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IX

Regina erwartete ihren künftigen Gatten. Die tückische Grippe hatte sie glücklich überwunden, aber die seelische Unruhe bereitete ihr ein schmerzlicheres Leid, als es die Krankheit vermocht hatte. Sie machte sich keine Vorwürfe über die gespielte Komödie. Die hatte sich aus der Entwicklung des Augenblicks ergeben. Was sie in der Kraft ihres Eigenwillens und mit dem Rechte des Herzens gewollt hatte: den Mann durch das Geständnis ihrer Liebe zu gewinnen, war an der geschäftlichen Kühle der Begegnung gescheitert. Aber sie gab nicht auf, was sie sich vorgenommen hatte, jenes erobernde Moment, das in der Welt der Konventionen gewöhnlich nur dem Manne zusteht und das in der Bewegung der Zeit das Weib theoretisch nun auch für sich in Anspruch nahm. Bei ihr lag der Fall so, daß der doktrinäre Hinweis auf die Gleichheit der Geschlechter in Angelegenheiten des Gefühls sich in wesenerschütternde Praxis übertrug. Ihre Liebe zu Diesberg war der Inbegriff ihrer Individualität. Bei ihrem Reichtum und ihrer Schönheit genügte ein Blick und eine Geste, um die Männer zu fesseln. Aber gerade in dem Bewußtsein der Macht, die sie ausübte, verachtete sie die Werbungen der Männer. Sie selbst wollte den sich wählen, dem ihr Herz und Leib gehören sollte. Das war zweifellos ein richtiges und adliges Empfinden, getragen von echt weiblichem, sittlichem Stolze. Nur stieß sich die Ausführung an den gesellschaftlichen Gebräuchen. Die kleine Düren machte es einfacher. Sie nahm sich einen Geliebten und kümmerte sich nicht um den Tratsch der Welt. Über das Urteil der Sippen hätte auch Regina sich hinweggesetzt. Aber die bürgerliche Ehe galt ihr als Krönung des sozialen Lebens.

Der Zusammenstoß der Gegensätze bei der Unterredung mit Diesberg machte jede Gefühlsäußerung unmöglich. Und in dem Moment, da Regina dies einsah, änderte sie ihr Verhalten. Ausschauende Klugheit trat an die Seite der Leidenschaft. Sie lenkte ihr Problem, ohne das Ziel aus dem Auge zu lassen, in den Weg, auf dem der Mann ihr entgegenkam, auf eine Vereinfachung, auf den Nützlichkeitswert. Das war eine diplomatische Wendung, die sie nachträglich sich selbst gegenüber als eine »Politik der Liebe« zu rechtfertigen suchte. Und diese psychologische Strategie wäre bei dem eigenartigen Zusammenfluß aller äußeren Umstände sicher auch von Erfolg gekrönt gewesen, hätte sich Diesberg nicht durch sein Verhältnis zu Annelene Pakisch in seiner Unabhängigkeit beschwert gefühlt. Aber freilich hat Hegel recht, wenn er sagt, daß das Wesen der Liebe sich nicht durch den Verstand erklären läßt. Sie scheut keine Gefahr und kennt kein Hindernis, sie ist Roman und Drama und Abenteuer. Für Regina war die kleine barfüßige Komteß keine ernst zu nehmende Nebenbuhlerin. Eine neue Wendung im Spiel der Herzensliste räumte sie vorläufig aus dem Wege. Gegen die zwei Jahre Wartezeit setzte sie das eine Jahr ihres Zusammenlebens.

Gewiß, daß sie in der verfeinerten Organisation ihres Empfindens Scham empfand über die Verschleierung der Wahrheit. Doch es war keine Reue dabei und kein Selbstvorwurf. Ihre Liebe war konzentrierter Lebensdrang, der Wunsch einer Auslösung ihres Seins in dem des andern, ein »Stirb und Werde«. Was ihr an Diesberg begehrenswert erschien, der Mann, die Art, die geistige Mischung, bewußte Wahrnehmung oder hellseherisches Unbewußtes – sie hatte nie darüber sich in Gedanken gesponnen. Nicht der Gedanke riß die Führung an sich, sondern der alte unbegreifliche Zauber, der in den Sinnen webt und in den leisesten Schwingungen der Seele sein Echo findet.

So wartete sie seiner mit Bangen, immer in Sorge, einen Brief von ihm zu erhalten, der ihre Hoffnung vernichten könnte. Aber es kam kein Brief, und heute war nun der Tag, an dem sein gesprochenes Ja oder Nein ihr Schicksal erfüllen sollte. Sie wußte: auch ein Nein würde er als Mann von Welt mit geschickten Phrasen zu umkleiden verstehen. Er konnte weithergeholte Bedenken in gewählter Dialektik zu Felde führen und wieder von dem Plan seiner Auswanderung sprechen. Und da war sie zu einem letzten Trumpf entschlossen: sie wollte ihm gemeinsame Auswanderung vorschlagen. Gut – räumen wir auf in Europa, fegen wir alle Bedenken in den Winkel, die hier die Freiheit unseres Lebens umlauern, und ziehen wir in die Fremde! Wir sind reich genug, uns da ein Paradies zu schaffen ...

Das war die Wendung zum Abenteuer. Es kam nicht dazu. Diesberg ließ sich anmelden, auf die Stunde genau wie vor drei Tagen. Als sie ihn sah, ging ein Blühen durch ihr Herz, und sie errötete unwillkürlich. Er trug zwei Rosen in der Hand, die er ihr mit schweigender Verneigung reichte.

»Danke, Herr von Diesberg,« sagte sie, »Vorboten des Frühlings ...« Eine triviale Bemerkung. Der Übergang von gesellschaftlicher Phraseologie zu sinnvollerem Inhalt war nicht anders. Sie wies auf einen Stuhl und ließ sich selbst nieder. Sie trug das Schwarz der Trauer, steckte nun aber eine der roten Rosen an ihre Brust.

Diesberg überwand rasch die erste Verlegenheit durch eine leichte Keckheit des Tons. »Gnädiges Fräulein,« begann er, »ich möchte zunächst um Entschuldigung bitten, daß ich bei meinem letzten Besuch mich in etwas stürmischer Weise verabschiedet habe. Es sah fast wie eine Flucht aus, aber es war in der Tat nur ein Zurückziehen aus erregter Stimmung in ein ruhigeres Beisichselbstsein. Das läßt sich erklären, nicht wahr? Ich kam als Bittsteller zu Ihnen und sollte als Verlobter entlassen werden. Da jagte ein Wirbel in mein Gefühlsleben und blies alle Denkkraft aus. Nun laboriere ich zuweilen an philosophischen Anwandlungen, und die haben mir glücklich über Unklarheiten und Ungewißheiten fortgeholfen. Ich weiß nicht, ob Sie sich entsinnen, daß ich Ihnen schon sagte, auch das weibliche Anrecht bei der Ehewahl für vernünftig, verständig, zutreffend, menschlich zu halten. Daß also die starren Satzungen der Gesellschaft für freier Empfindende nicht maßgebend sein können. Das habe ich mir inzwischen noch des längeren und breiteren durch den Schädel gehen lassen und möchte wiederholen, daß ich Ihren Standpunkt begreife und respektiere.«

Sie neigte ein wenig den Kopf. Dabei fragte sie sich: Was redet er? Was soll diese Einleitung? – Doch er fuhr fort:

»Befremdender war mir, daß Ihre Wahl auf mich fiel. Ich unterschätze mich nicht. Aber ich übe doch auch Selbstkritik. Meine äußeren Verhältnisse liegen ziemlich zerfahren. Was Sie von mir gehört haben können, wird nicht allzuviel Gutes sein. Nun sprachen Sie von Sympathie. Das ist ein Fremdwort, ein anmutig klingendes, und irre ich nicht, so gibt es sogar Ethiker, die diese Sympathie als subjektive Grundlage aller Sittlichkeit betrachten. Sie selbst übertrugen den Begriff auf den einer ehrlichen Freundschaft. Gut, Regina, wenn wir auf dem Fundament einer treuen Freundschaft unser Ehehaus errichten wollen – gut, so tuen wir uns zusammen!«

Er war aufgestanden. Durch den leichten Ton schwang ein Akkord schönen Ernstes. Auch Regina erhob sich, langsam, etwas zögernd, schwer. Die Teerosenfarbe ihrer Haut färbte sich tiefer, in das Seegrün ihrer Augen stieg ein eigenes mystisches Halblicht.

»Ich danke Ihnen«, sagte sie. »Ich darf keine höhere Forderung stellen. Aber ich darf Sie lieb haben, nicht wahr? Das darf ich.«

Ihre Stimme war süß, war wie ein musikalisches Farbenspiel. Sie streckte ihm beide Hände entgegen, und, ergriffen von dem Augenblickszauber einer in seine Melancholie getauchten Poesie, zog er sie an sich und küßte sie sanft auf den Mund.

Es war der erste Kuß auf den Mund, den sie von einem Manne empfing. Auch des Vaters Lippen hatten die ihren nie berührt. Der vorsichtige Pedant vermied dies schon aus hygienischen Gründen.

Erni fühlte das schamhaft lustvolle Erzittern Reginas. Aber der Moment sollte nicht lyrisch werden. Auch diesmal hatte er sich in der geschäftsmäßigen Abgliederung der Angelegenheit eine Schutzwehr geschaffen.

Er behielt ihre Hände noch und lachte fröhlich. »Regina, nun ist es heraus«, rief er. »Ist die Wahrheit so fürchterlich? Konntest du mir das nicht schon vor drei Tagen sagen?«

»Wer war schuld an meiner Umgehung der Wahrheit? Du. Ich hatte mir vorgenommen, dir zu gestehen, was jeder Mann ungestraft jedem Weibe gestehen darf. Ich hätte es gewagt. Aber dein abweisender Ton erschreckte mich.«

Er küßte nun auch ihre Hände. »Ich habe dafür nur die eine Entschuldigung, daß ich in dir immer die Tochter deines Vaters sah.«

»Und in meinem Vater sahst du deinen Feind. Er war es nie, Ernst. Er war lediglich der ewige Erzieher. Nicht immer mit gleichem Glück. Die einzige Tochter entschlüpfte seinen pädagogischen Grundsätzen.«

» Quod erat demonstrandum«, scherzte er. »Er wird uns das Resultat im Grabe verzeihen. Regina, nun sind wir Verlobte. Da gibt es noch viel zu besprechen.«

»Ich höre«, sagte sie ruhig. Der erste Abschluß war da. Sie konnte zufrieden sein. Allgemach kehrte ihre Ausgeglichenheit zurück. Sie hatte ihn, und wenn sie auch wußte, daß bei ihm mehr kluges Denken als der Herzschlag mitgesprochen: sie hatte ihn und hielt ihn, es war wie ein geglückter Beutezug der Liebe, und mit einem inneren Lächeln überschlug sie triumphierend die Zukunft – sie wollte den Sieg sich sichern! –

Man setzte sich. Diesmal auf das Sofa – wie ein solides gutbürgerliches Brautpaar, dachte Diesberg. Das gehört auf das Sofa in der guten Stube.

»Regina,« begann er von neuem, »du mußt mir gestatten, noch einmal auf deinen Vorschlag eines Ehevertrages zurückzukommen. Ich sehe vollkommen das Zweckmäßige eines solchen Arrangements ein – es ist ja auch allgemein üblich –, ich wehre mich nur mit Entschiedenheit gegen die Aufnahme eines Paragraphen, der gewissermaßen – nun ja, gewissermaßen dein Leben befristet. Du hast mir in voller Ehrlichkeit die Aussage deines Arztes wiedergegeben – Gott sei Dank sind die Ärzte ebenso dem Irrtum unterworfen wie wir alle –, und wenn ich auch die ruhige Gelassenheit bewundere, mit der du über diese Dinge sprichst: solange wir atmen, haben wir ein Recht auf Hoffnung, und solange wir leben, wollen wir den Gedanken an den Tod nicht fürchten!«

»Ich fürchte ihn nicht«, entgegnete Regina, und ein Schwanken stieg in ihr auf, ob sie nicht recht täte, ihm in dieser Stunde die Wahrheit nicht weiter vorzuenthalten. Doch ein Gefühl der Angst hieß sie schweigen, ein Gefühl der Scham vor dieser letzten Lüge, die im Sturm ihres Herzens zu einer Schlinge werden sollte – oder zu einem Kompromiß. Die Zeit mußte sprechen – die ganze Rechnung ihrer Liebe war ja auf die erlösende Zeit gestellt! –

»Ich weiß,« sagte er, »du bist tapfer, Regina. Wir werden auch nichts unversucht lassen, dir Heilung zu bringen – wir werden noch andre Spezialisten aufsuchen, ein milderes Klima, ein Sanatorium ...« Es war ein Jagen der Worte, als wollte er rasch über dies peinliche Thema fortkommen ... »Aber was ich nicht will, ich wiederhole das, ist die Aufnahme der Lebensfrage in den Ehevertrag! Ich akzeptiere den Besitz von Bärwalde, weil er mir freie Hand für meine Tätigkeit gibt, über dein Vermögen hast du allein zu verfügen.«

»Ich kann darüber testieren, wie ich will«, erwiderte Regina. »Gut, ich bin einverstanden. Ich werde das mit Detmold besprechen. Er erledigt alles Geschäftliche. Sind deine Personalpapiere in Ordnung?«

»Gewiß. Du willst nicht das Trauerjahr abwarten?«

»Kann ich denn das?« entgegnete sie, und wieder huschte ein Verräterrot in ihre Wangen.

Er nickte hastig. »Es ist auch nicht nötig. Die sogenannte Gesellschaft wird plärren und skandalieren, mag sie. Also, Regina, wann wollen wir die standesamtliche Anmeldung vornehmen?«

»Morgen.«

»Gut. Wünschest du eine kirchliche Trauung?«

»Nein – falls dir nicht daran liegt.«

»Durchaus nicht. Wir müssen zwei Zeugen für die Kopulation haben.«

»Ich werde Detmold darum bitten.«

»Und ich Herrn von Otten. Ist über die Frage der Ausstattung noch etwas zu sagen?«

»Nichts,« erwiderte sie lächelnd, »ich bin versehen.«

»Und wo wollen wir unser Heim aufschlagen?«

»Dies Haus ist groß, und auch in Bärwalde wird genügend Platz sein.«

»Versteht sich. So haben wir Stadt und Land. Aber ich bin nicht für ein Hochzeitsmahl in Bärwalde. Ich schlage ein Frühstück mit unsern Zeugen in irgendeinem Hotel vor und dann eine kleine Reise – nach Dresden, Wiesbaden, Baden-Baden, wohin du willst.«

»Soll mir recht sein.«

Eine kleine Pause trat ein. Diesberg empfand, er mußte jetzt etwas Liebes sagen, ein gütiges Wort – es mußte ein Ersatz da sein für die übliche erste Kosestunde eines jungen Brautpaars. Wenigstens ein Schein von Poesie mußte auf die unsäglich nüchterne Alltagsfläche fallen. Aber auch die glatte Technik gleichgültig-gefälligen Plauderns versagte bei ihm in diesem Augenblick. Sein Allerinnerstes widersprach einer Mache, die sie unmöglich für Ernst nehmen konnte. Nein, das war unwürdig. Und wie er sie kannte, erwartete sie das auch nicht – ganz gewiß noch nicht.

Da nahm sie selbst das Wort. Sie legte ihren rechten Arm um seine Schulter und sagte: »Lieber Freund, vergib, wenn ich einen wehen Punkt berühre. Ich weiß, du trägst eine Jugendliebe im Herzen. Weiß auch, zu wem. Unsre Ehe wird in eurem Landkreise verdoppeltes Aufsehen erregen, das ist nur natürlich. Ist es da nicht zweckmäßiger, ich nehme in Bärwalde vorläufig noch nicht Quartier? Laß mich hierbleiben – und du besuchst mich, sooft es deine Zeit erlaubt. Ich möchte dir gern jede Unannehmlichkeit aus dem Wege räumen, will auch vermeiden, daß man mich bei euch gewissermaßen als nicht zugehörig betrachtet.«

Er nahm ihre Hand und drückte sie an seine Lippen. »Ich danke dir für deine Rücksichtnahme«, entgegnete er. »Aber sie ist schon deshalb nicht nötig, weil man daheim gewohnt ist, in mir einen Menschen zu sehen, der sich den Teufel um die Nachbarn rechts und links und ihre Meinungen schiert. Ich habe im übrigen auch gar keinen Verkehr, was man so nennt – der einzige war der mit Freilehningen – und dahin sind nun die Wege verweht und alle Brücken zerstört ... Ja, Regina, ich hatte eine Jugendliebe – nenn' es Jugendliebe, es ist wohl der richtige Ausdruck, denn sie war der letzte Rest Sturmjugend in mir. Sie war ein ganz naives Empfinden, etwas Elementares, etwas Erdiges – Erdiges, etwas Kitschiges, Albernes, eine Bauernliebe, eine Primanerliebe – aber sie saß doch sehr fest. Vielleicht hätte sie nie zu einer Ehe geführt – der alte Herr hat mir schon einmal sein Haus verboten ... nun also, jetzt rüttle und schüttle ich an mir, um die Erinnerungsspreu loszuwerden, und es wird mir gelingen – ich weiß ja, daß der Riß unheilbar ist, wie sich auch alles gestalten mag – es ist für immer vorbei ... und vielleicht ist es gut so ... Aber, Regina, da wir doch einmal davon reden, und ich begrüße das, es soll Klarheit zwischen uns sein – unser Seelisches läßt sich schließlich nicht von einem Tage zum andern auswechseln – du wirst in erster Zeit, es ist möglich, noch Stimmungen in mir fühlen, die natürlich verwunden werden sollen, die aber wider Willen auftauchen können ... Ich weiß nicht, ob du mich verstehst. Ja, du verstehst mich. Ich will dir ein treuer, anhänglicher, liebevoller Gatte und Freund sein –«

Sie unterbrach ihn. Sie lehnte sich an seine Schulter und führte seinen Gedankengang weiter. »Aber das Herz, das Herz muß ich mir noch erkämpfen,« sagte sie in wiegendem Rhythmus der Stimme, »und das ist die Aufgabe, die mich glücklich machen wird. Küsse mich noch einmal, geliebter Ernst – und dann wollen wir zur Prosa unsrer Aussprache zurückkehren ...«

Sie umschlangen sich, und sie küßte ihn. Sie nahm in diesem Kusse Besitz von ihm. – –

*

Am Abend saß Diesberg mit Otten zusammen vor dem Kamin in der Bibliothek von Bärwalde. Erni war vorher wieder einmal in den Weinkeller gestiegen und hatte unter den Resten Auslese gehalten. Sie verringerten sich zusehends, aber er fand doch noch ein paar Flaschen Sechsundvierziger Rüdesheimer, von denen er annahm, daß sie Otten schmecken würden. Und gerade heute lag ihm daran, ihn in Stimmung zu bringen.

Das Zuständliche ließ an Behaglichkeit nichts zu wünschen übrig. Draußen fiel dichter Schnee. Man hörte sein leises Ballern gegen die Fensterscheiben. Im Kamin loderten die Holzkloben, knisterte es, sprühten die Funken, zerknallte ein Kienspan. Gerrlich hatte den kleinen Tisch mit den Flaschen zwischen die Ledersessel gerückt und sich wieder entfernt.

Die Herren saßen sich gegenüber, Diesberg füllte die Römer, Otten betrachtete sinnend das Etikett auf einer der Flaschen.

»Eine gute Nummer«, sagte er. »Liegt irgend etwas Besonderes vor, lieber Diesberg, daß Sie sich zu dieser Höhe der Kultur aufgeschwungen haben?«

»Ja, es ist so«, antwortete Diesberg. »Es ist ein Bestechungstropfen. Ich wollte Sie bitten, gemeinsam mit Rechtsanwalt Detmold Ende des Monats meiner Trauung mit Fräulein Regina Lipsius als Zeuge beizuwohnen.«

Otten hatte das Glas an die Lippen gehoben. Er hielt inne und stand auf. »Auf Ihrer beider Wohl,« sagte er, »auf glückliche Ehe.«

Er leerte den Römer und setzte sich wieder, gemessen und ruhig.

»Ich danke«, erwiderte Diesberg. »Es war an einem Herbstabend, Otten, da schlugen Sie mir die Partie vor.«

»Ich erinnere mich, doch Sie machten mir die Unmöglichkeit klar. Sie fühlten sich an eine andere gebunden.«

»Ich habe mich frei machen können.«

»Seien Sie ehrlich und gestehen Sie zu, daß Sie den größeren Vorteil wahrnahmen.«

»Erwägungen sprachen mit. Ich bin wieder Herr auf Bärwalde. Aber ich muß etwas hinzufügen. Vor mir hatte Graf Pakisch die Verlobung mit Annelene aufgehoben. Er hatte mich einfach an die Luft gesetzt. Und wie alles lag, wäre es doch sehr zweifelhaft gewesen, ob er mich je als Schwiegersohn willkommen geheißen hätte. Nun habe ich mich mit ihm und Annelene ausgesprochen. Da hat mir auch Annelene den Laufpaß gegeben.«

Otten lachte kurz und trocken. »Kann ich mir denken«, sagte er. »Sie wird mit Furioso zurückgetreten sein, ich sehe sie vor mir, den Wetterblitz in ihren Augen, sie mag auch mit den Füßen gestampft haben. Nicht ganz in der Ordnung, aber begreiflich. Das Wasser allein tut's nicht. Also, lieber Diesberg, es versteht sich von selbst, daß ich Ihre Bitte um meine Zeugenschaft nicht ablehne. Ich halte mich zur Verfügung. Doch dann bin ich wohl aus den Diensten von Fräulein Lipsius entlassen und kann mein Wanderpäckchen schnüren.«

»Ich sagte schon, daß die Heirat mich wieder in den Besitz von Bärwalde einsetzt. Das ist übrigens die einzige Vergünstigung, die ich angenommen habe. Indessen, der Besitzer wechselt, nicht das System. Ich möchte Sie herzlich bitten, bei mir zu bleiben, Otten. Natürlich unter anderen Verhältnissen und Bedingungen als bisher. Wir wollen nicht über den Titel streiten. Es ist gleichgültig, ob Sie sich Inspektor, Verwalter oder Oberbeamter nennen. Sie sollen als Freund bleiben. Wir wollen gemeinsam wirtschaften. Ich stelle Sie auf Tantieme – oder wie Sie es sonst wünschen. Ich gehe auf alles ein. Aber ich möchte Sie nicht entbehren. Ihre Hand, Otten!«

Er gab sie ihm nicht. Er streckte sich und sagte: »Ich kann nicht bleiben, Diesberg.«

»Warum nicht?«

»Weil ...« Er brach ab, trank und erhob sich. Er ging im Zimmer auf und ab, blieb stehen, schritt wieder weiter ... »Weil mir vieles nicht zusagt. Ich muß offen sein, ich habe mir diese Offenheit verdient. Es sagt mir vieles nicht zu. Ich wollte mit Ihnen zusammen arbeiten. Das geht aber nur auf dem Wege einer gewissen Gleichberechtigung. Die wird nunmehr, auch bei Ihrem besten Willen, kaum noch möglich sein. Sie sind plötzlich vielfacher Millionär geworden –«

»Bitte,« warf Diesberg ein, »nicht übertreiben. Was ich Ihnen jetzt sage, Otten – Ehrenwort, daß es buchstäblich wahr ist. Ich habe allerdings Bärwalde zurückgenommen und dazu die für den Weiterbetrieb von Lipsius ausgesetzte Barsumme. Aber ich habe ausdrücklich auf jede andre Beteiligung an dem Vermögen Reginas, auch in erblicher Beziehung, verzichtet. Jawohl, verzichtet!«

Otten hielt wieder den Fuß an. »Das wäre immerhin«, sagte er langsam, »ein sogenannter anständiger Zug. Entschuldigen Sie, Diesberg, es muß noch etwas aus mir heraus. Richtig, daß ich Ihnen mal gesagt habe: bewerben Sie sich doch um Fräulein Lipsius! Ich folgte da gewissen Andeutungen Detmolds – na also, gleichgültig! Aber in dem Augenblick, da ich hörte, daß Sie der Kleinen drüben in Freilehningen verpflichtet sind, war für mich die Sache erledigt. Nun haben Sie Bärwalde wieder und dafür Ihre Kleine sitzen lassen. Es kommt schließlich nicht darauf an, ob Sie mit schöner Geste auf ein paar Millionen Verzicht geleistet haben. Die Tatsache bleibt bestehen: Sie opferten das Mädel, das Sie lieb hat, weil die Hand der andern Ihnen einen Besitz bot. Hallo, Diesberg, ehe Sie auffahren und mir Ihr Glas an den Kopf werfen, lassen Sie mich weitersprechen! Ich bin kein feiner Moralist, verdammt nein, ich wurde zu viel in der Welt umhergeworfen, um nicht die Mangelhaftigkeit unsrer Moral, zumal der angewandten, zur Genüge zu kennen. Aber in Herzensdingen soll man sauber sein. Bitte, eine Frage: wen lieben Sie denn nun eigentlich, die abgesetzte Braut noch immer oder schon die gegenwärtige?«

Das Rotlicht des Kaminfeuers überstrahlte das Gesicht Diesbergs, sonst hätte man sehen können, wie blaß er geworden war.

»Mein Glas steht noch fest auf dem Tisch,« antwortete er, »und ich fahre auch nicht auf, ich bleibe ruhig sitzen. Freilich, ein andrer hätte mir die Frage nicht stellen dürfen. Zum Teufel, Otten, eine seltsame Frage! Ich will die Antwort umschreiben. Als ich mich heimlich mit Annelene verlobte, ließ ich mein Herz sprechen. Und als ich Regina das Jawort gab, sprach der Verstand. Nun brüllen Sie los und nennen Sie das unehrenhaft – ich fordre Sie doch nicht! Ich schieße mich nicht mit einem, der mich zum erstenmal Freundschaft gelehrt hat – wenn er auch auf dem Wege ist, mein Feind zu werden.«

»Das bin ich nicht«, sagte Otten. »Und grade weil ich mir meiner Freundschaft zu Ihnen bewußt bin, grade darum spreche ich so, wie ich will und muß. Diesberg, ich schaue über den Tag hinaus, ich sehe weiter, und das beunruhigt mich. Lassen wir mal auf sich beruhen, daß die Verführung für Sie groß gewesen sein mag. Ich will menschlich denken. Aber was nun? Annelene hat Ihnen den Laufpaß gegeben, sagen Sie. Ach, so ein Mädchenherz! Heute Herbststurm und morgen Sommertag. In so einem armen verliebten Mädchenherz wohnen Fluch und Jubel Türe an Türe. Glauben Sie, daß Ihre Treulosigkeit ihre Liebe zu Ihnen gelöscht hat? Ich glaube es nicht. Auch wenn Sie verheiratet sind, werden Sie Freilehningen nicht vermeiden können, die Güter grenzen aneinander, schon die Gestütsgeschäfte führen herüber und hinüber – Sie können keine neutrale Zone um Bärwalde ziehen – Sie werden Annelene zweifellos wiedersehen. Ich möchte nicht abwarten, was sich da anspinnen kann, des Mädels wegen nicht und nicht Ihrethalben – deshalb lassen Sie mich ruhig meiner Wege gehen. Es braucht ja nicht morgen oder übermorgen zu sein, ich helfe Ihnen die Zucht einrichten und bleibe bis über die Frühjahrsbestellung – und dann Packe ich ein ...«

Er nickte dazu freundschaftlich, warf sich wieder in den Sessel und roch behaglich an der Blume des Rüdesheimers.

Aber Diesberg neigte den Kopf. Eine frostige Traurigkeit finsterte über seine Züge. Was der da sagte, traf und tat weh. Er schaute wirklich »über den Tag hinaus« und ahnte dabei nicht einmal etwas von dem, was man schon als ferne Hoffnungen an ferne Möglichkeiten geknüpft hatte, an eine Scheidung, an eine Todesstunde. Diesberg schwieg und starrte in den Feuerzauber des Kamins. In der Tiefe seiner Seele meldete sich ein heftiger Widerstand. Aus dieser Tiefe rang sich ein unhörbarer melancholischer Schrei. Mit jäher Gewalt wurde der Wunsch in ihm wach, die Verlobung mit Regina rückgängig zu machen. Den Fluch der Lächerlichkeit konnte man mit Achselzucken beantworten – aber wieder wurde ein Herz zerstört ... Diesberg fühlte die Schlinge, in der er sich gefangen hatte, als liege sie wie ein Strick um seinen Hals. Sein Gesicht war blutleer, die Muskeln spielten nervös. Das ganz natürliche Anständigkeitsempfinden Ottens, das Größe und Würde hatte, ohne ins Pathetische zu verfallen, bedrückte ihn namenlos. Er hätte heulen können. Herrgott, verteidigen wollte er sich wenigstens! –

Er hob die rechte Hand, sie fuhr durch die Luft. »Unsinn«, sagte er heiser. »Ich bin kein Schuft. Ich habe auch überlegt, Otten. Ich habe so eine Art Selbstprüfung vorgenommen. Ein Perspektiv ins Herz gesteckt und hineingeschaut. Muß man blindlings jeder Liebe folgen? Ich sage nein. Das sage ich mit ruhigem Gewissen. Sie kennen Annelene nicht oder kaum. Ein reizendes Geschöpf, Rousseausche Ursprünglichkeit, Temperament, Sinn und Fiber, Ungezügeltes, Liebenswertes, Widerspruchvolles. In der Ehe mit ihr würden hundertundeine Nacht Glückseligkeit sein, und alle Tage würde Sturm durch das Haus fegen wie der Wind durch die ewig offenen Fenster in ihrem heimatlichen Schlosse. Wir sind uns im Blute zu gleich, Otten, wie soll ich mich ausdrücken, wir sind sinnverwandt, aber, nicht seelisch. Und ich bin nicht mehr wie früher. Der tolle Diesberg bin ich nicht mehr. Ich bin ruhiger geworden – heiliger Himmel, fast möchte ich sagen, müder! Von weit her kommt ein Anflug des Morbiden. Aus der Zeit des Springinsfeld. Der holte sich noch sein Bäckermädel, und sie kriegten ein halb Dutzend Kinder. Ist's damit genug getan? Otten, ich weiß nicht, ob ein Stundenglück ein Gegengewicht bildet zu der Leere von Tagen, Monaten, Jahren. Das überlegte ich auch – und sagte ich Ihnen, bei meiner Verlobung mit Regina ließ ich den Verstand sprechen, so war das das Resultat dieser Überlegung. Im übrigen: soll ich mich vor Ihnen noch entschuldigen? Nein. Aber ich möchte gern, daß Sie mich begreifen

Otten streifte ihn aus dem Stahl seiner Augen und sah einen Niedergangszug in Diesbergs Gesicht.

»Lieber Freund,« entgegnete er, »glauben Sie doch nicht, daß ich Sie nicht von Grund aus kenne. Ich soll Sie begreifen, rufen Sie mir zu – ja doch, ich begreife Sie, es ist ja so leicht bei einem Menschen wie Sie es sind! Wissen Sie, daß an Ihnen die Natur einen großen Aufwand von Gaben nutzlos vertan hat? Auch das zog mich zu Ihnen, das Gesamtbild, Ihre körperliche Kultur, Ihr geistiges Leben, Ihre ganze Vitalität, Ihre Herzensgüte, das Saftige und Verdrehte, die Aufzucht und die Dekadenz, alles, Sie sind gar nicht leichtsinnig im vulgären Sinne, Sie leben nur aus dem Stegreif, Sie improvisieren Ihr Dasein. Ja wahrhaftig, ich sehe im Abrollen Ihres Lebens nichts als plötzliche Einfälle, anmutige, gescheite, fast geniale und ganz verfehlte, aber nie eine einheitliche Linie. Und, entschuldigen Sie, auch das, was Sie mir da in bezug auf Ihre Stellung zu der Komteß Annelene als Produkt längerer Überlegung erklären, auch das halte ich nur für einen Augenblickseinfall, der sehr rasch von einem anderen überholt werden kann. Gewiß mögen Sie recht haben: das, was für Sie anziehend ist an dem Mädchen, und umgekehrt, auch umgekehrt, ist vielleicht nichts als eine gegenseitige physische Kraft. Aber sind Sie sicher, daß der Moment der Einsicht von Dauer sein wird?«

»Otten,« stöhnte Diesberg, es klang wahrhaftig wie ein Aufstöhnen, »ich bitte Sie nochmals, bleiben Sie bei mir! Bleiben Sie hier, ich brauche jemand, der mich vor dem Zerbröckeln und Zerfallen schützt! Einen, der mich zusammenrafft, der mich am Guten packt – ich brauche auch praktische Arbeit und einen frischen Organismus. Ich brauche einen Freund!«

Otten lachte wieder, gutmütig und zustimmend. »Komischer Kerl«, sagte er. »Ein Mensch, wie geschaffen, immer nur geradeaus zu gehen, und wählt nichts als Kurven und Umwege. Hören Sie zu, Diesberg. Ihre Verlobung mit Fräulein Lipsius ist eine gegebene Tatsache. Wie sich die Ehe entwickeln wird, weiß ich nicht. Ich hoffe gut. Dazu ist aber eine völlige Lösung Ihres Verhältnisses zu Annelene Notwendigkeit.«

»Sie hat vor mir ausgespuckt«, rief Diesberg. »Wahrhaftig, das tat sie!«

»Es sieht ihr ähnlich. Ein drastisches Zeichen ihrer Verachtung. Nein, Diesberg, nur eine kindische Ungezogenheit. Fahren Sie morgen zu ihr und geben Sie ihr einen Kuß und alles ist wieder beim alten. Die Lösung ist Ihre Sache, die Lösung, wie sie sein muß, die für immer! Wär' ich ein Prediger, so würde ich von der Moral des Christentums sprechen, aber es dünkt mich besser, ich appelliere an die Moral der reinen Vernunft, für die solche Lösung eine Selbstverständlichkeit ist. Eine ohne Hintergedanken, Diesberg, und ohne ein Zukunftshoffen. Eine absolute Trennung muß da sein – natürlich keine auf feindseliger Basis – ah bah, so etwas passiert tausendmal in der Welt, und das spuckende Fräulein wird bald wieder ein lachendes sein! Und wenn Heloise weiß, daß von Abälard nichts mehr zu hoffen ist, und wenn Abälard weiß, daß Heloise noch Chancen hat, glücklich zu werden ohne ihn – dann sehe ich gar nicht ein, daß ihr beide euch nicht bei einem unvermeidlichen Wiedersehen freundschaftlich die Hände drücken könntet. Ein Mädelchen um die Zwanzig vergißt leicht, wenn ihr von der anderen Seite das Vergessenwollen nicht absichtlich schwer gemacht wird. Und das also, Diesberg, das ist meiner längeren Rede kurzer Sinn: soll ich bei Ihnen bleiben, so fordere ich auf Treu und Glauben und auf Ehre und Gewissen von Ihnen, daß Sie nun, bei Beginn Ihrer Ehe, Annelene mit jenem Vergessenwollen entsagen, das für Sie wie für die arme Kleine das einzig, einzig Richtige ist!«

Ohne Besinnen erhob sich Diesberg, völlig beherrscht von der Wirkung des Augenblicks und seinem Gefühl, glücklich über die Zusage Ottens, ihn nicht verlassen zu wollen.

»Meine Hand darauf,« sagte er fest, »auf Treu und Glauben, auf Ehre und Gewissen, so soll es sein!«

Kräftig schlugen die Hände ineinander. »Nun laß uns Brüderschaft trinken«, rief Otten. »Lieber alter Junge, auf du und du!«

Er füllte die Gläser von neuem. Die Arme kreuzten sich, man machte die Nagelprobe und küßte sich auf die Wangen.

»Also, ich bleibe – das vorweg«, sagte Otten, als sie sich wieder gegenübersaßen. »Und jetzt erzähle. Wie kamst du auf die Idee, ihr einen Antrag zu machen? Es war wieder einmal ein plötzlicher Einfall, he, eine glückliche Improvisation?«

»Doch nicht. Sie hatte den Einfall.«

»Ah ... i du Donnerwetter ... das gefällt mir! Da muß sie dich sehr lieb haben.«

»Das gab sie mir zu erkennen.«

»Ja, was klönst du da denn noch! Detmold hat mir mal ihr Bild gezeigt. Allerhand Hochachtung. Man sagt, Liebe erwecke gewöhnlich Gegenliebe. Das scheint mir in diesem Falle kein Kunststück zu sein.«

Diesberg zerschlug mit dem Feuerhaken die glimmenden Holzstücke im Kamin.

»Ich habe dir nichts zu verhehlen«, antwortete er. » Dir nicht. Es liegt ein Schatten über ihrer Liebe. Klaus, es läßt sich schwer darüber sprechen. Wie soll ich dir's sagen? Es fällt ein Keim in die Erde und wächst und blüht – und plötzlich fängt er an zu kränkeln ... Sie hat das Herzleiden ihres Vaters – und das kann sich weiter vererben ...«

Otten begriff. »Lieber Gott ... So eine verfluchte Geschichte ... Armer Kerl.«

»Nein, Klaus, beklage mich nicht«, gab Diesberg hastig zurück. »In jenem Augenblick, da sie mir das zugestand ...« Er warf den Feuerhaken klirrend in die schmiedeeiserne Buchtung des Kaminvorsatzes ... »Wozu noch reden! Nein, Klaus, mich beklage nicht. Sie ist beklagenswert. Sie möchte noch ein Jahr glücklich sein ... blinder Lebenswille, Poesie der Sehnsucht, die Hoffnung auf Gegenseitigkeit ... neben den Eros stellten die Alten den Anteros ... Aber –«

Und wieder schwieg er. Da wurde Otten unwirsch, »Papperlapapp,« rief er, »was heißt das alles! Willst du dich von dem Gespenst einer auf Möglichkeiten fußenden Theorie ins Mauseloch jagen lassen! Mach' dich doch nicht verrückt, mein Junge. Aller Ehren wert, daß sie dir ihr Herzleiden nicht verschwiegen hat. Aber ob es nötig war ...«

Diesberg antwortete nicht. Eine Erinnerung quälte ihn.

»Was für eine Art Herzleiden hat sie?« fragte Otten.

»Ich weiß es nicht, Wohl einen organischen Fehler.«

»Einen unheilbaren?«

»Ich vermute es.«

»Erni, das Herz ist ein eigenes Ding. Das Symbol unsres Lebens, der Sitz alles Fühlens. Bilde dir ein, du wärst ihr Arzt, und an dir läge es, dies Herz wieder gesund zu machen. Bilde dir ein, du könntest das! Laß sie glücklich werden! Und nun bitte ich mir aus, daß du lustiger Bruder dich nicht in Schwermut vergräbst. Anstoßen! ...« Die Gläser klangen ... »Zu mit der Gefühlskiste! Jetzt wollen wir einmal über unsre Arbeit reden. Denn jetzt erst geht die Arbeit los!«–

*

Die Tage verrannen schnell. Diesberg war viel in Berlin. Die Trauung wurde auf dem Standesamt angemeldet. Anzeigen verschickte man nicht. Dieser und jener Freundin teilte Regina die bevorstehende Hochzeit mit und ließ als Motivierung für das Unerwartete durchblicken, es sei schon eine alte Liebe, aber der Vater habe nichts davon wissen wollen. Doch nun sei sie ja frei ... Der kleinen Gräfin Düren, die mit ihrem Komponisten in Dresden war, um ihm dort ein Konzert vorbereiten zu helfen, schrieb sie ein paar Zeilen. »Es ist meine Wahl,« hieß es in dem Briefchen, »ich habe es durchgesetzt, aber es war gar nicht so leicht ...« Die Gräfin telegraphierte zurück: »Herzliche Glückwünsche. Hurra das Selbstbestimmungsrecht!«

Es war noch mancherlei an praktischen Fragen zu erledigen. Man hatte einen doppelten Wohnsitz. Im Berliner Hause wurden die Zimmer des alten Geheimrats für Erni hergerichtet. Den Geist des hypochondrischen Mannes fürchtete er nicht, und die graphische Sammlung interessierte ihn. Sie war eine Zerstreuung für die Winterabende, an denen ihn Bärwalde nicht in Anspruch nahm. Auch in Bärwalde wurde viel umgeräumt und umgestellt. Der kleine Antiquitätenhändler Fröbel erschien eines Tages wieder auf der Bildfläche und fragte nach dem Mobiliar, das er bereits abgeschätzt hatte. Um ihn zu trösten, kaufte ihm Diesberg eine neue Einrichtung für das Schlafzimmer seiner Frau ab. Es war Chippendale-Geschmack und paßte zum übrigen. Die Bibliothek wurde in die Halle verlegt, die Schlafzimmer des Ehepaars trennte sein Ankleidekabinett. Der alte Fröbel fand das ganz in der Ordnung.

Natürlich flog die Nachricht von der Verlobung Diesbergs wie ein Wildfeuer durch den Kreis. Aber da kein Mensch eine Anzeige erhielt, so gratulierte auch niemand. Wer mit Simmens zusammenkam, stieß nur auf ein Achselzucken. Im Landwirtschaftlichen Verein wollte man Genaueres von Pakisch hören. Man umstürmte ihn. Aber der Wassergraf gab auch keine genügende Antwort. »Eine glänzende Partie,« sagte er bloß, »acht Millionen – da ist der Diesberg mal verständig gewesen ...« »Ich dachte immer, deine Annelene«, begann der dicke Brenckenhoff zu meckern, die ewige pechschwarze Zigarre im Mundwinkel. »I, kein Gedanke«, wehrte sich der Wassergraf. Im übrigen wollte man abwarten. Der Diesberg würde seine junge Frau ja wohl der Umgegend präsentieren. Wie man ihn schätzte, konnte nun in Bärwalde ein Leben in großem Stil losgehen. »Jedes Jahr eine Million,« sagte Edward Simmens, »macht acht Jahre Lustigkeit. Dann reitet er wieder für mich, wenn er nicht mürbe geworden ist oder verfettet ...« »Ein niederträchtiges Maulwerk, der Simmens,« flüsterte der Ritterschaftsrat von Protzen seinem Nachbar zu und schlenkerte mit den Armen, »ich kann den Kerl nicht ausstehen ...«

In Freilehningen war es wieder ruhiger geworden. Aber Aufregungen, du lieber Himmel, hatte es gehörig gegeben. Zuvörderst hatte der Wassergraf eine sogenannte väterliche Aussprache mit Annelene gehabt. Sie sollte abkühlend wirken und begann daher mit einem Donnerwetter. Pakisch tadelte das Benehmen seiner Tochter Diesberg gegenüber. Er sagte, zu spucken sei nur dem Lama im Zoologischen Garten gestattet, doch keiner jungen Gräfin, sie habe sich geradezu flegelhaft aufgeführt und auch taktisch verfehlt. Der Diesberg habe durchaus korrekt gehandelt. Ihm sei für zwei Jahre das Haus verboten worden, da habe er sich inzwischen eben anderweit umgesehen und sozusagen versorgt, das könne man ihm nicht verdenken – und, Potzkotz, was könne in den zwei Jahren nicht alles passieren, Annelene möge gefälligst vernünftig sein und sich durch ihre alberne Heftigkeit nicht alle Aussichten verscherzen! Aber Annelene wollte nicht vernünftig sein, sie schrie und tobte, sie sei kein Ersatzstück, sie danke für Erni und jeden anderen Mann, die Männer seien Lumpengesindel, sie werde überhaupt nicht heiraten, man solle sie in Frieden lassen. Dies letztere geschah denn auch, der Wassergraf kam schließlich zu der Ansicht, sie müsse sich äußerlich und innerlich austoben. Doch als die Nachricht von der Verlobung Diesbergs im Schlosse ruchbar wurde, ging es noch einmal los. Alle Schwestern wußten von der heimlichen Liebe Annelenes, und nun umringten sie die Verlassene und wollten ihr Schönes antun, hatten Tränen in den Augen und beklagten sie. Fräulein von Hübner, die gute dicke Glucke, plusterte sich an ihre Seite und küßte sie von rechts und links, Miß Fairholme steckte ihr eine Tafel Schokolade zu, und der kleine Pastor Knab drückte ihr warm die Hand und sagte: »Mein liebes Kind, die Welt ist schlecht, aber es gibt eine ewige Gerechtigkeit über den Wolken ...« Doch zu aller Verwunderung war Annelene wie umgewandelt. Sie lachte und antwortete: »Was wollt ihr denn eigentlich? Ich freue mich über Ernis gute Partie. Wir haben uns gern gehabt, aber doch unser Lebtag nicht heiraten wollen! Wir beide – na, wir hätten gut zueinander gepaßt!...« Nun wurde von Diesberg überhaupt nicht mehr gesprochen, und als Annefrede sich gelegentlich eine unschickliche Bemerkung erlaubte, gab Annelene ihr eine Backpfeife und verbat sich das. Übrigens sah sie auch gar nicht wie eine arme verlassene Braut aus. Die Rosen auf ihren Bäckchen blühten weiter, und sie fiel nicht ab. –

Inzwischen hatte Diesberg alles Nötige für die Hochzeit erledigt. Aus formalen Gründen wurde die Übertragung Bärwaldes an ihn nicht als ein Geschenk betrachtet, sondern auf dem Wege des Rückkaufs geordnet und die halbe Million Meliorisierungsbeitrag einfach auf seine Bank überwiesen. Demgemäß schlug Rechtsanwalt Detmold vor, auf einen besonderen Ehevertrag zu verzichten und das Güterrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs eintreten zu lassen. Das wollte Diesberg indessen nicht und setzte auch durch, daß Reginas gesamtes Vermögen ihr in dem Vertrag als Vorbehaltsgut zugeschrieben wurde. Dagegen sträubte sich nun wieder Regina, die Erni wenigstens die Nutznießung zuzuschieben wünschte. Aber Diesberg blieb fest. Diese ganze Anordnung empfand er wie eine Entlastung. Bärwalde war wieder sein, und das sollte im Verein mit dem Gestüt auch die Kosten des ehelichen Aufwands tragen.

Regina empfand sehr wohl, daß diesen Willensäußerungen ihres Bräutigams das Gefühl zugrunde lag, sich seine Unabhängigkeit ihr gegenüber zu bewahren. Sie begriff auch sein nicht kühles, doch zurückhaltendes Wesen. Er war kein feuriger Liebhaber, ach nein, er war immer nur der vornehme Kavalier, der sie mit einem Kuß auf die Stirn begrüßte, der bei jedem Besuch eine Blume in der Hand trug, ein Mann von liebenswürdigstem Sichgeben, der das System des Gesellschaftlichen in allen Feinheiten beherrschte. Doch auch diese Feinfühligkeit übertrieb er nicht, er konnte in seinem Geplauder von gewinnender Herzlichkeit sein, er fand zuweilen ein zärtlich anklingendes Wort, er mühte sich sichtlich, das rechte Ausmaß zwischen Reserviertheit und Vertraulichkeit einzuhalten.

Aber dabei verlor er an seiner innersten Natur. Das spürte er, und es zerwühlte ihn. Er dachte daran, wie er als beglaubigter Verlobter Annelenes gewesen sein könnte – da hätte man in jeder dunklen Ecke sich umarmt, man wäre durch den Park getollt und hätte sich im Grase gewälzt und unter einem Hagelschauer süßer Küsse der Natur einen Teil ihres Tributs abgetragen. Das Gemachte in seinem Verkehr mit Regina belästigte ihn, doch er zwang sich dazu, weil er nicht anders sein konnte. Seine Stimmungen wechselten, seine Gefühle verhuschten und zerflatterten. Oft hatte er Mitleid mit ihr, und dann strich eine Hand von Samt über seine Seele, und er erinnerte sich der verklärenden »Idee« seines Handels und Handelns, ihr noch ein Lebensjahr des Glücks zu spenden. Und er wütete gegen sich selbst, daß er dies schöne Mädchen nicht lieben konnte, daß er sogar zuweilen mit einem aus dem Dunkel unbekannter Tiefe springenden Gefühl der Abneigung zu kämpfen hatte. Woher kam das? Alles Forschen wäre vergeblich gewesen, und auch kein anderer hätte ihm sagen können, daß diese seltsam sprunghafte Antipathie lediglich auf der Wirkung unbewußt bleibender Nebenvorstellungen beruhte: auf einem vergrabenen Schamempfinden und einer zum Vergessen verurteilten Erinnerung.

Otten hatte ihm gesagt, daß ein Hochzeitsgeschenk üblich sei, und da wußte er nun gar nicht, was er machen sollte. Dem reichen Mädchen ein modernes Schmuckstück zu kaufen, widerstrebte ihm, aber aus der Hinterlassenschaft seiner Großmutter stammte noch ein schönes goldenes, mit Edelsteinen ausgelegtes Diadem, das er aufarbeiten ließ und ihr brachte. Sie fand es wundervoll und war begeistert darüber, daß er ihr ein Stück des alten Familienschmuckes anvertraute, und bedauerte nur, daß sie es nicht zur Hochzeitstoilette anlegen konnte, die sich auf ein schlichtes Kostüm beschränken mußte, da es sich ja nur um die gesetzliche Kopulation handelte.

Die freilich war nüchtern und trocken wie gewöhnlich, in einem langweiligen Zimmer und vor einem Standesbeamten, der sich erkältet zu haben schien, denn er sprach völlig heiser und nieste fast ununterbrochen. Erst beim Frühstück im Hotel Adlon taute man wieder auf, da wirkte auch der Humor der beiden Zeugen mit. Otten als der Ältere hielt eine hübsche kleine Rede, und dann griff der Rechtsanwalt in die Brusttasche und zeigte, wie er im Nebenberufe Apoll und den Musen huldigte. Stimmung schlug ein, in den Augen Reginas brannte ein Siegesfeuer, ihr kleiner Finger streifte zuweilen ganz heimlich die Hand Diesbergs. Sie war glücklich, auch froh darüber, daß dieses Hochzeitsfest sich nicht in einen weiten Rahmen spannte, daß man hier wie in einem stillen Winkel saß und keinen beobachtenden, forschenden, mißgünstig lächelnden Blicken ausgesetzt war. Diesberg sah abgespannt aus, war anfänglich auch still, kam aber in Laune, wurde lebhaft und gegen seine Gewohnheit schließlich ein wenig laut. Er trank rasch, er »kanterte« sich wieder in Champagner auf, er peitschte die Nerven, als wolle er so ein verprügeltes Schicksal zwingen.

Mit dem Sechsuhr-Zuge fuhr man nach Dresden.


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