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XV

Acht Tage später stieg Diesberg vor dem Hause des Union-Klubs in ein Auto. Er war in die technische Kommission des Klubs gewählt worden, die Sitzung hatte lange gewährt, dann hatte man gemeinsam gefrühstückt, nun war er müde und abgespannt.

Er überraschte sich zuweilen in letzter Zeit bei einem Gefühl von Ermattung. Es war vielleicht mehr seelischer Natur als körperlich. Freilich, auch körperlich mutete er sich Erstaunliches zu. Er ritt noch selbst, aber er fühlte doch, daß sein Gewicht dies bald nicht mehr zulassen würde. Es wurde Zeit, Abschied vom Sattel des Herrenreiters zu nehmen. Das fiel ihm schwer, aber er tröstete sich. Sein Stall bevölkerte sich und konnte bald den Rennplatz beherrschen, Cullon war ein unbezahlbarer Trainer, die stahlblaue Jacke mit den gelbweiß gestreiften Ärmeln war schon wie ein Symbol. Fortuna ritt mit.

Drüben in Bärwalde ging inzwischen alles am Schnürchen. Otten allerdings raste von einer Provinz in die andere und suchte ein eigenes Gut und hatte noch immer nicht das gefunden, was er haben wollte. Er war wählerisch. Aber nun ging es auch ohne ihn. Es war Verlaß aus den Oberinspektor, genau so wie auf Cullon, der seine große Nase überall hatte, die Maschine lief schon allein. Und das war notwendig, denn die Rennzeit fesselte Diesberg viel an Berlin. Man zog ihn zu Vertrauensposten heran, man wollte ihn auch in Fragen sportlicher Gesetzgebung hören, man begann sein Urteil und seine Anregungen zu schätzen, und nun hatte man ihm sogar angetragen, den Doyen der deutschen Sportwelt nach England zu begleiten, um den Import frischen Blutes im Interesse der Züchtung in neue Wege zu leiten.

Aber das ging nicht ... Als Diesberg im Auto durch die sommerlich stickigen Straßen raste, überlegte er noch einmal das Anerbieten. Es war zweifellos eine große Ehrung – aber es ging nicht. Um Reginas willen war das unmöglich. Seine letzte Depesche nach Clarens war unbeantwortet geblieben, und da schlich sich doch so etwas Sorgendes in sein Herz. Ein sorgendes Mitgefühl – wie man es für einen lieben kranken Freund empfindet. Hallo, was war da unten passiert? Nun ja, sie war schon seit längerer Zeit sparsamer in ihren Mitteilungen geworden – genau so wie er. Wie kam das eigentlich? Es kam von selbst, sagte er sich ausweichend. Er durchforschte sich nur noch ungern. Er stieß immer wieder auf das Hindernis seiner Rücksichtslosigkeit, aber er war nicht mehr aufrichtig gegen sich, er suchte nach Ausflüchten. Mein Gott, wenn man nur ein freierer Herr wäre! Im Mai wollte er sie besuchen – da begann gerade die Rennzeit, die Verhandlungen über die Totalisatorbesteuerung setzten ein, das Gestüt hielt ihn fest, ein zweites Vaterpferd war angekommen, Cullon ließ ihn nicht fort, in Bärwalde mußte neues Personal eingeführt werden. Jede Stunde jedes Tages war besetzt. Es war im Grunde genommen recht gut, daß Regina noch nicht hier war, er hätte sich ihr doch nicht mit voller Hingebung widmen können. Sie war ja auch wieder gesund und schien sich sehr wohl in Clarens zu fühlen. Aber nun – ja natürlich, England war eine gewaltige Lockung – vielleicht war es am besten, man fuhr endlich einmal herunter nach Clarens, setzte sich mit Regina auseinander und rutschte dann auf ein paar Wochen über den Kanal. Nun war er so lange von ihr getrennt gewesen, daß es auf ein paar Wochen mehr auch nicht ankam, wahrhaftig nicht. Und sie war ja eine vernünftige Frau ...

Diesberg hob den Kopf, »Halt, Kutscher!« rief er dem Fahrer zu. Da bachstelzte Annelene über das Trottoir, in weißem Sommerkleidchen und niedlichen weißen Schuhen über weißen Strümpfen, ganz weiß wie ein gebadetes Lämmchen, und blieb vor einem Schauladen stehen. Diesberg sprang aus dem Wagen und trat hinter sie.

»Hübsche Blusen,« sagte er, »besonders die giftgrüne.«

Sie schrak leicht zusammen, fuhr herum und lachte. »Erni,« rief sie, »Gott, wie lange hab' ich dich nicht gesehen! Seit der Hochzeit nicht.«

»Was machst du denn in Berlin?« fragte er.

»Ich bin im Grunewald zu Besuch, bei Geraldingens, und wollte jetzt ein paar Einkäufe besorgen.«

»Was keine Eile hat. Komm mit – trink eine Tasse Kaffee bei mir.«

»Wo ist das bei dir?«

»Ich wohne im Hause meines verstorbenen Schwiegervaters, also im Hause meiner Frau. Keine Junggesellenbude. Ein Drachenpaar behütet mich, zahme Drachen, eine alte Dienerin und ein noch älterer Diener. Du hast nichts zu fürchten.«

»Jö,« rief sie, »glaubst du, ich graule mich? ...« Er hob sie in den Wagen.

Er war glücklich, daß er im Lipsiusschen Hause sein Berliner Absteigequartier hatte. David und die Biene sorgten väterlich und mütterlich für ihn, er hatte mit seinem freundlichen Wesen rasch ihre Herzen gewonnen. Sie fragten nur zu viel nach seiner Frau, und oft wußte die alte Biene besser über Regina Bescheid als er selbst. Wenn sie ihm erzählte, daß sie wieder einmal ein Briefchen aus Clarens bekommen und daß die Frau Baronin geschrieben hätte, eine Zeitlang sei sie recht elend gewesen, nun ginge es ja aber wieder, Gott sei Dank, dann mußte er immer ein bißchen Komödie spielen und so tun, als seien das leider keine Neuigkeiten für ihn. Und dann jagte auf einmal ein Strudel von Selbstvorwürfen durch sein Herz und verrauschte ebenso schnell, wie er gekommen war. Anfänglich hatte er gerade in diesem Hause viel an Regina gedacht, auch an ihren grimmigen Vater; es quirlten hier so viele Erinnerungen durcheinander wie Staub der Vergangenheit, aber allgemach kam die Gewohnheit mit ihrer glättenden Hand, und wenn er einmal an einem freien Abend im ehemaligen Arbeitszimmer des Geheimrats saß und in den graphischen Sammlungen blätterte, störte ihn kein Gedanke mehr an den Vorbesitzer.

Beim Öffnen der Haustür schlug ein elektrisches Läutewerk an. Der alte Diener erschien auf der Treppe.

»Ich bringe Kaffeebesuch mit, David,« rief Diesberg heiter, »meine Cousine Komteß Pakisch – Frau Biene soll uns einen Mokka brauen und zwei Bohnen mehr nehmen als sonst und für Kuchen sorgen!«

»Befehlen, Herr Baron«, antwortete David. Kein neugieriger Blick traf dabei Annelene. Irregulären Besuch brachte der Herr Baron nicht in das Haus – dazu war er ein viel zu vornehmer Mann.

Aber Annelene war neugierig. Sie schwirrte zunächst durch die Wohnung und bestaunte alles, besonders das »Zimmer des alten Herrn«, das ihr wie eine Illustration von Chodowiecki erschien. Dann brachte die Biene den Kaffee und freundete in aller Schnelligkeit mit dem gnädigen Komteßfräulein sich an, und hierauf trank Annelene vier Tassen leer und aß eine Unmenge Kuchen und sagte endlich unter gelindem Aufstöhnen:

»Nun brauch' ich nicht mehr zum Kondex, jetzt bin ich satt und habe zwei Mark gespart. Adieu, Erni, hab' schönen Dank.«

»Bitte recht sehr,« antwortete er, »so haben wir nicht gewettet. Erst futterst du dich nudeldick und dann willst du heidi davon. Kein Gedanke, mein Kind. Jetzt bleibst du noch ein bissel und unterhältst mich.«

»Wovon?«

»Von deinen Zukunftsabsichten.«

»Ich habe gar keine. Weder Absichten noch Zukunft. Ach Gott, Erni, ich bin wirklich ein armes Luderchen! Seit wir zwei uns auseinandergeliebt haben, fühle ich mich von aller Welt verlassen. Ringsumher heiraten die Menschen, aber ich werde wohl sitzenbleiben. Dein Freund Otten ist mir auch der rechte. Was will er denn nun eigentlich? Er kann doch einmal Ernst machen!«

»Möchtest du es gern?«

Annelene saß auf dem alten Biedermeiersofa mit den gehäkelten Schondeckchen, hatte die Ellenbogen auf den Tisch und die Fäuste gegen die Wangen gestemmt. Ihre blauen Kinderaugen schauten Diesberg fragend an.

»Soll ich die Wahrheit sagen, Erni?«

»Sag' sie nur unbesorgt!«

Jetzt rückte Annelene sich zurecht, zupfte an ihrem Kleide und blies erst einen Luftstrom durch die Lippen, ehe sie antwortete:

»Ja, das möchte ich. Es ist ein ewiges Gezadder. Der Mann hat mich gern und will mich haben. Das merke ich. Warum sagt er es nicht? Warum geht er nicht zu Vatern? Du bist doch sein Intimus und mußt wissen, warum nicht.«

»Ich weiß gar nichts, Änneli. Natürlich – daß er verliebt in dich ist und seine Absichten hat, das habe ich längst gemerkt. Aber er spricht sich auch mir gegenüber nicht aus. Er ist zurückhaltender geworden und viel auf Reisen. Vielleicht will er mit der offiziellen Erklärung warten, bis er sich einen Besitz gekauft hat.«

»Ist er jetzt wieder in Bärwalde?«

»Nein – aber er wollte heute oder morgen zurückkehren. Möglich, daß er etwas gefunden hat, und dann wird er ja sprechen. Liebst du ihn denn?«

Annelene sprang auf. »Das hab' ich erwartet, daß die Frage kommen würde«, rief sie. »Wenn man die Mieze und die Lotti gefragt hätte, ob sie die Männer liebten, die damals um sie anhielten, möchte wissen, wie ihre Antwort gewesen wäre! Wahrscheinlich ja, denn sie wollten heiraten. Sie wollten anständige Männer heiraten und in ein eigenes Heim kommen. Und so antworte ich dir denn auch: Jawohl – ich nehme Otten auf der Stelle. Ich weiß, was ich von ihm zu halten habe, und bin der festen Überzeugung, daß wir eine sehr glückliche Ehe führen werden.«

Sie war vor Diesberg stehengeblieben. »Glaubst du das nicht?« fragte sie harmlos.

Er nahm ihre Hände und zog sie näher an sich. Ein Dunkel ging durch sein Augenlicht, eine verschwimmende Weichheit über seine Züge.

»Ja, kleine Änneli, das glaube auch ich«, sagte er. »Ich glaube es, weil du nicht für die Tragik des Lebens geschaffen bist – weil du zu den glücklichen Menschen gehörst, die bei jedem Sturm schon wieder die Sonne sehen. Komm, gib mir noch einen Kuß, gib mir den letzten Kuß, gib mir den Abschiedskuß!«

Sie setzte sich ohne weiteres auf seine Knie, und er küßte sie leidenschaftlich. Doch da färbten ihre runden Bäckchen sich dunkelrot, und sie warf den Kopf zurück.

»Nicht so, Erni,« bat sie in schwachem Ton, »sei vernünftig ...« Und plötzlich rief sie mit veränderter Stimme, halb erschreckt, halb belustigt: »O Gott, Erni, was sehe ich – du hast ja schon einen silbernen Schimmer am Schläfenhaar! Du fängst an, grau zu werden!«

»Ja ja, so ist es«, sagte er gedankenlos. »Perdü die Jugend, das Alter kommt.«

»Das Alter – red' keinen Unsinn! Du rackerst dich bloß zu viel ab. Das behauptet auch Otten. Wenn nur deine Frau erst da wäre. Sag', wann kommt sie denn nun?«

»Ich weiß nicht, Änneli.«

Sie saß noch auf seinem Schoß, dehnte den Oberkörper zurück und schaute ihm in die Augen.

»Was heißt das, Erni?« fragte sie. »Es ist doch nicht mehr wie damals. Ich denke noch manchmal an die verrückte Unterredung mit Vater und mir – wo ich mich so borstig benahm. Aber nun hat sich ja alles geändert. Und Otten sagt, du seist so verliebt wie ein Primaner von der Hochzeitsreise zurückgekommen und hättest von deiner schönen Frau geschwärmt. Ist sie immer noch leidend?«

»Nein, sie ist wohl wieder gesund.«

Annelene rundete ihren Arm um seinen Hals. »Da versteh' ich nicht, warum du sie dir nicht holst«, sagte sie.

»Ich auch nicht«, anwortete er. »Ja, liebes Kind, ich verstehe mich selbst nicht mehr. Otten hat recht – als ich zurückkam, Gott, wie lange ist das schon her, da sah ich Regina im Lichte einer Verklärung. Da war all das vorangegangene Häßliche verflogen – ich hatte eine geliebte Frau, und alle Türen in Bärwalde sollten bekränzt werden zum Empfange der neuen Herrin ... Und nun, Annelene, gib acht, wie sich etwas Rätselhaftes vollzog. Du kennst die Leuchtbilder auf weißer Leinewand, die Farbenspiele, die erst in hellstem Glänze erscheinen und dann allmählich verdämmern und blasser und blasser werden. So ein Transparent war auch meine Erinnerung. Aller Glanz zerfloß – und ich wurde irre an mir. Weißt du, daß ich zuweilen mit inneren Wutanfällen kämpfte? Die thessalischen Weiber waren berüchtigt durch ihre Liebestränke. Mir war, als spürte auch ich die Wirkung eines Liebestranks, gegen die meine Natur sich wehrte. Du kennst die Vorgeschichte meiner Ehe. Ich wurde geheiratet. Ich sträubte mich gegen die Liebe meiner Frau – und dann erlag ich ihr willenlos. Aber die Wirkung des Liebestranks hielt nicht an. Du machst große Augen, Annelene, Wunderaugen wie bei einem Märchen der Großmutter – ach Gott, du kannst ja nicht in meiner Seele lesen!«

Ja, sie machte große Augen, die fernblaue Unbegreiflichkeiten zu deuten versuchten. Aber auch das Herz wurde ihr schwer, denn aus dem, was Diesberg sprach, klang ein geheimnisvoller Ton tiefstinnerer Schmerzbewegtheit.

»Lieb' Häseken,« sagte sie, nach langer Zeit wieder einmal zu dem alten Schmeichelnamen zurückgreifend, »gewiß verstehe ich nicht alles, was in dir vorgeht – aber sieh, ich habe doch ein gesundes Empfinden, du hast selbst mich oft genug ein Naturkind genannt – und da halte ich mich denn auch an die natürlichen Vorgänge und an die Geschehnisse, wie sie sich abspielten. Gut also, du wurdest geheiratet, sie nahm dich, weil sie dich liebte – das ist eigentlich etwas Herrliches, und war ich damals so böse auf dich, so geschah es doch nur, weil ich annahm, daß du dich kaufen ließest.«

»War's denn nicht so!« rief Diesberg, »und siehst du, auch das zehrt immer noch in mir nach!«

»Ja, Erni, das könnt' ich begreiflich finden, denn du bist ein anständiger Mensch, aber nun sagst du ja, daß du diese Frau lieben gelernt hast, und stemmst und sträubst dich nur aus Lust an der Quälerei gegen die Dauer deiner Liebe! Willst du denn unwahrhaftig gegen dich sein? Ich muß wieder mit Otten sprechen, er ist meine Quelle. Wärst du ohne die Hilfe deiner Frau nicht ruiniert gewesen? Hat sie dir nicht eine neue Zukunft gezimmert? Sei gerecht, Erni, und sei auch dankbar.«

»Das bin ich, Kleine, das seh' ich alles ein – sie hat tatsächlich auch, unbewußt freilich, einen neuen Menschen aus mir geschaffen. Denn wenn ich ein rastloses Arbeitstier geworden bin, wirklich und wahrhaftig, ich wurde es in dem Bestreben, dem Gefühl meiner Dankbarkeit entgegenzuarbeiten! Änneli, wenn man mir Herz und Seele sezieren wollte, kein Anatom würde aus dem Wirrwarr klug werden. Und wenn ich auch alles zugebe, was du mir aus deinem gesunden Empfinden heraus vorhältst – ich komme doch nicht weiter – ich komme über den schwersten Konflikt nicht fort, daß meine Frau meine Hoffnung auf dich zerstörte!«

Annelene zog ihren Arm vom Halse Diesbergs zurück und stand auf. Aber er hielt sie noch fest, er ließ ihre Hände nicht los.

»Erschrick nicht,« sagte er bittend, ist es so furchtbar für dich, daß ich dich noch immer lieb haben muß, Änneli?«

Nun entzog sie ihm auch ihre Hände. Sie hatte jäh die Frische ihrer Farben verloren, ihr rundes Gesichtchen war blaß, kein lustiges Wimpelspiel durchwehte mehr ihre Augen, die Backfischzüge verhärteten sich zu starrem Ernst.

»Sprich nicht so«, sagte sie. Es waren fast die gleichen Worte wie vorhin bei der Abwehr seiner leidenschaftlichen Küsse. Nur klang der Ton jetzt scharf und gratig. »Du lebst in falschen Einbildungen, Erni. Wir wären nie zusammengekommen – es brach ja alles unter dir, und glaubst du, mein Vater hätte zugegeben, dir nach Argentinien zu folgen? Deine letzte Hoffnung war die zweijährige Wartezeit – da kanntest du den ›Liebestrank‹ deiner Frau noch nicht! Erni, sei nicht wahnsinnig. Du könntest dich heute scheiden lassen – bei Gott im Himmel, ich würde nicht daran denken, dein Weib zu werden! Da würde ich ewig die arme Frau vor mir sehen, der du ihr inneres Glück nahmst um deines äußeren willen – ist's denn nicht so? – Es ist ja auch nicht wahr, daß du mich immer noch so schrecklich liebst, so schrecklich – mach' mir das doch nicht weis. Du suchst in dem Gestöber deiner Phantasie nach Ausflüchten, dich vor dir selbst zu entschuldigen – aber dabei laß mich aus dem Spiel!«

»Lösch' aus!« rief Diesberg mit starker Stimme und schnellte in die Höhe, »lösch' aus deinem Gedächtnis, was ich vorhin gesagt habe – dann sind wir quitt!«

»Dann sind wir quitt«, wiederholte Annelene. »Erni, du weißt nicht, was du sprichst! Ich bitte dich, setz' dich wieder – sei nicht so aufgeregt – ich möchte nicht fortgehen ohne eine letzte freundschaftliche Verständigung. Was wir uns einmal waren, liegt in der Vergangenheit – das können wir uns nie mehr sein. Verdenkst du mir, daß ich nach einem neuen Halt für mein Leben suche? Gewiß nicht. Und willst du so töricht sein, den Halt fallen zu lassen, den du doch tatsächlich gefunden hast? Sag' mir,« fragte sie plötzlich, »was hat deine Frau dir Böses getan?«

Er hatte sich wieder in den Sessel geworfen. Seine Schultern zuckten.

»Nichts«, antwortete er.

»Seid ihr denn schon ganz auseinander?« forschte Annelene weiter.

»Nein ... Unsinn – ich – ich habe dir ja vorhin erzählt, wie sich so alles allmählich gestaltet hat! Unsre Korrespondenz schlief langsam ein – schlief ein – nicht völlig, aber sie wurde kühler – und immer kürzer ... Im Mai sollte ich Regina holen, das war der bestimmte Zeitpunkt – da trat eine neue Erkrankung hinzu –«

»Und du bist nicht zu ihr gefahren?« fiel Annelene erregt ein.

Der Kopf Diesbergs sank tiefer zwischen die Schultern. »Es kam allerlei dazwischen,« sagte er müde und grämlich, »Änneli, frag' nicht so viel!«

Nun trumpfte sie auf. »Doch,« rief sie, »jetzt will ich sprechen – und fragen! Ich habe noch eine ganze Menge Fragen an dich zu richten. Warum bist du so herzlos zu deiner Frau?«

»Ich bin nicht herzlos – ich bin nur wund.«

»Durch ihre Schuld? Nein, Erni. Du hattest dein Schicksal in der eigenen Hand. Es zwang dich keiner, die Frau zu heiraten, die dir ihr Herz antrug. Du tatest es, und was du mir da in poetischer Wendung von dem Liebestrank vorfabeltest, den sie dir reichte, beweist mir nur, daß deine Hochzeitsreise immerhin kein Dornenweg war. Du mußt entschuldigen, daß ich nicht imstande bin, mich so ganz in dem Irrgarten deines Empfindungslebens zurechtzufinden. Wenn Rückerinnerungen an dein Verhalten dich peinigen, so weißt du doch, daß du selbst dir diese Wunden geschlagen hast, und daß linde und sanfte Hände da waren, dir Heilung zu bringen. Und wenn du versuchst, noch immer mich in deine Konfliktstimmung hineinzuziehen, so sage ich dir: ich werfe dir deine Liebe in das Gesicht – ich will sie nicht, weil ich mich ihrer schäme

Es war ein wildes Sprudeln der Worte in der Schütterung eines Gefühls, das sie auf die Seite der Frau stellte und in Gegensatz zu dem Manne brachte. Aber sie bereute ihre Heftigkeit sofort, als sie sah, daß Diesberg wie unter Peitschenschlägen zuckte und mit weißem Gesicht förmlich in sich zusammenkroch.

»Lieber Erni, lieber Erni,« fuhr sie weich fort, »ich kann mir nicht helfen, die ungezogene Göhre bricht noch manchmal durch, die ihre Worte nicht auf die Wagschale legt. Lösch' aus, riefst du mir vorhin zu – ja, wir wollen alles auslöschen, was wir einmal von unserm Glück erhofften, einem kindischen Glück in den Wolken – wir wollen uns wieder auf die Erde stellen! Du mußt das Verhältnis zu deiner Frau regeln, das ist unbedingt nötig. Wann schriebt ihr euch zum letztenmal?«

Diesberg richtete sich auf. Ihm war, als sei er vom Pferde gestürzt und suche jetzt wieder seine Glieder zusammen. Es regte sich in seinem Reiterhirn, er mußte von neuem in den Sattel kommen. Und er hatte dabei das unbestimmte Gefühl, als stehe das forsche kleine Mädel neben ihm und helfe ihm. Gehorsam antwortete er auf ihre Frage:

»Das letztemal – ja, das ist schon Wochen her. Regina hat lange nichts von sich hören lassen. Ich telegraphierte neulich – vor einigen Tagen – bin aber ohne Antwort geblieben.«

»Fahr zu ihr. Fahr zu ihr, Erni, – bald – morgen schon. Es ist deine Pflicht. Sie kann noch immer krank sein, sonst hätte sie dir geantwortet. Herrgott, eine Frau, die man geliebt hat, kann man doch nicht so brutal im Stiche lassen! Sagtest du nicht, du hättest sie schon vor Monaten besuchen wollen? Ich wiederhole dir: warum bist du so herzlos?«

»Ich wiederhole dir, daß ich nicht herzlos bin. Aber was du von dem Irrgarten meiner Gefühle sprachst, ist richtig. Mir fehlt der Ariadnefaden und die leitende Hand – ich glaube, mir fehlt ihre Gegenwart.«

»Suche sie dir, Erni ...« Annelene stand neben ihm und legte wieder ihren Arm um seine Schulter. Sie war jetzt ganz sanft und von liebevoller Zärtlichkeit. Ihre Hand glitt kosend über seine Wangen ... »Willst du mir versprechen, zu ihr zu fahren – ja?«

Er nickte. »Ich verspreche es. Ich hatte auch schon die Absicht. Der Union-Klub will mich nach England schicken. Das geht jetzt nicht. Erst muß ich zu meiner Frau.«

»Erst mußt du zu deiner Frau ...« Sie lachte. Sie atmete froh ... »Erni, jetzt trolle ich mich vergnügt. Ich habe dein Wort. Und dein Wort gilt.«

»Es gilt. Willst du fort?«

»Ich muß. Ich habe mich schon vertrödelt ...« Sie setzte den Hut vor dem Spiegel auf, nahm ihren Schirm und reichte ihm die Hand ... »Adieu, Erni. Ich freu' mich, deine Frau kennenzulernen.«

Er erhob sich. Sein Auge bettelte sie an. »Änneli,« sagte der große Mensch mit der Stimme eines schmachtenden Troubadours, »früher trug ich dich immer über den Rasenplatz hinter dem Schlosse von Freilehningen. Ich möchte dich gern noch einmal auf die Arme nehmen –«

»Du bist nicht gescheit,« entgegnete sie heiter und wandte das Gesicht ab, um ihre Weichheit zu verbergen, »jetzt hab' ich's eilig!«

»Da sag' wenigstens zum letzten Male ›Lieb' Häseken‹ zu mir«, bat er.

»Lieb' Häseken«, rief sie, drückte fest seine Hand, riß sich los und stürmte davon.

Vor der Entreetür blieb sie aufatmend stehen. Gott sei Dank, das war überstanden! Sie lehnte sich gegen die Wand. Sie fühlte sich sehr erschöpft. Das war eine gefährliche Stunde gewesen. Wurde man aus diesem Menschen klug? Sie nickte. O ja, o ja – sie verstand doch manches in dem verwickelten Mechanismus seiner Seele! Sie horchte auf. Die elektrische Glocke der Haustür schlug an. David mochte öffnen. Sie vernahm seine Stimme:

»Ja, gnädiger Herr, der Herr Baron sind oben ...« und unmittelbar darauf eine andere wohlbekannte Stimme:

»Bleiben Sie man da, David – ich kenne schon den Weg! –«

Herrgott, das war Klaus Otten! Warum erschrak sie? Ein zitterndes Lächeln tupfte Grübchen in ihre Wangen. Albern – sie hatte sich doch nichts vorzuwerfen! Mit lärmendem Herzen stieg sie die gewundene Treppe hinab und sah auf dem Podest Otten vor sich

Er fuhr förmlich zurück. »Komteß!« rief er, »Annelene!... « Im Stahlgrau seiner Augen ringelte sich ein häßliches Mißtrauen. Vom Hals aufwärts stieg eine brennende Röte in sein Gesicht. Wenn der Jähzorn ihn packte, war er wie die saftstrotzenden Jungen im chilenischen Tramp, die mit den Händen die Wildkatze würgen konnten.

»Grüß' Gott, Herr von Otten«, sagte Annelene harmlos.

»Wo kommen Sie her?« stieß er rauh durch die Kehle.

»Von Erni – von wem denn sonst? Er wohnt ja doch hier.«

»Ein Stelldichein mit dem alten Herzliebsten, hö? Habt ihr euch wieder mal geschnäbelt und geknutscht?«

Seine Stimme klang, als zerknalle ein Sprengkörper am Feuer. Plötzlich packte er sie an den Armen.

»Komm mit hinauf«, rief er drohend und zog sie die Stufen empor.

Sie wehrte sich wütend. »Sind Sie verrückt, Herr von Otten!« rief sie zurück. »Was fällt Ihnen ein! Bin ich Ihnen Rechenschaft schuldig für das, was ich tue?«

»Sie und auch er. Ja, mein Kind, er auch. Er hat mir sein Wort verpfändet. Will hören, was er zu antworten hat!«

Die Klingel schrillte. Die alte Biene öffnete. Erstaunen malte sich in den Falten ihres Gesichts. Da lächelte Annelene freundlich und sagte:

»Ich komme noch einmal zurück – ich habe einen guten Freund auf der Treppe getroffen, dem will ich das Geleit geben.«

Die Biene wußte, wer Otten war, und öffnete die Türen – und nun standen die beiden Diesberg gegenüber. Das war diesmal im Arbeitszimmer des alten Geheimrats. Diesberg hatte sich soeben auf den Diwan gestreckt; er fuhr in die Höhe, er las sofort in der Miene des Mädchens und las in den verfinsterten Zügen des Freundes, es mußte irgend etwas Unerklärliches geschehen sein.

»Hör' zu,« begann Otten, »eh' ich deine Hand nehme –«

Doch Annelene fiel ein: »Bitte, Herr von Otten, zunächst hat die Dame das Wort. Erni, ich stieß im Treppenflur auf diesen wilden Indianer. Seine Augen glühten mich an, seine Hände packten mich, daß ich blaue Flecke bekommen habe, seine Stimme war wie ein Erdbeben in Valparaiso. Er bildet sich ein, ich hätte mir mit dir ein heimliches Rendezvous gegeben zum Austausch unsrer Liebe. Kläre ihn auf und dann setze ihn vor die Tür.«

Als Otten Annelene so sprechen hörte, flogen Mißtrauen und Eifersucht wie Spreu durch die Luft. Er verbeugte sich gesittet.

»Ich mag heftig gewesen sein,« versetzte er, »ich bitte um Verzeihung. Ich wurde überrascht. Ich traf Annelene –«

»Für Sie bin ich immer noch die gnädigste Komteß!« rief Annelene.

»Nein,« schrie er, »du bist meine Annelene! In vier Wochen heiraten wir! Ich habe ein Gut in Ostpreußen, zweitausend Morgen, siebenhundert Wald, dreihundert Wiesen, der Rest prima Acker!«

»Vielleicht setzt ihr euch erst mal ein bißchen«, sagte Diesberg und wies auf die Sessel. »Otten, du kannst mich fordern, ich erkläre dir trotzdem, du bist ein Esel Bileams. Ich habe Annelene in der Leipziger Straße aufgelesen, und sie hat bei mir Kaffee getrunken. Ich berufe mich auf das Zeugnis der Biene.«

»Bloß Kaffee getrunken«, stotterte Otten.

»Auch Kuchen gegessen,« setzte Diesberg hinzu, »und nicht zu knapp.«

Es gab einen dumpfen Knall. Otten war vor Annelene in die Knie gefallen.

»Du kannst mir getrost eine 'runterhauen, Annelene«, sagte er im Jammerton seiner kläglichen Erkenntnis. »Ich war nicht nur ein Esel, ich war ein Büffeltier oder, wenn du willst, ein Dromedar, du brauchst nur in der Zoologie zu wählen. Aber so bin ich nicht immer. Annelene, ich schwöre dir –«

»Stehen Sie gefälligst auf,« fiel sie abermals ein, »und reden Sie in anständigem Tone zu mir. Ich entsinne mich nicht, daß wir miteinander Brüderschaft getrunken hätten, und wenn Sie sonst noch Wünsche haben – mein Vater wohnt in Freilehningen.«

Nun war er wieder auf den Beinen. »Herrgott, mit dem ist ja alles abgemacht«, rief er. »Mädchen meines Herzens, der Herr Vater gräfliche Gnaden haben ja schon vor acht Wochen – nee, es ist länger her – höchstihre Einwilligung gegeben! Ich sollte bloß noch warten, bis ich die Klitsche hätte – sehen wollte er sie auch, selber besichtigen – kann er haben, dieser Kauf ist ein Riesenturkel – Annelene, ein reizendes Schlößchen, hinten Rokoko und vorne Renaissance – oder umgekehrt –, das Mobiliar habe ich mit übernommen, das verringert deine Ausstattung und wird Vatern wieder freuen ... die Wirtschaftsgebäude gewölbt, alle gewölbt, tiptop, Wasserleitung, elektrische Kraft, sogar eine geschlossene Reitbahn mit Spiegelscheiben und ein Teehäuschen im Park, chinesischer Geschmack, das Dach wie ein Mandarinenhut mit kleinen Bimmelglöckchen. Du wirst entzückt sein, sage ich dir!«

Ihre Keckheit war jetzt wachsender Verlegenheit gewichen. Was sollte sie diesem Goliath antworten, der sie du nannte und in vier Wochen heiraten wollte und so tat, als sei schon alles in bester Ordnung zwischen ihnen beiden? – Aber da griff Diesberg ein.

»Klaus,« sagte er, »benimm dich, wie es sich gehört. Hast du wirklich schon mit Onkel Malte verhandelt?«

Otten nickte heftig. »Ja natürlich – Ehrenwort – es lag mir ja oft auf der Zunge, mich dir anzuvertrauen, aber ich sollte noch stille sein, und da habe ich denn das Mau – den Mund gehalten! Alles abgemacht mit meinem Herrn Schwiegervater, auch die Mitgiftfrage, und zu guter Letzt hat er mir sogar einen Kuß mit Hindernissen gegeben.«

»Da bleibt dir also nur noch übrig,« fuhr Diesberg fort, »Annelene zu fragen, ob sie dich haben will. Das scheint mir das Wichtigste.«

»Selbstverständlich«, gab Otten zu. Er suchte nach Annelene, die sich in dem großen Zimmer zwischen den Mappenschränken der altdeutschen Meister und der Callot-Schule versteckt hatte, weil sie nicht mehr wußte, was sie tun und sagen und lassen sollte. Er zog sie hervor; sie war blutrot und auf das äußerste verwirrt, wollte eigentlich schämig die Augen niederschlagen, was ihr aber auch nicht gelang, und ließ sich wie ein Lämmchen zur Schlachtbank führen ... »Annelene,« fuhr Otten fort, ihre Hände in seinen Fäusten, »zu einer ganz feinen Liebeserklärung reicht's nicht. Umworben habe ich dich ja lange genug und immer aufgepaßt, ob ich so ein gewisses Flämmchen in deinen Augen sehen würde – zur Anfachung meiner Courage. Und manchmal schien's mir auch so, als ob ... und nun will ich kein langes Getratsche machen und frage dich einfach! darf ich deinem Vater telephonieren, daß die Geschichte all right zwischen uns ist?«

Die regelrechte Antwort wartete er übrigens gar nicht ab. Er nahm sie und hob sie zu sich empor und drückte sie an sich, daß ihr fast der Atem verging, doch dabei küßte er sie sanft und ritterlich. Sie aber hatte in diesem Augenblick die süße Sicherheit eines verborgenen Gedankens: daß in der breiten Brust des Mannes ein treues und gutes Herz ganz allein für sie schlug. Da umschlangen ihn ihre Arme.

Diesberg saß auf dem Diwan. Es gab kein Wehren mehr gegen eine unmännliche Schwäche. Die Tränen stürzten über seine Wangen. »Werdet glücklich, Kinder«, rief er mit erstickter Stimme.

Auch Annelene tropften die Augen, und der lange Otten zwinkerte mit den Lidern.

»Zu mit dir Wasserleitung«, sagte er. »Erni, mein alter Junge, ein bißchen Rührung ist ja ganz schön, und sogar mir ist was zwischen die Wimpern gekommen, aber ich bin nun doch der Meinung, daß wir über dies unvorhergesehene Gefälle auf den Felsengrund der harten Tatsächlichkeit zurückkehren. Da wäre denn zunächst die Verständigung des Vaters dieses Mädchens zu erzielen, und weil wir doch mal gerade bei dir sind und ich mich in so liebenswürdiger Weise einführte, möchte ich dich bitten, dein Telephon benützen zu dürfen, um unsre Verlobungsanzeige spruchreif nach Freilehningen zu befördern.«

Diesberg wischte sich lachend über die nassen Backen. »Tut bitte, als ob ihr zu Hause wärt«, erwiderte er. »Ich werde das Telephon nach dem Wohnzimmer umstellen – da seid ihr auch ungestört, falls ihr euch zwischen Anruf und Abruf noch etwas Wichtiges mitzuteilen habt.«

»Häseken, du bist zu lieb«, sagte Annelene. »Mann aus Wildwest, darf ich ihm einen Kuß geben?«

»Das versteht sich,« erwiderte Otten großmütig, »nun stört's mich durchaus nicht mehr, und ganz besonders nicht, wenn ich dabei bin.«

Annelene näherte sich Diesberg. Er wandte ihr die linke Wange zu, auf die gab sie ihm einen zarten Kuß der Dankbarkeit. Dann hing sie sich an den Arm Ottens, kniff ihn, sagte: » Go on« und ging mit ihm in das Wohnzimmer. –

Diesberg blieb zurück. Er erhob sich und lachte wieder – wie vorhin, als er sich die Tränen von den Wangen gewischt hatte: ein kurzes trocknes Lachen. War es denn nicht zum Lachen? Ja gewiß – es konnte ein Hohngelächter sein oder ein Lachen der Ironie, ein bitteres Lachen über sich selbst und die eigene Dummheit.

Nebenan jubelten die beiden ihr junges Glück in den Fernsprecher – und hier stand er in der einsamen Größe seiner törichten Verlassenheit, wie ein Philosoph von Abdera, der im Haus seines Lebens die Fenster einzubauen vergessen hat und im luftleeren Raum gegen das Dunkel kämpft.

Er hatte ein Gefühl großen Elends, das aus dem Seelischen kam und sich in das Körperliche übertrug. Er spürte einen widerlichen Geschmack auf der Zunge und eine zusammenpressende Trockenheit in der Kehle. Er empfand die Nutzlosigkeit seines Lebens und in einem jähen Ärger über sich selbst mehr als je den Mangel eines zielfesten Willens. Er dachte wieder an das, was ihm Otten dermaleinst gesagt hatte: von der Improvisation seiner Einfälle und dem Episodischen seiner Daseinsführung.

Er ließ sich am Schreibtisch nieder und griff zur Feder. Er wollte das Telegramm an Regina aufsetzen und ihr seine Ankunft melden. Das hatte er Annelene zugesagt, und es entsprach auch seiner Absicht. Aber er legte die Feder wieder hin und stützte den heißen Kopf in die Hände. Die Gedanken schwirrten. Wie oft hatte er sich nicht schon vorgenommen, zu ihr zu reisen, und nie war der Entschluß zur Ausführung gekommen! Warum nicht? Vielleicht lag sein ewiges Schwanken nur an der Macht eines persönlichen Faktors jenseits des Kreises der Beweise. Vielleicht hatte er immer nur den Gefühlen des Augenblicks nachgegeben, die ihm im stolzen Bewußtsein seines persönlichen Wesens als die rechten und maßgebenden erschienen. Vielleicht war die glückbringende Nacht in Clarens nur deshalb im Dämmer mählichen Vergessens versunken, weil ein nachträglicher Widerstand gekommen war gegen eine Besitznahme, die kein inneres Wunder, sondern an eine bloße Zufälligkeit geknüpft war.

Auf dem Schreibtische des Geheimrats stand noch ein Mädchenbild Reginas. Diesberg zog es näher an sich heran und betrachtete es. Die Aufnahme konnte kurz vor ihrer Hochzeit erfolgt sein. Er vertiefte sich in die Einzelheiten ihrer Schönheit, und Wärme stieg in sein Herz. Es war wieder nur ein Gefühl des Augenblicks, aber es durchdrang ihn doch lebhafter in der Erschütterung seines Seins. Die Sprache ihrer Augen begann zu reden, eine Sprache voll Liebe und Klugheit, die auch eine widerstreitende Welt nicht scheute. Es waren schöne Augen, die vor Dunklem und Feindlichem nicht erschraken. Lag ein Vorwurf in ihnen? Stellten sie nicht die Frage Annelenes: warum bist du so herzlos zu deiner Frau?

Er schob das Bild wieder auf seinen Platz. Er war nicht herzlos, hatte er Annelene geantwortet. Nein, das war er nicht. Ihm fehlte nur eine überlegenere Macht über die Zerflatterung seines Innern, in dem Erinnerungen an seinen Leichtsinn, an seinen Ehehandel, an seine Leidenschaft für das Mädelchen, immer wieder sich aufbäumende Scham, verletzter Hochmut und ererbter Trotz ewig im Hader lagen. Seine ganze Arbeitswut war ein unbewußtes Vergessenwollen, und dabei kam er nie zu einer vollen Aufbietung seines Wesens und zu einer umbildenden Kraft seines Ganzen. Er fühlte selbst, daß er haltlos war, und daß es in aller seiner Arbeit und trotz sichtbarer Erfolge nichts gab, was ihn trug und festigte, nichts, was seinem Streben Ziel und seinem Leben dauernden Wert verlieh. Einmal – ja, da hatte er so etwas wie einen neuen Aufschwung in einem neuen Glücksdrang verspürt – damals, als er, schwingenden Rhythmus im Herzen, von der Hochzeitsreise heimgekehrt war. Und wieder hatte das Hineinspielen rückgreifender Reflexion in seine Stimmung ihn beeinflußt und gleichgültig gemacht und rücksichtslos werden lassen – im Grunde genommen gegen Willen und Absicht, aus schwankenden Eindrücken heraus, die nur von dem starken Affekt seiner Neigung zu Aunelene wirksamer unterstützt wurden.

Das war nun vorbei – und bei Gott, vielleicht hatte diese Leidenschaft auch nur in seiner Einbildung gelebt, war nicht allein sinnliche Wahrnehmung, sondern mit ihr zu einer phantastischen Verknüpfung zusammengesetzter Vorstellungen geworden, die ganz unlogisch auf den Gedanken zurückführten, daß Regina ihm die Geliebte geraubt hatte. Aber das war ja nun vorbei – nebenan herzte das Brautpaar sich zwischen den Telephonrufen – und dann kam die Kleine obenhin nach Ostpreußen und wurde eine tüchtige Hausfrau und schenkte ihrem Klaus Jungen und Mädel. Der kindische Tränensturz vorhin hatte ihr noch gehört – nun konnte man weiterdenken.

Das Telegramm an Regina! Das naiv-gesunde Empfinden Annelenes hatte das Richtige getroffen. Er ertappte sich auch auf einem vagen Gefühl der Notwendigkeit des Wiedergutmachens, auf einer Mitleidsmischung, in die sich eine leise Sehnsucht stahl – Sehnsucht nach einer Befestigung des Selbstlebens, nach seelischer Ruhe und damit auch nach ihrer Verständigkeit und ihrer Fürsorge für sein Menschliches ... Sein Auge fiel noch einmal auf ihr Bild – und wieder kehrte die Wärme in sein Herz zurück, ihm war, als winke sie ihm wie eine selbsterkorene freundliche Macht.

Er überlegte: sollte er sich einfach ansagen und morgen losfahren? – Sie hatte sein letztes Telegramm noch nicht beantwortet, vielleicht war sie gar nicht mehr in Clarens – früher, Diesberg entsann sich – ja, früher hatte sie ihm einmal geschrieben, sie erwarte die Gräfin Düren und habe Lust zu einem Ausfluge nach Italien mit ihr, falls ihre Gesundheit dies zulasse. Man mußte sicher gehen.

Die Feder glitt über das Papier: »Noch immer ohne Nachricht von Dir, bin sehr beunruhigt. Erbitte dringendes Telegramm nach Berliner Wohnung, ob ich Dich im Laufe der Woche abholen kann. Herzlichst Erni.«

Er setzte die Adresse darüber und erhob sich. Aus dem Nebenzimmer stürmten Otten und Annelene mit strahlenden Gesichtern.

»Erni,« rief Annelene, »das ist neu in der Geschichte der Brautwerbungen – Vater hat uns durch den Fernsprecher seinen Segen übermittelt! Und dann hat er die Frede, die Treue und die Lisi an das Telephon gerufen, und die haben uns ihre Glückwünsche zugegrölt, ebenso Fräulein von Hübner und Miß Fairholme, letztere schluchzend, die ist immer gerührt. Aber nun etwas Wichtigeres. Ich habe auch mit Geraldingens im Grunewald gesprochen. Morgen muß ich nach Freilehningen zurück, heute wollen wir ausschweifend sein. Klaus gibt um acht Uhr einen ganz intimen Verlobungsschmaus bei Hiller, dazu nehme ich meine Freundin Fifi Geraldingen mit. Sonst ist kein Fremder dabei. Aber selbstverständlich wollten wir auch dich um deine geehrte Anwesenheit bitten.«

»Als Elefant«, setzte Otten hinzu und verneigte sich.

»Nun ja,« erwiderte Diesberg, »dazu eigne ich mich ja auch vortrefflich. Da ihr jetzt mit euren Ferngesprächen fertig seid, erlaubt ihr wohl, daß ich ein Eiltelegramm aufgebe. Annelene, es ist das an meine Frau.«

Sie nahm seine Hand und schüttelte sie kräftig. »Das ist lieb und brav von dir«, sagte sie. »Paß' auf, nun wird noch alles gut ...«


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