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XI

Diesberg stieg mit Regina in Clarens in einem Hotel in der Nähe des Bahnhofs ab, und da schönes, fast schon frühlingsmäßiges Wetter war, so besichtigten beide gleich am Nachmittag nach ihrer Ankunft das Sanatorium Beausite. Die Lage unten am See war wundervoll: in einem großen Garten mit Eichen, Platanen, Granaten und Zwergpalmen erhoben sich, zerstreut zwischen Rasenplätzen und Laubengängen, vier hübsche kleine Chalets und dahinter ein etwas größeres Gebäude. Das blaue Wasser des Sees leuchtete durch die Anlagen, die Bergreihe der Savoyer Alpen als Hintergrund vereinte sich zu einem abschließenden Panorama von stolzer Pracht.

Das junge Paar war vor der offenen Gartenpforte stehengeblieben.

»Rechts Byron, links Rousseau,« sagte Diesberg, »die Erinnerungen schweben durch die Luft. Weißt du übrigens, Regina: auch Rousseau war herzleidend und hat hier seine Heilung gefunden. Ein günstiges Omen. Wollen wir nun den Doktor Wiesinger einmal aufsuchen?«

Sie nickte gleichmütig. Man ging durch den Garten, an einem Tennisplatz vorüber, den ein Gitterwerk von Feigen umzäunte, und wußte nicht recht, wohin man sich zu wenden hatte, bis ein Gärtner ihnen Bescheid gab. Der Herr Doktor sei im Haupthause.

Dies Haupthaus war ein langgestreckter Bau mit dem gemeinsamen Speisesaal und den sogenannten Konversationszimmern. Oben lagen die Ordinationsräume. In den Einzelchalets wurden die Gäste untergebracht, und zwar Damen und Herren gesondert. Alles strahlte im Schmuck blendender Sauberkeit. Ein Odem köstlicher Ruhe ging durch das Gebäude.

Diesberg gab einem Diener seine Karte und wurde in ein Vorzimmer geführt.

»Ich habe einen guten Eindruck«, sagte er und trat an das Fenster. »Da drüben der weiße Gipfel kann die Dent du Midi sein ...« Er sprach zerstreut und von gleichgültigen Dingen. Er wollte weich sein, aber was er sprach, klang kantig.

Doktor Wiesinger trat ein, ein Mann vielleicht Mitte Dreißig, Spannung in der Erscheinung, von einem herben Reiz in dem klaren, ausdrucksvollen Gesicht. Seine hellen, tiefblickenden Augen erinnerten Diesberg an die Augen Ottens.

Er verneigte sich weltmännisch. »Soeben habe ich einen Brief von der Gräfin Düren erhalten,« begann er, »sie hat Sie angemeldet; darf ich Sie willkommen heißen. Gnädigste Frau, wenn es Ihnen paßt, können wir gleich zu der Untersuchung schreiten. Das wird vielleicht eine halbe Stunde dauern. Wollen Sie warten, Herr Baron? Sie finden unten auch ein Rauch- und ein Lesezimmer mit den neuesten Zeitungen ...«

Diesberg entschied sich für das Lesezimmer. Er ließ sich in einem der Ledersessel nieder und nahm ein Journal zur Hand. Aber der Blick irrte tanzend durch die gedruckten Zeilen und blieb nicht haften. Sein Herz war in Unruhe, er hatte ein merkwürdiges Sehnsuchtsgefühl nach der Heimat und nach der Arbeit – nach körperlicher Ermüdung.

Es war zweifellos: er litt. Das Leben kam ihm verbaut vor, er hatte seine Anpassungsfähigkeit verloren, in überhastetem Gedankengalopp kreuzten sich ewige Widersprüche. Wenn er mit Regina allein war, empfand er oft ein herzliches Mitgefühl. Es gab auch Augenblicke, da das Aquarellbild ihrer Schönheit einen magnetischen Reiz auf ihn ausübte. Und dann wurde er furchtsam, und diese verfluchte Furchtsamkeit weckte wieder einen jähen Ärger in ihm und einen Widerstand, der sich zu plötzlicher unerklärlicher Abneigung steigerte. In solchen Momenten spürte er ein Zucken in seinen Fingerspitzen, die bereit zu sein schienen, die Frau zurückzustoßen. Aus tiefsten Tiefen der ganzen Ungleichartung seines Wesens stiegen die unbewußten Nebenvorstellungen auf, ein wirres Durcheinanderströmen von Empfindungen, Schamgefühl über eine erhandelte Liebe, auch die Angst vor einer Nachkommenschaft mit dem ererbten Herzleiden, Erinnerungen an den gräßlichen alten Lipsius und an das liebe Mädel, das er vergessen sollte und mußte. Es waren das seelische Erscheinungen, die gewissermaßen die vielfach gebrochenen Farben seiner Innenentwicklung in einem Prisma vereinigten, und die schließlich ihre einfachste psychologische Erklärung in dem rückfließenden Ideengang fanden, daß seine Ehe ein dreifaches Unrecht war: gegen die Frau, gegen das Mädchen und gegen sich selbst.

Er erinnerte sich, daß Otten ihm gelegentlich gesagt hatte, er sei gar nicht leichtsinnig im gewöhnlichsten Sinne des Begriffs, er sei mehr ein »Improvisator des Lebens«, sozusagen ein Stegreifdichter des Daseins, einer, der einen raschen Einfall an den andern reihte, ohne auf den haltgebenden Verbindungsfaden zu achten. Wie das bei Diesberg häufiger vorkam: er hatte damals über diese Äußerung hinweggehört, und dann war sie ihm wieder eingefallen und hatte ihn beschäftigt, und er hatte eine gewisse Richtigkeit zugeben müssen. Er hatte in der Tat immer nur in Episoden gelebt, es war nie zu einer kräftigen Zusammenfassung unter den Gesetzen des Gegenstandes gekommen – und fiel eine der Maschen aus dem lockeren Gewebe, so lag die Gefahr einer Auflösung des Ganzen vor ...

Die Tür ging, der Diener trat ein, der Diesberg vorhin die Karte abgenommen hatte, und meldete, daß der Herr Doktor bitten lasse.

In dem großen, hellen und luftigen Sprechzimmer des Arztes saßen Regina und Wiesinger sich plaudernd gegenüber.

»Ich habe mich bereits mit der gnädigsten Gattin ausgesprochen«, sagte Wiesinger, sich erhebend, »und will Ihnen, Herr Baron, nur kurz wiederholen, was ich als Resultat meiner Untersuchung betrachten möchte. Ich bin allerdings kein Spezialist für Herzleiden,« fuhr er mit flüchtigem Lächeln fort, »ich bin überhaupt kein sogenannter Spezialist, verstehe aber genug von der Anatomie, um mit absoluter Sicherheit erklären zu können, daß ein organischer Herzfehler nicht vorliegt. Der Bau des Herzens ist durchaus normal. Es ist möglich, daß vielleicht infolge einer Influenza sich einmal ein leichter Entzündungsherd gebildet haben kann, der diesen und jenen Kollegen getäuscht haben mag – jedenfalls ist jetzt nichts mehr davon zu spüren. Aber der Nervenapparat ist nicht in Ordnung. Die gnädige Frau leidet an einer starken Herzneurose, einer Teilerscheinung allgemeiner Neurasthenie und Hysterie, die quälend werden kann, doch nicht gefährlich ist. Dafür gibt es eine ganze Anzahl meist sehr einfacher und harmloser Heilmittel, auch psychotherapeutischer Natur – vor allem ist eine durchgreifende Änderung der bisherigen Lebensweise nötig, eine Entfernung aus den gewohnten Verhältnissen, sozusagen ein Bruch mit dem, was gestern war. Wenn Sie die gnädige Frau ein Vierteljahr in meiner Behandlung belassen wollen, kann ich für ihre völlige Wiederherstellung jede Gewähr übernehmen.«

Diesberg verbeugte sich. »Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar für Ihre Offenheit, Herr Doktor,« entgegnete er, »Sie haben mich damit von einer schweren Last befreit. Wie Sie gehört haben werden, sind wir erst seit kurzem verheiratet. Eine Trennung von meiner Frau wird mir naturgemäß nicht leicht. Aber selbstverständlich füge ich mich der Notwendigkeit – – wenn auch du, Regina, dazu bereit bist.«

Sie fuhr wie aus Sinnen und Grübeln auf. Blaßgrau mischte sich in den Teerosenton ihrer Wangen.

»Ja, Erni,« sagte sie, »ich bin dazu bereit – und zwar selbstverständlich wie du. Drei Monate sind eine lange Zeit, aber die Hoffnung wird sie beflügeln.«

Diesberg rechnete nach. »Februar, März, April – Anfang Mai hole ich dich ab.«

»Ja, Erni,« sagte sie wieder, »ich bleibe, bis du mich holst.«

Doktor Wiesinger gab in seinem leichten Unterhaltungston, der zu seiner sonstigen Art wie eine flüchtige Maskierung wirkte, noch einige Erklärungen zu seinem Sanatorium. Die gnädige Frau brauche keine Langeweile zu fürchten. Es handle sich um keine geschlossene Anstalt, die Gäste hätten vollkommene Bewegungsfreiheit, auch für Unterhaltung werde gesorgt. Keine Medizinalquälerei, nur geeignete Hydrotherapie, Massage, Elektrisation, Diät. Aber allerdings ständige ärztliche Beaufsichtigung – die nicht zu fürchten sei. Behagliche Zimmer im Damenhaus, beste Verpflegung, gute Bedienung, an den Abenden gesellige Zusammenkünfte, auch Konzerte und sonstige Abwechslung – – »wenn Sie von der Behandlung absehen,« schloß Wiesinger, »die keine Plage ist, sondern nur eine Nervenauffrischung, leben Sie hier wie in den Gasthäusern nebenan ...«

»Der Mann gefällt mir«, sagte Diesberg, als er mit Regina nach seinem Hotel zurückging. »Ich weiß nicht, wie es kommt, daß er mich an Otten erinnert. Er hat die Stahlfarbe seiner Augen, den grundsuchenden Blick und, ich kann mir nicht helfen, in seinem famosen Gesicht den Hang zum Abenteuer. Das sind Äußerlichkeiten, aber auch die ruhige Art seiner Erklärung sprach mich an. Ich habe die feste Überzeugung, daß er recht hat und daß dein Amerikaner ein Esel ist.«

»Und wenn das nun wirklich so ist,« antwortete sie im Weiterschreiten, mit so ruhiger Stimme, als handle es sich um etwas Gleichgültiges, »wenn meinem Leben noch nicht so bald ein Ziel gesetzt werden sollte – wenn ich wahrhaftig noch einmal ganz gesund werde – was dann, Erni?«

Er blieb einen Augenblick stehen, unwillkürlich überrascht, wie festgehalten, doch sie ging abermals weiter, und er mußte an ihrer Seite bleiben.

»Was dann?« wiederholte er. »Dann werden wir sofort nach deiner Rückkehr ein großes Ballfest in Bärwalde geben, und ich werde zum erstenmal mit dir tanzen.«

»Gut,« sagte sie, »und dann werden wir in aller Freundschaft die Scheidung einleiten.«

Er nahm ihre linke Hand und preßte sie so heftig, daß sie beinahe einen Schmerzensruf ausgestoßen hätte.

»Regina, was heißt das?« rief er. »Soll das eine Drohung sein?«

»Aber nein – wie käme ich zu einer Drohung? – Ich bitte dich, Erni, sprich nicht so laut. Du bist ja auch kein Freund von dramatischen Szenen.«

»Immerhin – ein so ernsthaftes Thema eignet sich nicht recht zu einer Unterhaltung auf der Promenade.«

»Die Straße zwingt uns zur Zügelung. Das ist's, was ich will. Wir haben noch fünf Minuten bis zu unserm Hotel. Sie genügen für die Entscheidung.«

»Welche Entscheidung?«

»Als wir uns verlobten, trafen wir gewisse Abmachungen. Ich sagte dir – dem Sinne nach – in einem Jahr könntest du wieder frei sein. Selbst wenn ich dann noch leben sollte.«

»Das Jahr ist noch nicht um, Regina«, erwiderte er, ein leises Zittern in seiner Stimme. »Auch mache ich dich darauf aufmerksam, daß du so sprachst. Ich habe keine Bedingungen gestellt – ach ja, doch eine – die einer gewissen Rücksichtnahme –«

»Ich weiß,« fiel sie ein, »und ich glaube, ich nahm sie. Erni, ich sagte dir vorhin schon, ich bleibe hier, bis du mich zurückholst.«

»Im Mai. Alle Türen in Bärwalde sollen bekränzt werden.«

Die Sonne am Himmel legte sich auch auf ihr Gesicht. »Ich danke dir und warte auf dich ...« Sie standen vor dem kleinen Gärtchen ihres Hotels. Vorsichtig schaute Regina sich um. Die Straße war menschenleer. Nur in der Ferne klomm ein junges Pärchen hangan. Da zog sie rasch die Hand Diesbergs an ihre Lippen ... »Und nun kein Wort mehr darüber«, fuhr sie fort. »Morgen siedle ich um. Übermorgen fährst du zurück und gehst an deine Arbeit. Und im Mai ...«

Sie sprach nicht weiter und schritt rasch voran, durch das Vorgärtchen nach dem Hotel. –

*

Am nächsten Tage ging der Umzug vor sich. Regina war noch blaßgesichtig, hielt aber ihre Nerven fest. Manches mußte überlegt und erwogen werden. Sie gab ihrem Mann einen Zettel für Frau Biene mit, auf dem sie notiert hatte, was ihr noch an Wäsche und Kleidung und sonstigem Unentbehrlichen für die nächsten Monate nachgeschickt werden sollte. Sie mußte jetzt an praktische Fragen denken, und das war gut. Diesberg brachte sie nach Beausite. Wiesinger mit seiner Hausdame empfing sie und führte sie nach dem Chalet, wo sie wohnen sollte. Es war ein Salon und ein Schlafzimmer mit anliegendem Bad im Parterregeschoß, alles geräumig, behaglich und sehr sauber. Im Obergeschoß wohnte noch eine ältere französische Gräfin, das Sanatorium war augenblicklich wenig besucht, übrigens nahm Wiesinger auch immer nur eine beschränkte Anzahl an Gästen auf. Ein freundliches Hausmädchen in der hübschen Tracht der Frauen des Kantons Waadt stellte sich zur Verfügung. Aber Regina packte ihre Koffer selbst aus und räumte Wäsche und Toiletten in Kommoden und Schränke, und Diesberg ging ihr dabei geschäftig zur Hand.

»Ich habe kein Bild von dir«, sagte sie, ihren Schreibtisch ordnend. »Schickst du mir eins?«

»Ja, gern. Ich muß mich freilich erst photographieren lassen. Das habe ich seit zehn Jahren vermieden. Aber ich tue es für dich ...« Er war vor einem kleinen Plakat an der Wand stehengeblieben, das die gedruckte Hausordnung enthielt ... »Wie im Kadettenkorps«, meinte er. »Punkt zehn wird das Gartentor geschlossen. Wenn du dann noch bummeln willst, mußt du durch das Fenster kriechen. Das geht, denn das Fenster liegt niedrig, und das Weinspalier draußen erleichtert die Kletterkunst. Bloß über den Gartenzaun kommst du nicht. Eine närrische Bude – und diese keusche Trennung der Geschlechter. Fehlt bloß noch der Wachengel mit dem flammenden Schwert ...«

Er plauderte unermüdlich, scherzte und lachte, mit einem billigen Versuch, sie durch erzwungenen Humor über die Bitterkeit der Abschiedsstunde leichter hinwegzuführen. Das zweite Frühstück um ein Uhr nahm man schon im Hause. Man speiste gemeinsam im großen Eßsaal, doch an kleinen Tischen. Gegen zwanzig Damen und Herren waren zugegen, verschiedensten Stammes, Deutsche, Franzosen, ein sehr alter Engländer mit dem Gesicht eines greisen Clowns, ein paar Russinnen, auch ein indischer Maharadscha in europäischer Tracht, der aber stets einen braunen Diener im heimischen Landeskostüm mit einem ungeheueren Turban auf dem Kopf hinter sich hatte. Alle Anwesenden gehörten zweifellos zu den besten Gesellschaftsklassen, Doktor Wiesinger stellte die neuen Hausgäste vor: »Baron und Baronin von Diesberg« – man verbeugte sich und neigte die Köpfe, dann nahm man Platz.

Wiesinger führte Diesberg und Regina an ein Tischchen am Fenster, »Ich lasse Ihnen heute noch das sogenannte Menü servieren, gnädige Frau,« sagte er, »ich will erst abwarten, ob ich Sie auf besondere Diät setzen muß. Das eilt nicht. Auch in der Auswahl des Weins beschränke ich Sie vorläufig nicht ...«

Er empfahl sich wieder. Er saß allein mit seiner Hausdame (die kurzweg Madame genannt wurde, wie im royalistischen Frankreich die Gemahlin des königlichen Bruders) an einem Tische in der Mitte des Saales, und beider Blicke spähten während der Mahlzeit sehr aufmerksam durch den Raum, erteilten hin und wieder auch durch eine Bewegung der Hand oder des Zeigefingers stumme Aufträge an die Bedienung und an einen Mann im Frack mit ernstem glatten Gesicht, der unweit ihres Tisches stand und die Rolle eines Haushofmeisters zu spielen schien. Im übrigen servierten lediglich weibliche Wesen, und vielleicht hatte man aus ästhetischen Rücksichten in der psychologischen und symptomatologischen Behandlungsweise der Anstalt nur hübsche Mädchen gewählt, die uniforme Kleidung trugen, dunkle Kostüme mit weißen Kragen, weißen Schürzen und kleinen weißen Häubchen. Sie glitten fast unhörbar umher, und Diesberg, der munteren Auges und höchst interessiert um sich schaute, bemerkte, daß sie nach einem gewissen System servierten, gleichsam nach der Numerierung, daß fast jeder Gast sein Sondermenü hatte. Aber es gab keine verdrießlichen Mienen im Saal, auch die Unterhaltung setzte bald ein, etwas gedämpft zwar, doch sichtlich mit einer heiteren Unterströmung, die aus verborgenen Ventilen zu kommen schien. Wein wurde wenig getrunken, nur der alte Engländer mit dem greisenhaften Clowngesicht mischte sich Champagner in sein Vichywasser.

Diesberg hatte sich eine Flasche Léoville Lascazes bestellt. »Es stehen keine Preise auf der Weinkarte,« sagte er zu Regina, »es ist ein verflucht fürnehmes Haus. Ich glaube, die drei Monate werden eine Stange Goldes kosten. Vielleicht ist es das beste, ich sende dir einen Kreditbrief auf eine unbeschränkte Summe.«

»Nein, mein Lieber,« entgegnete sie lächelnd, »diese drei Monate sind meine eigene Sache, die meines Herzens – ich muß dich schon bitten, mir die Verwaltung meines sogenannten Vorbehaltsgutes selbständig zu überlassen. Ich weiß sowieso nicht, wo ich damit hin soll, wenn du mir nicht hilfst, wenigstens die Zinsen in adliger Weise durchzubringen ...« Ihr Ton klang frischer und gehobener als sonst... »Weißt du, Erni,« fuhr sie fort, »das Zuständliche in dieser Heilanstalt, soweit ich es bis jetzt übersehen kann, scheint mir fabelhaft amüsant zu sein. Ich denke mir, es ist ein Haus für eingebildete Kranke – wobei ich mich selbst nicht ausnehme.«

»Es soll nervöse Leiden geben, die lediglich auf der Einbildung beruhen.«

»Mag sein. Vielleicht besteht auch die ganze Heilkunst Wiesingers in der Einwirkung auf die Phantasie. Ein interessanter Mensch, nicht? Sieh, er paßt auf wie ein Schießhund. Seine Blicke fliegen umher. Jetzt spießt er die beiden Damen mit den gefärbten Haaren auf –ich glaube, es sind Russinnen –, die unverkennbar mit dem jungen Herrn in Dunkelblau kokettieren, da drüben in der Ecke.«

Erni lachte. »Das Prinzip der Geschlechtertrennung ist wohl nur ein Idealprinzip oder ein theoretisches.«

»Wiesinger ist ja auch nicht konsequent darin, und sicher mit Absicht. Er verbietet zwar die Aufnahme von Ehepaaren, aber verbietet er auch den Flirt?«

»Vielleicht begünstigt er den sogar als Mittel seelischer Aufheiterung. Regina, du hast ein freies Feld deiner Tätigkeit vor dir. Ich rate dir, den indischen Prinzen mit freundlichen Augen anzusehen. Das wäre doch etwas Originelles...«

So scherzte man, bis die Mahlzeit zu Ende ging und Wiesinger und Madame sich erhoben.

»Ist Ihr Umzug beendet und sind Sie zufrieden mit Ihren Zimmern?« fragte der Arzt.

»Danke, durchaus«, entgegnete Regina.

»Und wann reisen Sie ab, Herr Baron?«

»Morgen früh, Herr Doktor.«

»Da darf ich mir also erlauben, Ihnen gegen elf meine Aufwartung zu machen, gnädige Frau.«

Er entfernte sich, um diesen und jenen der anderen Gäste in eine kurze Unterhaltung zu ziehen.

»Er möchte mich loswerden«, sagte Diesberg heiter. »Ein Ehepaar scheint hier als unsittlich zu gelten. Es ist Zeit, daß ich mich drücke.«

Da nun aber die Tischgesellschaft in die Salons des Hauses strömte, so folgte man ihr. Diesberg hielt es für angebracht, vor seiner Abreise Regina noch mit einigen Mitbewohnern der Anstalt bekanntzumachen. Es war nur schwierig, die Geeigneten herauszufinden. Die meisten der Herren suchten das Lese- und Rauchzimmer auf, um sich dort eine der erlaubten »nikotinfreien« Zigarren anzuzünden. Die Damen nahmen in Gruppen in dem großen Salon Platz, wo ihnen je nach Wunsch Milch, Lindenblütentee oder eine Art Malzkaffee serviert wurde. Hier im Salon bildete wieder Doktor Wiesinger den Mittelpunkt. Die Damen scharten sich um ihn, und er benützte nun auch die Gelegenheit, dem Diesbergschen Ehepaar die einzelnen vorzustellen. Regina hörte viel vornehme Namen, die meisten sprachen deutsch, die Ausländerinnen gebrochen, gaben sich aber sichtliche Mühe, es aus Gefälligkeit für den leitenden Chef möglichst schön zu machen. Regina merkte sofort, daß man Doktor Wiesinger jene eigentümlich schwärmerische Verehrung entgegenbrachte, die man gerade bei Damen dem Arzte gegenüber, dem sie unbedingtes Vertrauen schenken, häufig findet. Er bevorzugte übrigens keine einzige, er war zu allen gleich liebenswürdig, aber doch ein ganz klein wenig von oben herab, mit einer seinen Kühle und diszipliniertem Willen. Er war wie ein freundwilliger, herablassender Fürst, der sich gern volkstümlich gibt, ohne von der Höhe seines Thrones zu steigen.

Diesberg war zwischen zwei lebhafte Damen aus Liverpool geraten, die unaufhörlich in ihn hineinschnatterten und denen er in schauderhaftem Englisch antwortete, was sie entzückend zu finden schienen. Schließlich bequemten sie sich auch dazu, deutsch zu sprechen, und das klang ebenso schauderhaft wie das Englisch Diesbergs. Er hatte nacheinander die Milch, den Lindenblütentee und den dünnen Malzkaffee gekostet und sehnte sich nun nach einer Nichtnikotinfreien, war daher froh, als Regina ihn mit einem bedeutsamen Augenzwinkern bat, sich langsam zurückzuziehen.

»Liebes Kind,« sagte er, als er sie zu ihrem Chalet zurückbrachte, »ich glaube, für mich wäre Wiesingers Sanatorium keine geeignete Besserungsanstalt. Denke dir, was mir die English Ladies anvertraut haben: man muß hier einen Ehrenschein unterzeichnen, daß man alle Vorschriften genau befolgt und alle hygienischen Verbote respektiert, sonst wird man erst gar nicht aufgenommen. Wenn ich aber nur acht Tage lang auf Malzkaffee und nikotinfreien Tabak – ein Widerspruch an sich – angewiesen wäre, dann bekäme ich am neunten Tage einen Tobsuchtsanfall. Die beiden Damen aus der guten Stadt Liverpool haben übrigens so abscheulich quarrende Stimmorgane, daß mir der Kopf ganz benommen ist. Ich möchte mich ein Stündchen hinlegen und dann einen Spaziergang machen. Ich muß mich einmal wieder auslaufen.«

»Tu das, Erni,« erwiderte sie, »aber du sagst mir doch noch Lebewohl?«

»Ei versteht sich. Bis zehn Uhr abends ist ja diese gastliche Bude geöffnet. Ich klettere nachher ein bissel in die Berge und komme dann zu dir heran. Meine Koffer sind rasch gepackt. Auf Wiedersehn, Regina ...«

Er schlief in seinem Hotel eine Stunde fest und ruhig und machte sich hierauf auf den Weg nach Glion. Jetzt begannen auch seine Gedanken zu wandern und traten lebendig in seine Augen und formten sein Mienenspiel auf diesem Spaziergange. Zuweilen schüttelte er den Kopf. Es war, weiß Gott, verrückt. Nun behauptete dieser Doktor Wiesinger wieder das Gegenteil von dem Amerikaner: Regina sei bloß nervös, aber nicht die Spur organisch herzkrank. Konnte man ihm glauben, oder war er ein Schwindelfritze zugunsten seines verdrehten Sanatoriums? Jedenfalls schien es, als glaube Regina an ihn und sein Versprechen, sie nach Ablauf von drei Monaten kerngesund wieder zu entlassen – und das war die Hauptsache ... Diesberg schlug mit seinem Stock einen Hieb durch die Luft. Selbstverständlich, daß er sie abholen würde! War er denn ein brutaler Egoist? Nein, weiß Gott nicht, er war ein Mann von Pflicht und Ehre und wußte, was er zu tun hatte. Deshalb hatte er auch jeden Anspruch auf ihr Vermögen abgelehnt und sich den ekelhaften Paragraphen, der Tod oder Scheidung in die Perspektive der Ehe stellte, energisch verbeten. So etwas machte er nicht ... Er riß den Kopf in den Nacken – und senkte ihn wieder, denn plötzlich war ihm, als gehe Annelene an seiner Seite. Ihre Sandalen klapperten, er hörte ihren raschen Atem, er vernahm ihre Stimme. Sie sagte: »Lieb Häseken ...« Da schwoll ihm das Herz in der Brust, und die Phantasie packte ihn bei Hirn und Seele und führte ihn in jähem Fluge nach Freilehningen zu seinem barfüßigen Mädelchen ...

»Blödsinn«, sagte er laut. Er stieß mit den Fußspitzen die Kiesel vor sich her. Natürlich war es Blödsinn. Annelene wollte nichts mehr von ihm wissen, und dem Freunde daheim hatte er sich auf Treu und Glauben verschworen, ihr für immer zu entsagen. Für immer – also war auch an keine Scheidung zu denken. Er stieß einen kurzen Fluch aus. Daran war überhaupt nicht zu denken – nie! Er war ja kein Schweinehund! Das schrie er sich zu. Innere Stimmen riefen es, ein ganzer Chorus.

Es ging steiler bergauf. Aber Diesberg schritt kräftig aus. Er hatte den Hut in die Hand genommen, frisch wehte der Bergwind um seine Stirn ... Es mußte anders werden, man kam nicht weiter mit der Gefühlsduselei, mit dem Kampf gegen eine Schattenwelt. Schmähliche Hoffnungen mußten endgültig versinken, und, Donnerwetter, die Vernunft mußte das Leben meistern! Eine verdorbene Ernte ist noch kein Unglück fürs Leben. Die nächste kann besser werden. Erni, Vernunft! Eine reizende Frau liebte ihn. Warum nahm er sie nicht an sein Herz? Warum wollte, wollte, wollte er nicht auch sie lieben?

Er wollte es nicht, das war es ... Eine Bank stand am Wege, er setzte sich einsam und sah den letzten tanzenden Sonnenstrahlen unter den Steineichen zu ... Also nun stand es fest: was mit der Vernunft zu fassen war, sollte gehalten werden. Alles andere müßte fürderhin ausscheiden. Die drei Monate waren die letzte kurze Trennung. Regina war damit einverstanden. Dann holte er sie – Vernunft, Erni! Jawohl, es sollte eine vernünftige, harmonische Ehe werden. Konnte er sich im Grunde genommen Besseres wünschen? Fort mit torkelnden Idealen und bleichsüchtigen Phantasien – sie war schön, sie war reich, sie ging völliger Gesundung entgegen ... und er wollte kein Schafskopf sein! Grüß' Gott, Annelene, du wirst dein Glück schon noch finden! –

Nun ging er weiter. Im Mai, sagte er sich. Und wahrhaftig, alle Pforten in Bärwalde sollten bekränzt werden! Ah ja, sie sah Bärwalde zum erstenmal und sollte es in neuem Aufblühen sehen! Er spürte ein Muskelzucken, ein Schwellen der Adern. Bei Gott, er jubelte der Arbeit entgegen! Und insofern war auch die Trennung gut. Er war ganz frei, nichts Schleppendes hing ihm nach, nichts Störendes lag auf seinem Wege, er hatte nur eine einzige Pflicht: die der Arbeit.

Glücksgefühl durchrauschte ihn. Nun wollte er auch auf alle trüben, unnötigen, albernen Reflexionen verzichten und an nichts anderes mehr denken als an die kommende Freiheit der Arbeit. Abgemacht, Schlußstrich ... Das Hotel Righi Vaudois lag vor ihm. Er ließ sich in genußreicher Reaktion gegen den Lindenblütentee in Beausite einen Café double geben und rauchte eine Importe dazu. Er kam in Bärwalde noch mitten in die Frühlingsbestellung hinein. Ei, da wollte er hinterher sein! Ein neues Reitpferd mußte er haben, selbstverständlich – vermutlich hatte Otten bereits eingekauft, der Hengst aus Freilehningen war ja schon da – und dann ging es auch wieder auf den grünen Plan, aber ohne Jeu und Frauenzimmer und Sektgelage – nee, das waren überwundene Zeiten! – Er zahlte und stand auf, er wollte noch über die Chaudronschlucht, das Wetter lockte trotz sinkender Sonne, und der quellende Gedankenstrom wollte ausgetragen werden.

Er war jetzt daheim. Er war auf den Feldern, er war im Gestüt, er hatte die Gäule an der Longe, er ritt sie zu, er war auf dem Rennplatz und setzte über die Hindernisse, er war am Ziel ... Im Feuerwerk des Vorauseilenden achtete er kaum auf die Wege. Sie wurden schmaler, steiniger, unbequemer. Ein Wald nahm ihn auf, die Dämmerung sank rasch, das Abendrauschen kam. Plötzlich stand er vor einem klaffenden Bodenriß. War das die Schlucht des Chaudron? Er wußte es nicht, es war auch gleichgültig. Jedenfalls mußte er die Brücke suchen, den Pont de Pierre. Es ging sich schlecht am Hange der Schlucht, unter seinen Sohlen rollten die Steinchen, es war kaum ein Weg, es war nur ein Saumpfad. Alle Wetter, und es wurde immer dunkler – und Regina wartete auf ihn!

Diesberg klomm wieder in die Höhe. Er wollte zunächst einen Weg finden, einen wirklichen Weg, der mußte doch nach irgendeinem der hier überall verstreut liegenden kleinen Dörfer und Gehöfte führen, wo er sich Bescheid sagen lassen konnte! Zapperlot, wo war denn der Weg geblieben, den er gekommen war? Unter den Bäumen braute schon die Schwärze der Nacht. Es war ein mühsames Wandern, Nach welcher Richtung hin lag wohl der See? Ahnungslos. Man mußte sich auf sein gutes Glück verlassen.

Er tappte nur noch vorwärts, um nicht mit dem Schädel gegen einen Baumstamm zu fahren. Er hielt die Arme ausgestreckt und fühlte umher. Einmal kam er auf eine Lichtung und sah den Himmel über sich. Das war auch kein erfreulicher Anblick. Kein Mond, kein Stern, da oben hing ein Wetter und konnte sich mit Blitz, Donner und Gußregen entladen. Also weiter, es half nichts. Wieder unter die Bäume, wieder in vorsichtigem Vorwärtsschleichen wie ein Indianer auf dem Kriegspfade, Dieses In-der-Irre-Laufen war sicherlich kein Vergnügen, doch auch nicht ängstlich – nur der Gedanke an Regina beunruhigte ihn. Er blieb stehen, zog seine Uhr und entzündete ein Schwefelholz, In raschem Flackerlicht sah er, daß der Zeiger schon auf halb Neun stand. Der Ärger grimmte in ihm auf, er fluchte laut. Mein Gott, was mußte Regina von ihm denken! Da saß nun das arme Weib in ihrem Chalet und wartete und wartete – und wartete vergeblich auf den Abschiedskuß! Konnte er unter diesen Umständen denn schon morgen früh fahren? Und er wollte gern fort, es riß ihn zurück mit Fibern und Nerven – auch Otten hatte er bereits telegraphiert und nach Berlin an die Frau Biene – es war ja alles vorbereitet ... Ekelhaft! – Er wand sich durch das Schwarzgestämm der Eichen, in deren Wipfeln nahender Sturm die Harfen schlug. Er stolperte, er fiel auch einmal längslang zu Boden, da hatte sein Fuß sich im Gestrüpp verfangen.

Er lachte, um seine Wut zu zerkochen. Dann pfiff er ein Lied vor sich hin. Und plötzlich fuhr er zurück und starrte in eine schwarz-gähnende Tiefe, auf deren Grunde es rauschte und leuchtete. Herrgott, das war ja abermals die Schlucht des Chaudron! Er mußte in einem Bogen umhergelaufen sein. Nun flammte auch der erste Blitzstrahl durch das Wolkendunkel, ein Donnerschlag krachte, schwere Tropfen fielen. Ein Wintergewitter erlebt man nicht alle Tage, aber Diesberg hätte es den Göttern gern geschenkt. Immerhin hatte der Blitz in der flüchtigen Erhellung der Nachtschwärze wie ein Wegweiser gewirkt. Diesberg sah ein paar Dutzend Schritte oberhalb der Stelle, an der er stand, das Gemäuer des Pont de Pierre. Er überschritt die Brücke und fand nun einen breiten und bequemen Weg, der abwärts führte, also dem See zu. Jetzt beflügelte er den Fuß, er hatte es eilig. Seine Gedanken stürmten voran – vielleicht war Beausite doch noch geöffnet, es würde ja wohl auch ein Wächter zu finden sein – jedenfalls mußte er noch zu seiner Frau, das war er ihr schuldig ... Es schien, als zerteile sich das Gewitter. Blitz und Donner waren nur ein Schreckschuß gewesen. Auch der Regen setzte nicht stärker ein. Es tröpfelte monoton und schwerfällig.

Ein paar alte Häuser stiegen am Wege auf, ein verschlafenes Dörfchen. Hinter trüben Fensterscheiben blinkte ein Gelblicht. Diesberg entschloß sich rasch, klopfte an, trat ein, war in einer niedrigen Bauernstube. Ein Mann saß vor brennendem Kienspan am Kamin, schälte Kartoffeln und stierte den Fremdling unter geröteten Augenlidern voller Staunen an. Diesberg war höflich wie zu seinesgleichen und fragte, ob er wohl einen Wagen nach Clarens bekommen könne. Nein, den gab es hier nicht. Aber angesichts des vornehmen Herrn wurde der alte Bauer gefällig, erhob sich, wischte die Hände an seinen weiten Beinkleidern ab und gab Auskunft: gleich rechtsherum führe die Landstraße nach Chernax, und wenn der Herr sich dann links halte, immer nur links, sei er in einem Stündchen unten in Clarens. Diesberg zog wieder die Uhr. Vor elf konnte er unmöglich in Beausite sein – da war alles zu, verschlossen, verboten – es war zum Verzweifeln ... Der alte Bauer tat ein übriges, er zündete umständlich eine Laterne an und begleitete ihn bis zur Wegkreuzung. Diesberg schenkte ihm ein Fünffrankenstück und setzte sich dann in Trab.

Warum er im Laufschritt bergab stürmte, wußte er nicht – er kam ja doch zu spät. Zweck hatte dies Trabrennen nicht. Aber es war merkwürdig: jetzt überlegte er gar nicht mehr. Wie eine fixe Idee, wie eine Seelenklammer bohrte der Gedanke sich ihm ein: du mußt Regina unbedingt heute noch sprechen! – Aus der Dunkelheit wuchsen allmählich Lichterreihen. Der Städtekranz am Seeufer lag noch in heller Fröhlichkeit.

Endlich stand Diesberg rasch atmend, fast keuchend vor dem schmiedeeisernen Gartentor des Sanatoriums. Er klinkte und rüttelte und gab den Eisenstäben einen wütenden Fußtritt. Beausite lag abseits des großen Villenzyklus, tief eingebuchtet am Seeufer, eine einsame Schöne. Dunkel dehnte der Park sich aus, nur hinten vor dem langen Haupthause brannte noch eine elektrische Flamme.

Diesberg irrte am Gitter entlang. Sein Ingrimm wuchs. Formlose Flüche zitterten auf seinen Lippen. Wer konnte ihm, zum Himmeldonnerwetter, verwehren, von seiner eigenen Frau Abschied zu nehmen! Was gingen die verdammten Narreteien in dieser Anstalt ihn an! – Er hielt in seinem zwecklosen Umlauf inne und stand nun an der Biegung der Umzäunung, wo sie hinab bis zu dem kleinen Hafen des Parks führte. Gerade vor sich sah er das weiße Chalet, in dem Regina wohnte. Ein Dutzend Sprünge, und er konnte bei ihr sein. Da lachte er, ein kurzes übermütiges Lachen, das Lachen eines tolldreisten Jungen. Kleinigkeit – er schwang sich über den Zaun, kletterte drüben am Weinspalier in die Höhe und klopfte an das Fenster Reginas – wie Romeo bei seiner Julia! Das alles bot keine Schwierigkeiten – das Fenster kannte er genau, ringsum war kein Mensch zu sehen, im Chalet wohnte oben nur noch eine stocktaube französische Gräfin – – im übrigen, in welchem Sittenkodex stand ein Paragraph, der es dem Gatten verbot, die Gattin zu besuchen? –

Das Gitter hatte oben eiserne Spitzen. In das rechte Hosenbein Diesbergs verfing sich eine der Spitzen, der Stoff riß um die Kniegegend, aber Diesberg war schon auf der anderen Seite. Nun war er doch vorsichtig. Er bückte sich und schlich sich an den Bosketts entlang, an der Feigenhecke des Tennisplatzes vorüber, und war dann mit einem Tigersatz dicht am Chalet. Noch einmal orientierte er sich. Ja, es war richtig, hier lag das Schlafzimmerfenster Reginas, von innen verhängt, dunkel, aber es mußte es sein. Das Weinspalier entsprach der Gediegenheit der ganzen Anstalt, es wankte nicht unter dem Kletterer. Unter dem Fenstergesims hielt Diesberg sich mit der linken Hand fest und klopfte mit der rechten erst leise, dann etwas lauter gegen die Scheiben...

*

– Regina hatte den Nachmittag noch mit der Ordnung ihrer Zimmer verbracht. Gegen fünf wurde sie unruhig. Wo blieb Erni? Die Zeit verrann, und er kam nicht. Nach jener kurzen letzten Aussprache auf der Promenade, einer Zusammendrängung aller Lebensfragen in wenigen hastigen Sätzen, hatte sie das Empfinden gehabt, daß sie an der Ehrlichkeit seiner Gesinnung nicht mehr zweifeln könne. Es war genau so gekommen, wie die Gräfin Düren vermutet und vorausgesagt hatte. Der Arzt hatte erklärt, daß sie bis auf eine leicht heilbare Neurose völlig gesund sei. Auch die Trennung war nun gegeben. Aber dem Versprechen Ernis, sie im Mai zurückzuholen, lag so viel Aufrichtigkeit zugrunde, daß die Hoffnung sich von neuem beschwingte und das verliebte Herz der Möglichkeit sich zuneigte, die Sehnsucht werde noch eher ihn wieder zu ihr führen. Auch davon hatte die Düren gesprochen: Halbbewußtes und noch Schlummerndes könne in den Monaten der Trennung zur Sehnsucht reifen. O gewiß – hatte sie doch dann und wann in den Momenten, da ihr Zärtlichkeitsbedürfnis überströmte, in der Sprache seiner Augen so etwas wie eine Reflexwirkung zu lesen vermeint. O gewiß, die Sehnsucht konnte kommen, als Purpurschein, als geheimnisvolles Rauschen, als Klang und Duft und Raunen, als eine Stimme von innen, die gehört werden wollte – dann aber mußte die »andere« ihm fernbleiben, der immer noch das Tönende seines Herzschlags gehörte! Und in der Ebbe und Flut ihres Fühlens erhob da doch sich wieder ein Sturmbrecher, ein Felsen der Zuversicht: der Glaube an seine Vornehmheit. Wohl hat Michelet recht: Die Frau schmachtet unter der Wucht einer ungeheuren Notwendigkeit. Die Natur begünstigt den Mann. Die Frau liebt nur um der Liebe willen und verläßt sich in ihrer Hilflosigkeit auf den Adel des Mannes.

Die Zeit verrann, und Erni kam nicht. Vergeblich fragte sich Regina, was geschehen sein könne. Es war ja doch undenkbar, daß er sie ohne Abschied verließ! Nein, das war undenkbar, das ließ schon seine Herzenshöflichkeit nicht zu. Um acht Uhr klingelte sie der Zofe und bat, einen Hausdiener nach dem Hotel des Crêtes zu senden: sie erwarte den Herrn Baron. Dann bestellte sie sich Tee, sie war nicht in der Stimmung, an der gemeinsamen Abendtafel im Haupthause teilzunehmen. Der Hausdiener kam mit der Meldung zurück, der Herr Baron sei am Nachmittag ausgegangen und noch nicht wieder heimgekehrt.

Da jagte die Sorge durch ihre Seele. Phantastische Möglichkeiten schwebten ihr vor. Nach dem Mont de Caux und Rocher de Naye zu gab es steile Hänge, und er war unvorsichtig, er konnte abgestürzt sein. Dann lächelte sie wieder über ihre Angst. Sie kannte die Umgebung von früheren Reisen her, überall in den Bergen gab es breite Promenadenwege, und steilere Gründe waren umzäunt. Wo war er also? Auch die Eifersucht tastete sich heran mit Ranken der Schlingpflanze – hier unten in den Hotels und Pensionen saßen die Pariser und Genfer Frauenzimmer zu hellen Haufen und spielten drüben im Kurhause von Montreux am Jeu des Petits Chevaux – – und wieder schüttelte sie den Kopf: nein, pfui, das war ein häßlicher Gedanke, der auch unter der Vibration ihrer Nerven nicht aufkommen durfte.

Ja, sie war nervös, Wiesinger hatte sie erkannt, ihr ganzes Nervenleben war in Aufruhr. Sie setzte sich an den Tisch und brach in Tränen aus. Sie legte ihre Uhr vor sich hin und bohrte den Blick auf das Zifferblatt. Sie hörte einen vereinzelten Donnerschlag, ein Blitz erleuchtete das Fenster, Regentropfen fielen. Wenn ihn das Unwetter in den Bergen überraschte? Aber im Nachtdunkel klettert kein vernünftiger Mensch in unbekannten Gehegen umher. Sicher war er längst wieder oben in seinem Hotel ... Der kleine Zeiger der Uhr zeigte auf zehn. Nun schlossen sich alle Pforten der Anstalt. Sie brauchte nicht länger zu warten.

Sie versuchte ruhig zu werden. Es war klar, daß er sich auf seinem Ausflug verspätet hatte. Er fuhr also morgen noch nicht ab. Morgen nahm er erst Abschied von ihr. Das war klar. Sie entkleidete sich und legte sich zu Bett. Aber an Schlaf war nicht zu denken. Sie löschte das Licht und starrte offenen Auges in das Dunkel. Sie dachte immer nur an ihn. Sie verfolgte seinen Weg in die Berge. Das Wetter war vorübergezogen. Aber von tausend Zufälligkeiten hängt ein Leben ab. Er konnte auf dem Steingeröll der Wege ausgeglitten sein und sich verletzt haben ...

Sie lauschte. War der Wind wieder wach geworden und spielte mit den Reben unter dem Fenster? Nun hob sie den Kopf. Es klopfte – irgendwo klopfte es. Sie war keine furchtsame Natur – und hier, wußte sie, war sie in völliger Sicherheit. Aber bei Gott, da pochte es abermals – das war an der Fensterscheibe! Sie fuhr in die Höhe und warf den Schlafrock über. Sofort, im Augenblick fühlte sie mit instinktiver Gewißheit: das war Erni! Aus dem Allerinnersten stieg ein Zittern. Sie drehte das elektrische Licht auf dem Nachttisch auf. Sie horchte noch einmal, angespannt, mit allen Sinnen. Wieder klopfte es – ein Dreiklang. Da sprang sie zum Fenster, zog Vorhang und Store zurück und sah nun, draußen, mit breit an das Glas gedrückter Nase, das lachende Gesicht ihres Mannes hinter den Scheiben.

Ein süßes Glücksgefühl durchrieselte sie, ein Entzücken ohnegleichen. Sie hätte schreien mögen, aber sie war ganz still unter dem Trommelwirbel ihres Herzens. Geräuschlos öffnete sie das Fenster und legte den Zeigefinger auf die Lippen.

Er schwang sich leicht über die Brüstung und umarmte sie. »Entschuldige die späte Störung«, begann er.

»Scht – leise doch«, hauchte sie und hielt ihn fest.

»Na ja,« wisperte er, »die verfluchte Hausordnung ... Ich hatte mich im Walde verirrt ... Da bin ich schlankweg über den Zaun geklettert und habe mir die Hosen zerrissen. Ich wollte dir doch noch adieu sagen ...«

*

– – – Es ist die Nachtigall und nicht die Lerche, dachte Erni, als er sich wieder durch den Garten zurückschlich und irgendwo ein Vögelchen piepsen hörte. Über den Bergen hing schon ein zarter Morgenschleier, ein Duft von Rosenrot mit Goldlasuren. Erni spähte vorsichtig nach allen Seiten aus. Man kann hier ganz leicht einbrechen, dachte er weiter, man muß es nur geschickt machen ... Aber er kroch jetzt auf allen Vieren an der Feigenhecke des Tennisplatzes vorüber. Immer rücksichtsvoll, sprach er dabei zu sich selbst, Respekt vor der Hausordnung ... Dann kam ein Lachen. Doktor Wiesinger, dir haben wir ein Schnippchen geschlagen! ... Nun richtete er sich auf. Jetzt stand er vor dem Gartenzaun mit den dräuenden Spitzen. Die Hose war doch verloren – immer los! Wieder ein Ausspähen nach rechts und links, nach vorwärts und rückwärts. Kein Mensch weit und breit, nur unten auf dem blauen See die ersten weißen Segel. Diesberg klomm über den Zaun. Rrrr – ein neuer Riß im Beinkleid – aber er war glücklich drüben. Da fiel ihm ein, daß er seinen Stock nicht mehr hatte. Er überlegte: er hatte ihn schon nicht, als er das Zimmer Reginas erstürmt hatte. Vielleicht war er in dem Bauernhause in Sonzier liegengeblieben. Da konnte er bleiben. Gedankenvoll betrachtete er seine Beinkleider, die fast bis zu den Knien aufgeschlitzt waren. Untenherum sehe ich wie ein mexikanischer Pferdedieb aus, sprachen seine Gedanken. Dann schlug er hurtig den Rockkragen hoch, setzte den Hut fester und stieg eilenden Schrittes die Straße hinauf, die nach der Station führte.

Über den Alpenwall schwang sich das Purpurlicht des Sonnenaufgangs. Es war aber noch wenig Leben im Orte. Aus den Bergdörfern kamen Maultierwagen mit Gemüseladungen. Ein Straßenfeger hielt in der Arbeit inne und betrachtete offenen Mundes die Unaussprechlichen Diesbergs. So etwas hatte er sein Lebtag noch nicht gesehen. Doch Erni kümmerte sich nicht um die verwunderte Miene, er hatte jetzt zum Laufschritt angesetzt wie ein italienischer Bersagliere. Dabei flog ein holdes Erinnern zurück über den Gartenzaun mit den spitzen Zähnen und über ein haltbares Weinspalier und über ein Fenstergesimse ... Soll mich der Teufel reiten, schwor er sich zu, wenn ich mir das geliebte Weib nicht schon in sechs Wochen nach Bärwalde hole! ...

Nun war er an seinem Hotel und klingelte. Der Nachtportier öffnete und war nicht minder voller Erstaunen als der Straßenfeger.

»Gucken Sie mich doch nicht an, als ob Sie mich gleich wieder 'rausschmeißen wollten«, sagte Erni heiter. »Ich bin's, Baron Diesberg, Nummer siebenundsechzig. Ich habe mich in den Bergen verlaufen, bin gestürzt und – na, sehen Sie sich mal meine Höschen an! Hübsch, was? Wann geht der Frühzug nach dem Norden?«

»Um acht Uhr zehn, Herr Baron.«

»Da kann ich noch ein bißchen schnuppern. Punkt sieben wecken!«

»Schön, Herr Baron.«

Diesberg nahm seinen Zimmerschlüssel und stieg die Treppe hinauf. Ob sie schon schläft? dachte er, und zum ersten Male seit langem lag der Ausdruck eines reinen Glücks auf seinen Zügen.


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