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II

Im Jahre 1703 lebte zu Zerbst an der Nuthe ein vergnügtes junges Prinzlein, von den Bewohnern des freundlichen Städtchens gewöhnlich Prinz Springinsfeld genannt, weil dieser fürstliche Knabe ein überaus munteres Gebaren hatte, das den getreuen Untertanen gut gefiel. Er besaß auch eine Schwester, die Prinzessin Mangold, und die hatte wiederum eine Kammerjungfer, die Käthe Kleinpeter, ein nettes schwarzes Mädelchen, Tochter des Hofbäckermeisters hinter der Nikolaikirche. Prinz Springinsfeld verliebte sich in die Käthe, wie es junger Menschen Art ist, und da es nicht anders ging, so trachtete er in der Heftigkeit seiner Gefühle danach, sie zu heiraten. Natürlich machte sich das nicht so rasch, denn diese Herzensgeschichte erregte bedeutendes Aufsehen; alle Fürsten des Hauses Anhalt, eine ganze Menge dazumal, traten in Bernburg zu einem Familientage zusammen, um über die geplante Mesalliance zu beraten. Der Dessauer Fürst war sogar vom Niederrhein gekommen, wo es derzeit Kämpfe gab; und da dieser Herr selbst ein kleines Bürgermädchen geehelicht hatte, so gab er auch in diesem Falle die Entscheidung und meinte, man solle dem Springinsfeld nur seine Käthe gönnen, es käme um so weniger darauf an, als der Prinz ja voraussichtlich doch nie zur Regierung kommen würde. Da gab man denn nach, die Zerbster widerstrebend, den anderen war es ziemlich gleichgültig; Springinsfeld verzichtete feierlich auf jedes Sukzessionsrecht und beschwor dies auch stotternd (er stotterte ein wenig), legte geräuschlos seine Würden und Titel ab und nannte sich von da ab Freiherr von Diesberg, nach einem Gutsbesitz, den er übernahm, um etwas zu tun zu haben.

Von ihm stammten also die Diesbergs ab, und sie verkrümelten sich langsam im Laufe der Jahrhunderte. Als die Zerbster Fürstenlinie erlosch, kümmerte sich keiner von den Anhaltischen mehr um die bäckermeisterliche Verwandtschaft, das hatten sie übrigens auch vorher nur in geringem Maße getan. Die Diesbergs kamen dahin und dorthin, traten in Kriegsdienste und in die preußische Verwaltung, fielen auf dem Schlachtfelde und starben in den Sielen, und schließlich blieb nur noch ein einziger übrig, Karl Ernst, der genau so ein Springinsfeld war wie der erste seines Geschlechts.

Sein Vater war ein bißchen vernünftiger gewesen, doch nicht allzuviel. Er hieß August mit Vornamen, als Referendar der »schöne August«, und er war in der Tat ein bildschöner Mann. Er wurde auch noch Assessor und übernahm hierauf Bärwalde, nachdem er vorher ein gleichfalls sehr schönes und sehr armes Mädchen geheiratet hatte, ein Komteßchen aus dem Hause Pakisch, aber von der böhmischen Linie. Die gemeinsame Schönheit erbte der einzige Sohn und dazu Bärwalde, das war indes so ziemlich alles.

Ernst hatte man nach häufigem Wechsel seiner Hauslehrer in das Kadettenkorps gesteckt, es war da billig und eine stramme Zucht. Er machte sich dort auch ganz gut, bis er als Sekundaner mit der hübschen Tochter eines Feldwebelleutnants anbändelte, eine Geschichte, die aus dem Dunkel einer Nacht an das hellste Tageslicht kam und ihn nötigte, die Anstalt zu verlassen. Nun wurde er auf einer sogenannten Presse geistig so lange geknetet, daß er das übliche Examen bestehen konnte, und trat dann in ein Dragonerregiment ein, wo er sich durch seinen wundervollen Leichtsinn und seine sportliche Begabung hervortat. Das Regiment war stolz auf ihn. Es gab keinen lustigeren Burschen und keinen besseren Offizier als den Erni Diesberg. Er war ein tüchtiger Frontsoldat und ein ganz famoser Herrenreiter, er war nie Spielverderber, weder beim Jeu noch hinter der Sektflasche, er hatte erstaunliches Schürzenglück und war der einzige unter den blauen Kameraden, der den Hipparchicus, die Anweisungen des alten Tenophon über die athenische Reitkunst, im Urtext lesen konnte. Griechisch hatte er nämlich zufolge einer Wette binnen Jahresfrist gelernt. So etwas bekam er fertig.

Auf Bärwalde aber geriet er bald auf die schiefe Ebene. Solange die stille sanfte Mutter noch lebte, ging es ja leidlich. Sie regierte den halsstarrigen, heftigen und doch wieder sehr gutmütigen Menschen durch einen Augenaufschlag und ein Senken der Mundwinkel. Aber dann starb sie sehr plötzlich an einem raschen Erlöschen aller Kräfte, und nun jagten sich die Dummheiten Ernis. Er blieb immer in guter Laune und in rosigster Stimmung, und immer blühten Blumen der Hoffnung auf seinen Wegen. Die Zwangsversteigerung seines Besitzes hatte ihm keinerlei Kopfschmerzen bereitet. Sie kam ihm auch nicht unerwartet, sie drohte schon seit Jahren. Seit er gelegentlich seinen Rendanten auf einer Unregelmäßigkeit ertappt, verprügelt und davongejagt hatte, blieb jede Buchführung liegen. Die Ritterschaftsbank ließ es an Mahnungen nicht fehlen. Aber Diesberg öffnete die Briefe gar nicht mehr, und dann sauste eines schönen Tages das Gewitter mit Donner und Einschlag auf ihn herab. Da fuhr er hinüber nach Burgersroda und kneipte sich mit Simmens fest. »Gut, daß es so weit ist«, sagte Sir Edward. »Es mußte einmal zum Klappen kommen. Nun laß mich freundlichst die Sache in die Hand nehmen. Ich werde den Rummel schon fingern. Ich kaufe die Klitsche zum Hypothekenstand, darüber geht keiner, das steht fest. Dann machen wir es so. Wir bringen das Gestüt nach Bärwalde. Feld und Wiese müssen es erhalten. Wir führen gemeinsame Wirtschaft. Ich schaffe die neue Beleihung, und für die Hälfte verschreibst du mir als Sicherung deine Gäule und die Schloßeinrichtung. In drei Jahren, das garantiere ich dir, sind wir so weit, daß du alle deine Schulden los bist. Ich will dir auch innerhalb einer bestimmten Frist das Rückkaufsrecht freistellen – unter gewissen Kautelen. Bärwalde eignet sich besser zur Zucht als Burgersroda. Es hat die wunderschönen Weiden, und wenn wir den Acker instand bringen, haben wir auch Körnerfutter im Überfluß. Wir werden den ewigen Druck von Grabitz und Trakehnen zu brechen versuchen. Wir werden einmal zeigen, daß sich auch ein Privatgestüt auf der Höhe halten kann. Das soll mein Ehrgeiz sein ...«

*

Diesberg war begeistert. Er schlief ruhig bis in den verhängnisvollen Morgen hinein. Durch die geschlossenen Fenstervorhänge wand sich ein Strahl der Herbstsonne und glitzerte über seine Augen. Da wachte er auf, gähnte und reckte sich. Sofort fiel ihm ein, daß sich heute seine Zukunft entscheiden sollte. Aber er lächelte. Über das hübsche, glattrasierte, brünette Gesicht flog ein Reflex der Frühsonne. Er richtete sich auf und schlug mit der flachen rechten Hand auf die Bettdecke. Nun konnte also endlich einmal Ordnung in die Bude kommen! Ein bißchen verfahren war die Geschichte in letzter Zeit gewesen, das war richtig. Auf seinem Schreibtische lagen Stapel unaufgebrochener Briefe – er wußte aus den Firmen aus den Kuverts, daß sie vom Schneider kamen, vom Schuster, vom Juwelier, vom Wäschehändler, von einer Handlung für künstliche Düngemittel, von einer Motorenfabrik, Gott weiß von wem. Noch ein paar Wechsel mußten im Umlauf sein – warum meldeten die Leute sich nicht auch? Diesberg lachte. Vergessen würden sie ihn schon nicht.

Er klingelte. Gerrlich schob sich durch die Tür, der alte Diener, an dessen zeitlosem Gesicht sonst jede Erregung spurlos vorüberging.

»Guten Morgen, Herr Baron«, sagte er und setzte das Rasierwasser vor den Spiegel.

»Morgen, Gerrlich. Na, nun könnten wir wohl so sachteken aufstehen. Hat Herr Simmens oder Graf Pakisch etwas von sich hören lassen?«

»Ein Briefchen aus Freilehningen ist gekommen, Herr Baron, aber ich weiß nicht, ob von dem Herrn Grafen ... Der Milchmann aus Freilehningen hat es abgegeben, als er zur Bahn fuhr.«

Gerrlich legte die Wäsche seines Herrn zurecht. »Welchen Anzug, Herr Baron?« fragte er.

Diesberg warf die Beine aus dem Bett. »Irgendeinen. Den dunkelgrauen. Kann man noch auf der Veranda frühstücken?«

»Es ist ein schöner Tag«, sagte Gerrlich und seufzte ganz leise. Erni schaute ihm in das feiste alte Gesicht.

»Hallo, treue Seele,« rief er, »was ist denn los? Das war doch eben ein hörbares Seufzerchen. Na, und nu – liebes altes Kluckhuhn, jetzt kullern dir gar die Tränen über die Backen! Bist du denn rein des Deubels?«

Gerrlich heulte wahrhaftig. Er verlor Gleichmaß und Würde. »Es kommt mal so«, schluchzte er und wischte mit dem Handrücken über die Augen und kramte dann wieder im Kleiderschrank.

»Ja, aber warum bloß um Gottes willen? Ich bin doch nicht über Nacht gestorben. Hier sitze ich auf dem Bettrand und bin immer noch da!«

Jetzt wandte Gerrlich sich um und zog die Breeches aus dem stählernen Hosenschoner. »Aber wie lange noch?« sagte er mit einer Jammermiene. »Wir wissen ja doch Bescheid, gnädiger Herr. In der Küche sitzen die Mamsell und die Mädchen und flennen auch. Der Inspektor sieht aus, als ob er ...«

Er schluckte, legte mit geschickter Bewegung die Hosen in die Bügelfalte und hing sie über die Stuhllehne.

Erni hatte sich, noch im Nachthemd und mit nackten Beinen, eine Zigarette angesteckt. Er blies den Rauch durch die Nase. »Also das ganze Haus jammert«, sagte er mit einem Lächeln, das nur den linken Mundwinkel bog. »Warum? Ich will annehmen aus Anhänglichkeit. Gerrlich, hat dir Isenau pünktlich deinen Monatslohn ausgezahlt? Seit der Rendant fort ist, sollte Isenau die Lohnzahlungen übernehmen. Ich habe mich nicht darum bekümmert. Ist das immer geschehen?«

Der Alte winkte nur mit der Hand. Da stieg vom Halse auf eine starke Röte in das Gesicht Diesbergs. »Himmeldonnerwetter,« rief er, »ich werde dem Inspektor aufs Dach steigen, wenn er sich so wenig um meine Befehle schiert! Ich kann den Lodderjahn überhaupt nicht mehr brauchen. Er ist ein Quartalssäufer, er verduselt alles. Also wie lange hast du keinen Lohn bekommen? Heraus mit der Sprache!«

»Es sind drei Monate her,« antwortete Gerrlich schüchtern, »aber es hat nichts auf sich, Herr Baron. Wir leben hier ja alle so schön und gut –«

»Quatsch«, fiel Diesberg ein. »Da drüben liegt meine Brieftasche, gib sie her ...« Er nahm ein paar Banknoten aus der Tasche und reichte sie Gerrlich zwischen gespreizten Fingern ... »Behalte den Rest – als Zinsen. Ich werde mir nachher den Isenau vorbinden. Und nu hör mal zu. Ich weiß, warum die Wasserleitung bei euch fleußt. Ihr habt Angst vor dem heutigen Tage. Ich nicht, ich bin ganz vergnügt. Tröstet euch mit mir. Bärwalde geht mir nicht verloren, aber die alte Wirtschaft hört auf. Von morgen ab beginnt eine neue Zeit. Da sollst du mal sehen. Nu mach, daß du rauskommst, und ersuche die Herrschaften in der Küche, die tropfenden Äuglein zu trocknen. So 'n Trauergeklöhne kann ich nicht leiden.«

Er fuhr in die Unterbeinkleider und griff nach den Strümpfen. Der alte Gerrlich ordnete wieder sein Gesicht. Er wollte gehen, wandte sich aber nochmals und ergriff die Hand seines jungen Herrn. Es schien, als wolle er sie küssen. »Nee – nich«, rief Erni ärgerlich und zog die Hand zurück. »Du bist in Gnaden entlassen, geliebte Schleiereule.«

Gerrlich verschwand, und Diesberg ging an den Waschtisch. Während er sich umzog, strichen streitende Gedanken durch seinen Kopf. Die Miene lachte und kleidete sich in Ernst. Von innen heraus huschte der Widerschein wechselnden Empfindens über seine Züge. Also, weiß Gott, es war schon so weit gekommen, daß man Tränen des Mitleids über ihn vergoß. Die Leute hatten ihn gern, selbst die Mamsell, die ihn sicher mordsmäßig betrog. Alles beschluchzte ihn. Ekelhaft. Und das Rindvieh von Inspektor hatte wahrscheinlich wieder kein Geld in der Kasse. Seligmann hatte doch eben erst die Kartoffeln bezahlt. Der Isenau stahl auch wie ein Rabe. Der mußte weg. Verschiedene sollten fliegen; nicht vom Schloßpersonal, aber vom Hofe. Da wurde aufgeräumt und zwar gleich energisch. Mit dem Gestüt begann ein anderer Zug. Ein paar neue Paddocks mußten erbaut werden, und die Feldwirtschaft diente zunächst dem Gestüt. Das stand immer im Mittelpunkt, das war die Hauptsache. Wenn Simmens nicht knauserte, konnte man Graditz wahrhaftig ein Paroli bieten. Das Graditzer Übergewicht begann lästig zu werden. Gottlob, daß Simmens so reich war ... Der lachende Zug kam wieder. Diesberg bearbeitete den kurzgeschorenen Kopf mit zwei Bürsten. Dann sah er auf die Uhr. In einer Stunde sollte die Versteigerung beginnen. Aber er war ganz ruhig. Zuerst kam die bangebüchsige Ritterschaft und dann der Wassergraf und dann Simmens mit seinem Endgebot. Blieben noch die Privatschulden, die Rechnungen und die Wechsel. Die Rechnungen waren nicht weiter gefährlich, aber die Wechsel – alle Wetter, die drei Wische mußten doch schon fällig sein! Den einen hatte der Seligmann; der prolongierte. Die beiden anderen waren in Berlin gut untergebracht. Wo blieben die?

Im Schlafzimmer, dicht neben dem Bett, lag ein Safe in der Wand. Erni öffnete es und zählte seine Habe. Beim Bac nach dem letzten Grunewaldrennen hatte er Glück gehabt. Sein Gewinnanteil am Siege der ›Undine‹ kam hinzu. In dem Stahlkämmerchen lagerten ein paar Häufchen von Tausendmarkscheinen. Davon sollten die Berliner Akzepte beglichen werden. Es war freilich noch mehr zu bezahlen, aber diese Papierfetzen gingen vor. Merkwürdig war nur – – –

Diesberg warf die Safetür in das Schloß, und damit riß der Gedanke ab. Bah – man lief nicht hinter seinen Gläubigern her! Die kamen schon von selbst. Er steckte eine neue Zigarette unangezündet zwischen die Lippen und verließ das Schlafzimmer.

Es war das seines seligen Vaters, und daran schlossen sich die übrigen Räume, durch die noch die Erinnerung an die Eltern wehte. Das Arbeitskabinett war groß, hinter grünverhängten Glasschränken stand eine stattliche Bibliothek. Der alte Herr war ein Mann gewesen, der zu leben verstand, doch auch eine schöngeistige Natur und ein feiner Kopf. Seine ganze Daseinsführung dünkte dem Sohn nachahmenswert. Aber die Zeitverhältnisse hatten sich geändert, die Kopie reichte nicht an das Original heran. Damals war das Leben ein Gewirke von buntschillernden Maschen, in dem man die grauen Abnützungsflecke der Alltagssorgen kaum sah, heute war das Gewebe verdammt fadenscheinig geworden. Die Pace der Hetzjagd verdarb vieles. Immerhin, gewisse geistige Interessen hatte auch der Sohn geerbt, keine tiefgehenden und von Ehrgeiz beflügelten, dazu war er zu ruhelos. Doch er griff gern einmal nach den Büchern, weil er den Gedankenwechsel liebte, und am meisten nach stürmischen Stunden. Es war wie ein Ausschalten der Gegenwart, mehr ein unbewußtes als ein klar gewolltes. Seit er einer Wette halber Griechisch gelernt hatte, waren die Klassiker Alt-Athens seine Freunde: nur im geheimen, er sprach nie davon. Auf dem Tische lag noch ein Buch, in dem er in der Nacht vor dem Schlafengehen ein halbes Stündchen gelesen hatte: Wilhelm Humboldts metrische Übersetzung des Äschyleischen »Agamemnon«. Übrigens gefiel sie ihm nicht.

Er reihte den Band wieder sorgfältig ein – darin war er ordentlich – und schritt weiter. Nebenan lag das ehemalige Wohnzimmer der Mutter. An der einen Wand hingen zwei ovale Ölbilder: ein schönes, junges Paar, ein lockiger Jüngling ohne Kopfbedeckung, aber in brüniertem Küraß und mit einer unmilitärischen Halskrause, und ein naiv dekolletierte junge Dame in blauem Atlas mit einem winzigen weißen Seidenspitz im Arm. Das waren die Ahnen, der Prinz Springinsfeld und das Bäckermeisterstöchterchen. Es gab noch mehr Ahnenbilder im Schlosse, der alte Diesberg hatte sie ererbt und zusammengesucht, sie hingen in allen Zimmern und schauten durchweg so hochmütig drein, als stammte ihre Lebendigkeit aus grauester Vorzeit. Nur Ernis Vater trug einen ironischen Zug auf dem breiten, feinen, geistreichen, rosig getönten Lebemannsgesicht und ein merkwürdig verzetteltes Lächeln um den Mund. So war er auch durch das Leben geschritten, mit ethischer Zweifelsucht, fern allem Autoritätsglauben, aber mit einer Seele voll beweglichster Atome.

Erni stieg die Treppe hinab, durch die untere Halle mit ihrem Kreuzgewölbe und ihrem alten Waffenschmuck am Mittelpfeiler. Das Schloß war nicht groß, ein zweistöckiger friderizianischer Bau auf massiven Fundamenten, gut erhalten und mit einem Sinn für Behagen eingerichtet, der den Luxus der Zeit ebenso verschmähte wie ein unbequemes Einfühlen in eine garantiert echte Stileinheit. Es hatte sich viel schönes, altes Mobiliar angesammelt, einige Stücke stammten noch von dem Begründer des Geschlechts; aber das alles war so verteilt, daß man keinen Augenblick das Gefühl einer Einzwängung in vergangene Tage hatte. Die Stimmung überwog, auch der Reiz des Persönlichen.

Erni trat durch die Glastür auf die Veranda und blieb hier einen Augenblick stehen. Und in diesem Augenblick ging ein starker Strom von Heimatsliebe durch sein Herz und zugleich ein rasches, heftiges Erzittern der Angst, die Heimat verlieren zu können. Die Veranda führte nach der rückwärtigen Seite des Parks hinaus, der sich im Farbenbehang des Frühherbstes bis an die Wiesen des Bruchs erstreckte. Die Sonne hatte schon an Glanz verloren, aber ihr Altgoldton paßte wundervoll zu dem letzten fröhlichen Karneval der Natur, zu dem Tiefrot des wilden Weins, dem Blauschwarz der Taxushecken, dem bunten Kleide der Laubbäume. In der Ahornallee harkten der Gärtner und ein Junge das über Nacht herniedergerieselte Blattwerk zusammen, und beide hielten in der Arbeit inne und grüßten, als sie den Herrn sahen. Diesberg nickte freundlich zurück, auch mit einem leichten Verwundern: es war eigentlich seltsam, daß sich hier alles noch so gleichmäßig und friedfertig abrollte, als sei nichts in der alten Ordnung gestört worden. Freilich: durch Ställe und Scheunen durfte man nicht gehen ...

Er setzte sich an den Frühstückstisch und nickte wieder. Es war an diesem Tage wie immer. Der Tisch blendend sauber gedeckt, der Samowar blinkend, Astern blühten in einer Vase. An der Tür standen Gerrlich und ein hübsches Mädchen in weißer Schürze, beide fast unbeweglich. Das hatte Gerrlich so eingeführt, sie warteten darauf, servieren zu dürfen. Aber Diesberg bereitete sich seinen Tee selbst, und heute wie immer sagte er mit einer kurzen Fingerbewegung: »Danke, ich brauche euch nicht ...« Ein schneller Blick streifte dabei das Mädchen. Jesses, auch die kleine Emma hatte verweinte Augen! Es war schon richtig: im ganzen Schlosse rührten sich die Tränendrüsen. Man bejammerte ihn, ehe es an der Zeit war.

»Hö, Gerrlich – noch ein Wort!«

»Gnädiger Herr –?«

»Ich möchte den Isenau sprechen.«

Gerrlich neigte den Kopf und zog sich zurück. Erni goß den Tee auf und griff dann nach Briefen und Zeitungen. Die Zeitungen schob er wieder zur Seite, von den Briefen las er nur die Adressen. Aber obenauf lag ein kleines Kuvert ohne Marke, die Aufschrift steil und halb schief, darunter der Fingerdruck einer schmutzigen Hand, dies Briefchen zog Diesberg neben seinen Teller. Die Handschrift war die der Annelene Pakisch, und die Befingerung stammte zweifellos von dem Liebesboten, dem Milchmann von Freilehningen.

Erni frühstückte zunächst, steckte sich eine Zigarre an und öffnete dann erst den Brief. Er las:

»Lieb Häseken,

also heute geht es los. Vater ist schon fort, die Schwestern toben umher, ich heule, und Fräulein von Hübner mauzt, ich soll mich nicht albern haben. Sie kann mich sonst was, ich heule doch, ich habe so gräßliche Angst. Komm herüber und tröste mich. Aber gleich, ich gehe Dir bis zur Schleuse entgegen und warte da.

Deine Änneli.«

Diesberg faltete das Blatt wieder zusammen und steckte es in die Brusttasche. Der Anruf war ihm ganz recht. Er wollte hinüber nach Freilehningen. Das vertrieb ihm den nervösen Vormittag. Ach ja, er spürte ganz plötzlich ein Zupfen an seinen Nerven. Wenn er auch seiner Sache so ziemlich sicher war – es war doch ein Hangen und Bangen ...

Der Inspektor erschien unten am Fuß der Treppe. Er hielt seine Mütze an beiden Händen über dem Bauch und plierte mit den geröteten Augen. Den Oberkörper hatte er ein wenig gekrümmt, aber die Hacken stramm geschlossen.

Diesberg winkte. Isenau trappste mit seinen schweren Kniestiefeln die Steinstufen hinauf und stand vor dem Tische abermals stramm, reckte jetzt auch die Brust heraus.

»Guten Morgen, Herr Oberleutnant«, sagte er.

»Morgen, Isenau. Wieviel haben Sie noch in Ihrer Kasse?«

»Gar nichts, Herr Oberleutnant.«

»Was hat der Seligmann für die zwanzigtausend Zentner Kartoffeln gezahlt?«

»Gar nichts, Herr Oberleutnant.«

»Was heißt das, Himmelelement!«

»Er hat gesagt, er würde mit dem Herrn Oberleutnant alleine verrechnen.«

Diesberg bezwang sich. »Gut. Ist das Lohnjournal in Ordnung?«

Isenau schien die Frage erwartet zu haben. Der Oberkörper duckte sich wieder, der Kopf versank zwischen den Schultern. »So weit ja – bis auf die letzten Löhne, die habe ich noch nicht auszahlen können, es war nichts mehr da, Herr Oberleutnant.«

»Lassen Sie doch den militärischen Titel, ich habe schon mehrfach darum ersucht. Ich nenne Sie ja auch nicht Herr Unteroffizier. Ist genügend Wintersaat vorhanden?«

»Nein, Herr Ober – nein, Herr Baron, es fehlt uns so ziemlich an allem. Die Ernte war bemänglich, viel wurde verkauft; was übrigblieb, genügte grade zur Fütterung.«

Erni trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Das konnte richtig sein. Im Sommer standen allein zwölf Luxuspferde in seinen Ställen.

»Wie ist's mit der Düngung?« fragte er weiter.

»Schlecht. Wir brauchen noch Kali und Thomasschlacke und Chilisalpeter und Kainit. Wir müssen auch wieder mal den Wiesen nachhelfen. Ich habe zweimal an die Fabrik geschrieben, aber die antwortet gar nicht.«

Das war begreiflich. Die alte Rechnung war noch nicht bezahlt. Mahnungen lagen wahrscheinlich oben – uneröffnet. Seit die Ritterschaft bockbeinig geworden war, hatte sich Diesberg überhaupt nicht mehr um diese Kleinigkeiten gekümmert.

»Es ist noch Zeit,« sagte er, »das Wetter wird sich halten. Also zuerst die Löhne, dann schleunige Bestellung der Winterung. Wieviel brauchen Sie dazu?«

Isenau überlegte. Er kniff die Augen zu, daß sie wie ein roter Strich unter der Stirn standen. Seine Lippen bewegten sich, er rechnete. Dann schlug er mit der Mütze auf seinen Schenkel und antwortete: »Ich denke, mit fünfundzwanzig Mille werde ich mich einrichten können, Herr Baron. Dann bleibt aber die Brache wie sie ist.«

Diesberg erhob sich und ging in sein Schlafzimmer. Dort schloß er den Safe auf und steckte ein Paket Banknoten ein. Die Berliner Wechselgläubiger hatten sich ja noch nicht einmal gemeldet! Was war mit den Kerlen? Wenn sie morgen kamen, war das Stahlnest leer. Morgen! Da war Simmens schon Mitbesitzer von Bärwalde und konnte die Taschen öffnen.

Auf der Veranda räumte Gerrlich den Frühstückstisch ab. Isenau sah zu.

»Gerrlich,« sagte er in heiser abgedämpftem Ton, »der Herr hat Geld.«

»Warum denn nicht«, antwortete der Alte und klirrte mit den Tellern. »Bloß daß er's Ihnen gibt, ist eine Dummheit.«

Isenau zog die Lippen auseinander und zeigte die gelben Zähne. »Es muß alles unter Beweis gestellt werden, lieber Herr Gerrlich.«

Gerrlich nahm das Tablett vom Tisch. »Wird schon. Warten Sie morgen ab.«

»Morgen ist Bärwalde verkauft ...« Und dann lichterte auf einmal ein Blitzstrahl sengender Angst über sein Kupfergesicht. Er trat näher an Gerrlich heran ... »Oder nicht?« fuhr er flüsternd fort. »Oder was ist los? Gerrlich, wenn ihm morgen Bärwalde nicht mehr gehört, warum steckt er heute noch ein paar Tausend rein?«

Durch die Glastür sah er Diesberg die Hallentreppe herabspringen, lebhaft und schnellfüßig wie sonst. Isenau nahm wieder seine Mütze in beide Hände und legte sie vor den Bauch.

»Hier«, sagte Diesberg und zählte die Geldscheine auf den Tisch. »Fünfundzwanzig. Die Löhne werden heute noch ausgezahlt. Dann bestellen Sie bei Lorenz in Kottbus, nicht bei Hülsen Söhne, sondern bei Lorenz in Kottbus den nötigen Kunstdünger. Machen Sie das telephonisch. Telephonieren Sie, gegen bar. Und ferner: bereiten Sie sich vor, mir morgen Ihre Bücher abzuliefern. Allesamt. Die Inventarverzeichnisse, die Lohnlisten, Arbeitsjournale, Tagebücher, Konten, alles. Von morgen ab übernehme ich selbst die Buchführung.«

Isenau war so maßlos überrascht, daß er gar nicht zu antworten vermochte. Er strich schweigend das Geld ein. Das Kupfer in seinem Gesicht nahm eine graue Färbung an. Er wollte abtreten. Aber ein klügliches Sinnen ließ ihn noch verweilen. Er zog sein schmutziges Taschentuch, preßte eine Träne in sein Auge und sagte wehmütig: »Ach du lieber Gott, Herr Baron, wenn heute doch man bloß alles gut ablaufen wollte! Wir sitzen ja so in der Angst.«

Diesberg fuhr ärgerlich auf. Dann lachte er. »Stecken Sie Ihren Sabberlappen wieder ein, Isenau,« antwortete er, »und scheren Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten. Wenn wir uns morgen etwa zanken sollten, es würde für Sie unangenehmer sein als für mich. Und nun adje. Halt – sagen Sie dem Strygowski, er soll anspannen. Den gelben Wagen und die Rosa ...«

Er nahm ein paar starke Züge aus seiner Zigarre. Der Geruch Isenaus war ihm unangenehm. Dann stieg er hinab in den Park. Er war unruhig geworden. Es war ganz plötzlich gekommen, das Gefühl einer Belastung, etwas Bedrückendes, eine Unsicherheit. Blödsinn, sagte er sich. Ganz ausgeschlossen, daß Pakisch überboten wird – außer von Simmens, so liegt ja die Verabredung ... Wer zahlt heute achtmalhunderttausend Mark für eine verlotterte Klitsche! Gar kein Gedanke ... Er blieb stehen und plauderte mit dem Gärtner, Gleichgültiges, es war nur eine Ablenkung. Dann fuhr der Wagen vor die Veranda, und Gerrlich stand mit Mütze, Mantel und Decke daneben.

Die schöne Stute Rosa war in die Schere gespannt, ein hurtiger Läufer, sonst ein närrisches Tier. Es war ein Rotschimmel oder eigentlich ein Muskatschimmel, aber die rötliche Farbe hatte das Weiß, Grau und Gelb der Nebenfarben völlig verdrängt, die Stute Rosa trug nun ihren Namen zu Recht, es war ein ganz verrücktes Pferd – man blieb unwillkürlich stehen und lachte, wenn man es sah. Über dem Rücken hatte es einen Aalstrich, und um die Füße zottelte bräunliches Haar, es hatte ferner sogenannte Glasaugen, hell wie klares Wasser, und eine hübsche Ramsnase, die seinem Profil etwas sinnend Philosophisches gab. Rosa war also im Grunde genommen nach den Schönheitsregeln der Pferdeästhetik eine absonderliche Häßlichkeit, doch im Trabrennen nahm es keiner mit ihr auf. Diesberg hätte sie schon zu einem hohen Preise an den Zirkusbesitzer Schumann verkaufen können, aber er liebte das verdrehte Geschöpf, weil es so ganz aus der Rasse gefallen schien.

Er klopfte Rosa den feisten Hals und stieg dann auf den Wagen. Den Mantel wünschte er nicht; die Decke schlug Gerrlich um seine Knie. Strygowski, der Kutscher, ein kleiner sehniger Pole, saß in Stulpenstiefeln und zebragestreifter Jacke neben dem Herrn und hielt die Peitsche. Die Peitsche war nur Attribut, Rosa brauchte keinen Antrieb, sie schoß gleich los und warf die Beine, daß es eine Freude war.


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