt, besitze ich alles in allem ein rundes halbes Milliönchen. Das ist ein förmlich erschreckender Zustand, wenn ich mir daneben noch klarmache, daß kein Schuster und kein Schneider mir mahnend entgegentreten kann, und daß kein Wechselchen von mir mehr im Umlauf ist – mit Ausnahme ...« Er machte eine kleine Pause und schaute Herrn von Otten fragend an ... »Hatten Sie die Güte,« fuhr er fort, »noch einmal an Rechtsanwalt Detmold in meiner Angelegenheit zu schreiben? Ist er überhaupt der Nachlaßordner des Geheimrats?«

»Jawohl, er ist es«, erwiderte Otten, »und hat mir auch heute geantwortet. Er stellt fest, daß sich im Lipsiusschen Nachlaß weder ein Wechsel noch irgendeine anders geartete Schuldverschreibung von Ihrer Hand vorgefunden hat.«

Diesberg starrte in das kühlgewölbte Gesicht des Verwalters. »Bin ich denn verrückt geworden?« rief er. »Ich kann doch unmöglich ein halbes Jahr lang in Trance gelegen haben! Lipsius selbst hat mir gesagt, daß er die beiden Akzepte von den Kerlen, dem Schiemann und Reinecke, gekauft hat, und hat mir vorgerechnet, daß ich ihm insgesamt noch fünfunddreißigtausend Mark schuldig bin – ohne Zinsen oder mit Zinsen, das weiß ich nicht, aber der Summe erinnere ich mich genau! Die Papiere müssen doch da sein! Er hat sie vor meinen Augen in seinen beneidenswert geräumigen Geldschrank gelegt.«

Herr von Otten zog die Schultern sehr hoch und zeigte ein völlig gepanzertes Gesicht. »Bedaure – ich kann nur wiedergeben, was mir der gute Detmold auf einem Briefbogen mit seiner Firma hat zutippen lassen. Und danach sind Sie ein völlig schuldenloses Menschenkind.«

Diesberg schlug mit der Hand auf den Tisch. »Das will ich aber nicht sein«, rief er heftig. »Jetzt habe ich Ehrgeiz bekommen, jetzt will ich tabula rasa machen. Ich will mir auch nichts schenken lassen, fällt mir ja gar nicht ein! Hören Sie, lieber Otten, es läge ja immerhin die Möglichkeit vor – die Möglichkeit, sage ich, daß Fräulein Regina, als Detmold ihr von meiner Schuld gesprochen, so von oben herab geäußert haben kann: Ach Gott, dem armen Plöter wollen wir die paar Kröten schenken! Sie kann sie natürlich entbehren, das macht ihr nichts. Aber mir ist es unangenehm, mich in eine Abhängigkeit der Dankbarkeit zu bringen, wo ich es nicht nötig habe. Otten, Sie haben ja nun doch einmal in Ihrer Allbarmherzigkeit für mich nutzloses Subjekt das Arrangement meines Debets übernommen, ich werde Ihnen einen Scheck über die fünfunddreißigtausend Mark geben – tun Sie mir den Gefallen und senden Sie ihn an Detmold mit der Bitte um Quittung. Ja?«

»Natürlich – gern«, erwiderte Otten. »Den Erfolg müssen wir abwarten. Im übrigen habe ich nichts gegen die flüchtig erwähnte Magnumflasche. Bei ihrer Bergung können wir uns darüber unterhalten, ob wir den Hengst von dem Grafen Pakisch kaufen wollen oder nicht. Ein tüchtiger Kerl ist es, und gekört ist er auch schon. Freilich, wenn Sie nach Argentinien wollen – –, aber Ihr Stiefelknecht steht ja noch im Schlosse ...«

Nach einigen Tagen traf die zweite Antwort des Rechtsanwalts Detmold ein. Er sandte den Scheck zurück und ließ dazu kurzerhand bemerken, es müsse ein Irrtum vorliegen, der Herr Baron von Diesberg schulde der Erbmasse des verstorbenen Geheimrats Lipsius keinen Pfennig.

»Lieber Freund Otten,« sagte Erni, »das geht nicht mit rechten Dingen zu. Wenn Sie gelegentlich nach Berlin kommen, müssen Sie Detmold persönlich Aufklärung geben – oder besser vielleicht noch Fräulein Regina, denn sie ist die Erbin.«

»Lieber Freund Diesberg,« entgegnete Otten, »tun Sie das bitte selbst. Ich halte eine Rücksprache mit Fräulein Lipsius in Ihrem Interesse sowieso für gut und verständig. Über den toten Mann können wir nun zur Tagesordnung übergehen. Jetzt ist seine Tochter die Besitzerin von Bärwalde, und mit ihr haben wir zu verhandeln. Stellen Sie den Campo von Argentinien einstweilen in den Hintergrund Ihres Denkkreises und schlagen Sie Fräulein Regina statt dessen vor, daß Sie sich mit Kapital und Hand an unserm kleinen Gestüt beteiligen wollen. Ich bin überzeugt, sie wird darauf eingehen, und dann finden Sie hier eine ebenso interessante und fruchtbringende Arbeit wie da unten auf der Estanzia Ihres Freundes – und brauchen nicht das Gesamtmobiliar des Schlosses zu verkaufen. Denn der Stiefelknecht macht es ja nicht allein – es steht, steckt und hängt hier doch mancherlei, das schon der Erinnerung halber des Aufhebens wert ist ...«

Es lag etwas überzeugendes in den Worten Ottens, das Diesberg unwillkürlich zu neuem Nachdenken stimmte. Die Idee mit Argentinien irrlichterte zwar noch immer durch seinen Kopf, es war im entscheidenden Grunde aber doch mehr die Lust am Abenteuer, mehr ein phantastisches Gedankenspiel als der feste Entschluß, sich von allem loszureißen, was ihm die Heimat bot. Es war so, daß er den alten Fröbel bei seiner ameisenhaften Tätigkeit unter dem Hausinventar am liebsten an die Luft gesetzt hätte – er hatte den Mann herbeigerufen, und als er da war, wurde er den Eindruck nicht los, daß ihm nun seine ganze Habe gestohlen werden sollte. Er hatte auch keine Freude an dem bevorstehenden Reichtum, es war ein bitteres Gefühl dabei, es war eine Umsetzung von Werten, bei der es zweifelhaft blieb, ob er damit günstig abschnitt. Der Geheimrat Lipsius konnte nicht mehr seine Wege kreuzen. Regina aber war sichtlich anders geartet als der Vater. Möglich, daß sie von der Steilhöhe ihres Hochmuts und ihrem goldenen Thron aus in ihm nur den »armen Plöter« sah, dem man sich mitfühlend geben konnte – was kam es darauf an, es machte sich gut und war ein billiges Vergnügen! Zweifellos aber ließ sich mit ihr besser verhandeln als mit dem bissigen alten Herrn, und es war in der Tat gar nicht so unwahrscheinlich, daß sie ihre Einwilligung zu seiner Beteiligung an dem Gestüt geben würde. Und damit änderte sich die ganze Sachlage, dann schwebte er hier nicht mehr »in der Luft«, und er arbeitete für die eigene Tasche. Das Wohnrecht im Schlosse war ihm ja zugesagt worden, er wollte dafür auch gern einen Mietspreis zahlen, das war ihm lieber als ein Geschenk der Gnade. Vom Personal hatte er nur den alten Gerrlich behalten (der nicht gehen wollte), die Mamsell und ein Küchenmädchen. Das genügte für ihn. Der Gärtner gehörte schon zu der neuen Herrschaft, und das Gesinde für den Hofdienst ging ihn gar nichts mehr an. Für das Gestüt brauchte man allerdings ein paar geschulte Leute – das mußte mit Otten besprochen werden, wenn erst alles so weit eingerenkt war, daß man mit frischen Kräften an die neue Arbeit gehen konnte.

Arbeiten, arbeiten, arbeiten – das hatte man ihm von allen Seiten zugerufen! Also schön, nun wollte er zeigen, daß es ihm Ernst damit war. Jetzt hieß es Geld verdienen und zusammenhalten an Stelle des raschen Geldverstreuens, es hieß sparsam wirtschaften. Der Begriff der Sparsamkeit lebte freilich vorerst noch auf schwankendem Untergrunde in ihm, kleine häusliche Einschränkungen genügten da nicht, die Hauptsache war, das »Nebenbei« des Rennplatzes geschickt zu umsteuern. Denn an sich sollte der Rennplatz natürlich das Feld der klingenden Erfolge bleiben, und zwar künftighin in Verbindung mit der eigenen Aufzucht an vierbeinigem Material. Nun hatte er einen Mann wie Otten als Mitarbeiter am Werke, einen Menschen voll zäher Willenskraft, Fachkenntnis und Beharrlichkeit, und in Gemeinsamkeit mit ihm ließ sich schon ein festeres Gerüst für die Zukunft aufschlagen als mit dem einseitig berechnenden Egoismus des Mister Simmens. Die Hoffensfreude Diesbergs war wieder im Steigen, die Phantasie begann ihren Startgalopp wie draußen die Gäule auf grünem Plan. Fünf Jahre Arbeit, sagte er sich, dann lag es wirklich nicht mehr so ganz außerhalb des Bereichs aller Möglichkeiten, daß er Bärwalde zurückkaufen konnte. Zwei Jahre Bedenkzeit hatte der Wassergraf gestellt. Doch Diesberg hoffte schon früher seine Annelene heimführen zu können – nicht mehr auf das Vorwerksschlößchen von Burgersroda, sondern hierher in das alte Herrenhaus von Bärwalde, das er zur freien Verfügung hatte. Aber er wollte es mieten, das wiederholte er sich, er wollte es nicht umsonst haben, er wollte Regina Lipsius einen regelrechten Vertrag vorschlagen. Einen regelrechten Vertrag ...

Den Entwurf besprach er zunächst mit Otten und machte sich seine Notizen. Er gedachte, völlig geschäftsmäßig vorzugehen, das schien ihm das richtige, und als Einleitung in die Verhandlung wollte er nochmals die Angelegenheit mit den fünfunddreißigtausend Mark vorbringen. Auch das mußte aufgeklärt und geordnet werden ...

Draußen in der Natur war es nun völlig winterlich geworden. Ein dicker weißer Pelz lag über der Landschaft, durch die Luft stäubte ein glitzerndes Rieseln. An einem Dezembermorgen klingelten zwei Schlitten vor die Bärwalder Schloßrampe. In dem einen saß Otten, der nach Freilehningen wollte, um mit dem Grafen Pakisch den Hengstankauf zu besprechen, im zweiten brachte die schöne Rosa Diesberg zur Bahn. Erni hatte sich vor dem Spiegel seine Gesichtszüge zurechtgelegt, er wollte diesmal nicht den liebenswürdigen Plauderer spielen, wie sonst am Teetisch Reginas, er wollte sich ernst, würdig und gehalten geben und nach Möglichkeit kaufmännisch. Gerade das Kaufmännische wollte er sich angelegen sein lassen, eine kühle Sachlichkeit, von der er glaubte, daß sie in diesem Falle einen ganz besonders günstigen Eindruck in Regina erwecken würde. Und sein ruhiges, gleichmäßiges, selbst das gefällige Lächeln gesellschaftlicher Gewohnheit ausschaltendes Gesicht im Spiegelbild gefiel ihm. So fuhr er desselben Weges wie vor einigen Wochen in das Rosenrot seiner Hoffnungen hinein.


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