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6. Die Göttin und der Stierdämon

Zwischen den Göttern und Widergöttern tobte vorzeiten ein Kampf über ein volles hundert Jahre. Mahischa, der ›Büffelstier‹, war das Haupt der Widergötter, der burgenzerbrechende Indra war der Herr der Götter. Da schlugen die Widergötter das Heer der Götter aufs Haupt, und der Stierdämon trat an Indras Statt. Völlig geschlagen gingen die Götter, von Brahma geführt, zu Vischnu und Schiva und erzählten ihnen, wie der Widergott Mahischa die Götter überwältigt hatte: ›Die Rechte aller Götter hat er an sich gerissen und alle Götterscharen aus der Himmelswelt vertrieben, sie irren unten auf Erden umher, wie sterbliche Menschen. Wir suchen Schutz bei euch – sinnt auf seinen Tod!‹

Als Vischnu und Schiva die Rede der Götter vernahmen, gerieten sie in Zorn, und ihr Antlitz verzerrte sich unter gerunzelten Brauen; sengendes Licht brach aus Vischnus Gesicht, der übervoll von Zorn war, sengendes Licht brach aus Brahmas und Schivas Gesichtern. Auch aus den Leibern der übrigen Götter brach sengendes Licht und floß großmächtig in eins zusammen. Die Götter schauten sein Übermaß, es war wie ein glühender Berg und füllte das Weltall rings mit seinen Flammen. Dieser unvergleichliche Glanz aus den Leibern aller Götter sammelte sich und, alle drei Welten erfüllend, ward er zu einer Frauengestalt: der sengende Schein Schivas bildete ihr Antlitz, aus Yamas Glanz wurden ihre Haare, aus Vischnus ihre vielen Arme. Das Licht des Mondes ward zum Paar ihrer Brüste, die Leibesmitte ward aus Indras Glanz, Schoß und Schenkel aus Varunas Glanz, die Hüften vom Glanz der Erde. Aus Brahmas Glanz wurden die beiden Füße, die Zehen aus dem Glanz der Sonne, der Glanz der Vasus bildete die Finger, Kuberas Glanz die Nase. Ihre Zähne entstanden aus dem Glanz des Herrn der Geschöpfe, ihre drei Augen aus dem Glanz des Feuergottes und die Augenbrauen aus Morgen- und Abenddämmerung, die beiden Ohren aber aus dem Glanz des Windes. Die Vereinigung der strahlenden Kraft aller Götter ward zur Glückverheißenden Göttin.

Als sie diese Gestalt erblickten, die aus der Häufung der Strahlenkraft aller Götter erstand, wurden die vom Stierdämon besiegten Unsterblichen wieder froh. Schiva zog aus seinem Dreizack einen Dreizack heraus und gab ihr den. Vischnu gab ihr eine Wurfscheibe, die er aus seiner eigenen Wurfscheibe nahm. Varuna gab ihr eine Muschel und der Feuergott einen Speer, der Windgott einen Bogen und zwei Köcher voll Pfeilen. Indra entnahm seinem Blitzkeil einen Demantkeil und gab ihr den samt der Glocke seines Elefanten, Yama gab ihr vom Richterstab des Todes einen Stab. Eine Wurfschlinge gab ihr der Herr der Wasser. Der Herr der Geschöpfe gab ihr einen Gebetskranz, Brahma eine Wasserschale. In alle Poren ihrer Haut goß der tagschaffende Sonnengott seine Strahlen; Zeit, der allmächtige Gott, gab ihr ein Schwert und einen fleckenlosen Schild, der Milchozean gab ihr eine lautere Perlenkette und weiße Gewande, gab ihr Stirnjuwel, Ohrgehänge und goldene Armringe, dazu einen funkelnden Halbmond und Oberarmreifen an all ihre Arme, lautere Knöchelspangen und einen Nackenschmuck ohnegleichen. Der ›Aller Werke kundige Gott‹ gab ihr Juwelenringe an all ihre Finger und ein fleckenlos schimmerndes Beil, vielerlei Wurfgeschosse und einen unzerspaltbaren Panzer. Einen Kranz unverwelklicher Lotosblüten setzte der Gott des Meeres ihr aufs Haupt, hängte ihr einen über die Brust und gab ihr eine Lotosblume, die beide überstrahlte. Der Himalaya gab ihr einen Löwen als Reittier und vielerlei Juwelen, der Herr der Schätze gab ihr eine Schale, die nie leer von Rauschtrank ward, und Schescha, aller Schlangen Herr, der diese Erde trägt, gab ihr ein Schlangenhalsband mit großen Edelsteinen geziert. Auch die übrigen Götter ehrten die Göttin mit Schmuck und Waffen, und sie jauchzte immer wieder hellauf mit gellendem Lachen.

Als die Feinde der Unsterblichen alle drei Welten erzittern sahen, erhoben sie ihre Waffen, sammelten ihre Heere und brachen miteinander auf. ›Ha, was ist das?‹ sprach der Stierdämon mit allen Widergöttern voll Zorn und lief auf den Schall hin – da sah er die Göttin, die alle drei Welten mit ihrem Glanze erfüllte, die Erde unterm Tritt ihrer Füße einbog und das Himmelsgewölbe mit ihrem Diadem aufritzte, die den Grund der Unterwelt mit dem Klang ihrer Bogensehne erschütterte und alle Himmelsrichtungen rings mit ihren tausend Armen erfüllte, wie sie da stand. Da begann der Kampf der Götterfeinde mit der Göttin; alle Himmelsgegenden wurden in ihm durch vielerlei Wurfgeschosse entflammt.

Die Heerführer des großen Widergottes, Tschikschura, Tschamara und andere, kämpften mit Elefanten, Streitwagen, Reitern und Fußkämpfern; der große Widergott Udagra, der ›gewaltig Aufragende‹, führte sechsmal zehntausend Streitwagen in die Schlacht, Mahahanu, der ›mit den großen Kinnbacken‹, tausendmal Zehntausende, ›Schwert-Haar‹ fünfzig Millionen, andere kamen mit noch größeren Heeren, aber mit Millionen an Millionen von Wagen, Elefanten und Pferden war der Stierdämon selbst umgeben. Sie kämpften mit allen Waffen gegen die Göttin, aber die ›Zornmütige‹ zerschnitt in reinem Spiel die Schwerter und Geschosse der Feinde, indem sie ihre eigenen Wurfgeschosse und Waffen auf sie regnete. Unbekümmert ließ sie, von Göttern und Heiligen gepriesen, ihre schneidenden und fliegenden Waffen los auf die Leiber der Widergötter, und ihr Löwe, auf dem sie ritt, geriet in Zorn, schüttelte seine Mähne und zog durch die Heere der Widergötter wie ein Wildfeuer durch den Dschungel. Aus ihrem Atem entließ die Mutter Heerscharen: jählings erstanden sie zu Hunderten und Tausenden, kämpften mit Streitaxt und Spieß, Schwert und Lanze, geschwellt von der Kraft der Göttin, und vernichteten Scharen von Widergöttern.

Die Heere rührten dröhnend ihre Pauken, bliesen Muschelhörner und schlugen tönerne Handtrommeln bei diesem großen Fest der Schlacht; mit Dreispieß und Keule, einem Regen von Speeren, mit Schwertern und anderen Waffen machte die Göttin Widergötter zu Hunderten nieder, manche fällte sie betäubt vom Schall ihrer Glocke, andere schleifte sie, in ihre Wurfschlinge verstrickt, am Boden hin. Da lagen sie, von den scharfen Hieben ihres Schwertes zertrennt oder von ihrer Keule zermalmt, manche spien Blut, von ihrem Mörserstößel getroffen, andere sanken, von ihrem Dreispieß in der Brust zerspellt, zu Boden, andere wurden vom Regenschauer ihrer Pfeile überschüttet, daß kein Fleck an ihnen ungetroffen blieb. In ganzen Heeren ließen die Götterfeinde ihr Leben: Arme und Hälse wurden ihnen abgeschnitten, die Köpfe flogen ihnen herunter, andere wurden mitten durchgerissen oder sanken mit zerhauenen Schenkeln zur Erde. Manche hieb die Göttin in zwei Hälften mit je einem Arm, Auge und Bein, andere, die mit zerspaltenem Schädel hinstürzten, standen wieder auf, und ihre Rümpfe kämpften waffenschwingend mit der Göttin, und andere, kopflose Rümpfe, tanzten in der Schlacht zum Takt der Kriegsmusik mit Schwert und Lanze in Händen. Von niedergebrochenen Wagen und Elefanten, Rossen und Dämonen ward das Schlachtfeld ungangbar, Ströme von Blut flossen, jäh sich verbreiternd, durch das Heer der Widergötter zwischen Elefanten und Pferden.

So vernichtete die ›Mutter‹ in einem Augenblick das große Heer der Widergötter, wie Feuer einen Haufen Heu und Holz. Ihr Löwe erhob ein großes Brüllen und schüttelte die Mähne und sonderte gewissermaßen die Lebensgeister und die Leiber der Götterfeinde voneinander auf Haufen. So kämpfte die Göttin, daß die Götter, von Jubel erfüllt, Blumenregen vom Himmel über sie sandten.

Als der große Widergott Tschikschura sein Heer erschlagen sah, ging er ergrimmt auf die Zornmütige Göttin los, er regnete einen Schauer von Pfeilen auf sie, wie eine Wolke mit einem Regenschauer das Horn des Weltbergs Meru überschüttet, aber spielend zerschnitt die Göttin seinen Pfeilregen und erlegte mit Pfeilen seine Rosse samt dem Lenker. Flugs zerschnitt sie mit einem Pfeil seinen Bogen und sein ragendes Banner, und traf den mit zerfetztem Bogen Wehrlosen mit schnell sausenden Pfeilen hier und dort am Leibe. Sein Bogen zerschnitten, sein Wagen dahin, die Pferde erschlagen, der Lenker tot: da stürmte der Widergott, Schwert und Schild in Händen, gegen die Göttin. Mit der scharfen Schneide seines Schwertes schlug er den Löwen aufs Haupt und traf in mächtigem Schwunge sogar die Göttin an den linken Arm: da barst sein Schwert in Stücke. Mit zornroten Augen griff er zum Speer und schleuderte ihn, der Flammen sprühte wie die strahlende Sonne, auf die Glückspendende Kali. Als die Göttin den Speer auf sich zufliegen sah, warf sie ihm ihren eigenen entgegen: da zerstob sein Speer in hundert Stücke und mit ihm der Große Widergott.

Als er erschlagen lag, kam Tschamara, der die Götter zu peinigen wußte, auf einem Elefanten daher; auch er warf seinen Speer gegen die Göttin, aber die ›Mutter‹ traf ihn mit einem verächtlichen Murren ihrer Lippen, daß er glanzlos zu Boden fiel. Grimmerfüllt sah Tschamara seinen Speer zerbrochen zur Erde fallen, da schleuderte er einen Spieß, aber den zerschnitt sie mit Pfeilen – darauf machte ihr Löwe einen Satz, sprang hinauf zwischen die Schläfenbuckel des Elefanten und rang oben mit dem Götterfeind im Kampfe der Arme und Pranken. Ringend kamen beide vom Elefanten auf die Erde herunter; ineinander verstrickt, kämpften sie mit erbarmungslosen Schlägen – da sprang der Löwe mit einem Satz hoch in die Luft, warf sich von oben auf Tschamara und riß ihm mit einem Prankenschlage das Haupt vom Rumpfe.

Udagra ward von der Göttin mit Felsblöcken, Baumstämmen und anderen Wurfgeschossen erschlagen, Karala mit Zähnen, Fäusten und Sohlen niedergeworfen, ergrimmt zermalmte die Göttin den Dämon Uddhata mit Keulenschlägen, andere Führer der Widergötter erschlug die dreiäugige Herrin mit einem Dreizack oder sandte sie mit Pfeilen ins Haus des Todesgottes.

Als so sein Heer dahingeschwunden war, erschien der Widergott Mahischa selbst in seiner Stiergestalt und setzte die Scharen der Göttin in Schrecken. Mit einem Schnappen seines Maules, mit Schlägen seiner Hufe warf er sie zu Boden, traf sie mit seinem Schweife und zerfleischte sie mit seinen Hörnern, andere wurden von seinem Ansturm, seinem Gebrüll und kreisendem Laufe geworfen, andere vom Windhauch seines Atems. Als er den vorderen Heerbann gefällt hatte, stürzte er heran, den Löwen der Großen Göttin zu erschlagen. Da geriet die ›Mutter‹ in Zorn; aber auch er entfaltete im Zorne große Heldenkraft, mit seinen Hufen zermalmte er die Erde zu Staub, schleuderte mit den Hörnern ragende Berge in die Luft und brüllte laut auf. Die Erde barst unter seinem Ansturm, das Weltmeer, von seinem Schweif gepeitscht, schwemmte über nach allen Seiten, er schwang die Hörner, und die Wolken zerrissen in Fetzen um Fetzen, und vom Schnauben seines Atems fielen die unbeweglichen Berge zu Hunderten aus luftiger Höhe hernieder.

Als die Zornmütige Göttin den Großen Widergott erblickte, wie er wutgebläht auf sie zustürmte, richtete sie ihren Zorn auf seinen Tod. Sie schleuderte ihre Wurf schlinge gegen ihn und fing ihn, da verließ er, gefesselt, seine Stiergestalt und ward ein Löwe, und als die ›Mutter‹ dem Löwen das Haupt abschlug, erschien er als ein Mann mit einem Schwert in der Hand. Da zerspaltete ihn die Göttin flink mit ihren Pfeilen samt Schwert und Schild: da ward er ein riesiger Elefant. Mit dem Rüssel langte er nach ihrem Löwen, zog ihn an sich und brüllte gewaltig, aber die Göttin hieb ihm den Rüssel ab. Da nahm der Große Widergott abermals Stiergestalt an und erschütterte alle drei Welten. Die Weltenmutter, die Zornmütige, geriet in Zorn und schlürfte den unvergleichlichen Trank aus ihrer Schale. Wieder und wieder lachte sie, und ihre Augen färbten sich rot, und auch der Widergott brüllte, berauscht von Kraft und Mut, und schleuderte Berge mit seinen Hörnern gegen die Zornmütige. Aber sie zerstäubte die Berge mit Regen von Pfeilen und sprach:

›Schrei zu, schrei zu, noch einen Augenblick, Verblendeter! – dieweil ich den süßen Rauschtrank schlürfe! Bald werden die Götter vor Freuden schreien, wenn du hier vor mir erschlagen liegst!‹

So sprach sie und machte einen Satz in die Luft und sprang von oben auf den Großen Widergott. Sie trat auf ihn und schlug ihn mit dem Dreispieß in den Hals – da fuhr er, von ihrem Fuße niedergetreten, zum eigenen Maule heraus: zur Hälfte nur, denn die Übermacht der Göttin umfing ihn. Zur Hälfte fuhr der Große Widergott kämpfend aus seinem Leibe und ward zu Fall gebracht: mit ihrem großen Schwerte hieb ihm die Göttin das Haupt ab. Dann ging das große Dämonenheer unter klagendem Geschrei zugrunde, und alle Götterscharen jubelten auf. Die Götter und die großen Seher priesen die Göttin, die himmlischen Chöre sangen, und die Scharen der Himmelsfrauen tanzten.«

 

Die Mythen von der Entstehung der Göttin und ihrem Siege über den Stierdämon vollenden ihren Triumph. Sie ist Maya und Schakti des Allgottes, aber ihre Macht hält nicht nur alle Geschöpfe in Bann, sie ist auch für den höchsten Gott überwältigend: sein magischer Yogaschlummer, der die Welt visioniert, liegt als Bann der Schlaftrunkenheit auf ihm – die göttliche Mayakraft hält den Gott selbst befangen. Freilich gibt sie ihn, um das Weltspiel in seiner heilig hergebrachten Form geschehen zu lassen, willig frei, aber dann ist es wiederum sie, die Madhu und Kaitabha betört und Vischnu den Sieg schenkt, um dessentwillen er der »Madhutöter« heißt. Und Brahma richtet sein Gebet nicht an den »Herrn der Welt«, der in ihren Zauberbann geschlagen ist und verwunschen von der Maya wie alle ihre anderen Geschöpfe, sondern an sie, die alle Kräfte und Formen göttlicher Lebensessenz der Welt in sich vereint. Sie schwingt in ihren tausend Armen die Waffen und Geräte aller Götter, trägt den Schmuck aller göttlichen Fülle an ihrem Leibe; die Götter geben ihr in ihrer Not alles zurück, wodurch sie an sich selber Kraft und Eigenart besitzen: es ist nur von ihr geliehen, als strahlende Kraft aus ihr geflossen und vielfältig zu Göttern und Wesen geballt, wie jene Heere, die sie im Kampfe aus ihrem Atem entläßt. Es kehrt zu ihr zurück aus dem ohnmächtigen Zorne seiner Zersplitterung, um ihre überwältigende Gestalt zu bilden, die, alles in sich begreifend, spielend allem gewachsen ist. Die »Große Maya« ist Quell aller göttlichen Kräfte und Gestalten, auch Vischnus und Schivas wie Brahmas und aller Götter und Widergötter, und schlichtet Not und Streit der Welt, indem sie, in alle Welt verteilt, ihre Entfaltung zu den göttlichen Kräften leibhaft in sich zusammenrafft, um mit der vielfältigen Einheit dieser Fülle das Übermaß dämonischer Kräfte zu dämpfen.

In Brahmas Abdankung vor der Göttin beugt sich der männliche Geist der arischen Veden schließlich vor der Urmutter des vorarischen Indien, die »Unterworfenen fremden Blutes« verschmelzen mit den Fürsten der Eroberer, ihr sieghaftes Aufsteigen endet eine Weltherrschaft über indische Erde, die sie drei Weltalter lang unterworfen hielt. Es bedurfte dieser späten Zeitwende in der Geschichte Indiens und seines Mythos, um den Kampf der Göttin mit dem Stierdämon in einen kanonischen Bildersaal einzuführen, er selbst deutet auf hohes Altertum. Die Bezwingung des Stiers und seine Opferung gehört in ein Zeitalter, von dem Alt-Kreta und Vorderasien, aber auch Alt-Italien mit sakralen Stierjagden und Opfern zeugen. Die Gebärde des stiertötenden Mithras ist ihre Auferstehung und die Stierkämpfe in Andalusien und Südfrankreich ihr Fortleben. Die Bezwingung des Stiers reicht ins Weltalter von Atlantis hinauf, von dem Platon berichtet: Wenn die zehn Könige von Atlantis sich zum Gericht versammelten, pflegten sie vorher, um sich gegenseitige Treue zu bezeugen, auf wilde Stiere zu jagen. Theseus bezwingt mannhaft den Minotauros, wie Mithras den Urstier opfert, indes Frauen des altgriechischen Mythos sich willig seiner zeugenden Gewalt ergaben – aber die Göttin macht seiner Weltherrschaft ein Ende.

Der Stierdämon ist der große Widergott (asura), voll unbändigen Lebens (asu): zeugend und zersplitternd, rasend und zerstampfend meint er das Wilde und Dumpfe der Lebenskraft in seiner Maßlosigkeit. Wirbelsturm der Leidenschaft und dumpfes Brüten (rajas und tamas), die sich in Madhu und Kaitabha zweigestaltig aus dem Urwesen erhoben, um seine lichte Klarheit, Brahma, in der Knospe zu verschlingen, sind in seiner Urgestalt eins. In proteushaften Wandlungen zu Tier- und Menschenformen ist er die blinde Lebenskraft selbst, aber der Stier als Inbegriff männlichen Wütens ist sein wahrstes Gesicht, und die Mannsgestalt, aus der Stiermaske tauchend, ist seine letzte Zuflucht. Er meint die phallische Kraft der Natur als Schrecken: den ungebändigten Quell aller Gewalt, die von ihrer eigenen Drangfülle rasend und geblendet ist. Sein Toben verstört die Ordnung der Welt: das Ineinanderweben der göttlichen Teilkräfte, die er aus ihren Macht- und Wirkungssphären stößt; der Ansturm seiner alles in sich bündelnden Urgewalt wirft ungegliedertes Spiel zu Boden. Was sich in allen Göttern zum Partikularen differenzierte, muß wieder in eins verschmelzen, um dieser völlig undifferenzierten Urmacht zu begegnen. Der stierhaften Gewalt dumpfmächtigen Zeugungsdranges ist keine aus ihr abgeleitete Verwandlungsform, die geistiger und einseitiger Höheres verwaltet, gewachsen – nur das Ewig-Weibliche kann sie bezwingen, um den Bestand der vielfältig entfalteten Welt zu retten.

Das Mütterlich-Weibliche schlägt dem Stierdämon den Kopf ab, es vollzieht die Verohnmächtigung des rasenden Triebes, es bezwingt das prahlend Männliche, das die Herrschaft im Weltleib an sich riß, und gibt den höheren Funktionen in ihm ihre Ämter in ihren Sphären zurück. Das Weiblich-Mütterliche weist das Männliche in seine Grenzen und erhebt sich selbst zum herrschenden Prinzip – das ist die Lösung, die der Hinduismus für das Problem der Dämonie der Geschlechter gefunden hat. Sie entstammt dem vorarischen Indien, das sie mit dieser Fassung des Stiermythos prägte: daß die Weltmutter den phallischen Lebenstrieb bändigt. Mit diesem Siege hebt, wie mit Mithras' Opferung des Stiers, eine neue Weltordnung an, in der das Weibliche in allen seinen Gestalten dem Mannessinne als ein Mütterliches erscheinen soll: die Frau hat dem Manne als die Mütterliche zu gelten, denn sie gebiert ihn neu im Sohne, seinem zweiten Ich; in allem Weiblichen, in jedem kleinen Mädchen, stellt sich dem Hindu die Weltmutter dar – als mütterlich ist das Weibliche allerwärts geheiligt. Der Inder der Mythen lebt noch in der Mutter, er steckt noch in ihr; er hat zwar die Möglichkeit, sich dämonisch auf sich selbst zu stellen und den Kreislauf des Weltleibs zu stören, aber dann greift die überweltlich umfangende Macht hinein und löst diesen Krampf, um den sie weiß, wiewohl ihm enthoben. Der Inder hängt noch mit seiner Welt an der Nabelschnur des Lotosstengels, der dem Wasserschoße der Tiefe entspringt; die Geschichte des Mythos, der im Gange über seine vier Welt- und Lebensalter heimfindet zur »Mutter« und in die Feier ihrer tausendarmigen, alle Kräfte und Symbole vereinenden, das All erfüllenden Gestalt mündet, bezeugt es.

Im indischen Mythos schaut das Leben sich selber an und erkennt die Kraft, mit der es das schillernde Gewebe seiner sterblichen Gestalten unvergänglich webt als Maya oder Avidya, das ist Ahnungslosigkeit triebhafter Unvernunft, in der alles Dunkle und Lichte beschlossen liegt. Avidya meint: es nicht anders wissen; das Leben ist eine Reihe von Mißverständnissen, darunter beglückenden und produktiven, mit denen es sich selber fort und fort produziert. Der Heilige, der das Walten der »Großen Maya« lehrt, heißt den König und den Bürger auf die Vögel schauen: in den triebhaft nächsten Formen des Lebenswillens verlarvt sich lieblich die mächtigste Gewalt der Maya. In der tierhaften Liebe der Eltern zu ihrer Brut, in dem Wahn, sie würden die Wärme, die sich ihnen opfert, vergelten können, statt des eigenen Weges zu gehen und die Älteren von der Lebensweide zu verdrängen – mit dieser liebenswürdigsten Schlinge hält der Zauber der Maya alle Kreatur gefesselt.

Die »Große Maya« trägt als Mutter Kali, wie Vischnu und Schiva entfaltend und einraffend, ein Doppelantlitz: die Allgebärende, alles Ernährende ist auch die Verschlingerin alles Lebens, schwarzen Leibes, von Schädeln bekränzt, ist sie die Todesnacht, die den mythischen Weltentag in sich zurücknimmt und zerlöst. Die blutige Göttin schwimmt auf ihrem Boot inmitten eines Meeres von Blut: es ist das Blut ihrer Geschöpfe, die dunkle Lebensflut, die alles nährt und in ihre Tiefe schluckt, es ist die Milch des Lebens aus den Adern aller todgeweihten Kreatur, die sie als Opfertrank in unversieglicher Schädelschale ihren trunkenen Lippen kredenzt. Der Leib der Mutter, die alles aus ihrem Schöße hervorbringt, in ihren Brüsten nährt, auf ihren Knien hegt, ist auch das Grab. In ihr erschaut der Inder, was Schopenhauer in seiner astrologischen Betrachtung der Lebensalter mit der Hieroglyphe »Eros« umschrieb, »wie sich an das Ende der Anfang knüpft, wie nämlich Eros mit dem Tode in einem geheimen Zusammenhange steht, vermöge dessen der Orkus, oder Amenthes der Ägypter, der ›λάμβανων ϰαὶ διδοῦς‹ also nicht nur der Nehmende, sondern auch der Gebende, und der Tod das Reservoir des Lebens ist.« Der Tod als Mutter und das Leben als ein Traum – ein halber Kindertraum der kaum Geborenen, aber alles atemlose Grauen, entfesselte Dämonie und Wahnsinn des Entsetzens haben darin Raum: die Weltmutter Maya hat alle Dämonen als ihr Gefolge und ist ihre trunkene Bezwingerin: sie ist die Geborgenheit des Lebens in der völligen Preisgegebenheit, mit der es den Preis für seine immer erneute flüchtige Blüte bezahlt.


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