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5. Die Göttin als Maya

Vorzeiten lebte ein König Suratha, dem Geschlechte des Tschaitra entsprossen, der herrschte über den ganzen Erdkreis. Er beschirmte seine Untertanen wie es recht ist, als wären es seine leiblichen Kinder. Da erhoben sich Vasallenkönige wider ihn, die sich mit den Unterworfenen aus fremdem Blute verbündet hatten, und es gab Krieg. Zwar waren sie minder und sein Heerbann war großmächtig, doch der König ward von ihnen im Bunde mit den Unterworfenen besiegt. Da ging er in seine Stadt und war König über sein angestammtes Land, aber die starken Feinde, denen das Glück hold war, griffen ihn an, und seine eigenen Minister, bestochen und schlimm, raubten ihm Schatz und Heer – da stieg er, der Herrschaft bar, zu Pferd, als wollte er auf die Jagd und ritt einsam in die Wildnis.

Dort fand er die Einsiedelei eines edlen Brahmanen, der hieß Medhas, »Weisheit«; friedlich streiften in ihr die Tiere der Wildnis, ihr Schmuck waren die Schüler des Heiligen. Vom Heiligen als Gast geehrt, blieb er dort eine Weile. Er streifte umher und bedachte sich, sein Denken kreiste um »Ich«- und »Mein«-Gefühle: »Mein war die Stadt vormals, von mir regiert – jetzt ist sie verloren. Wird sie von meinen Dienern, die böse sind, regiert, wie es die ewige Ordnung will, oder nicht? Ich weiß es nicht. Mein edler Kriegselefant, der immer trunken von Brunstrausch war, ist in die Gewalt meiner Feinde geraten – welche Freuden wird er jetzt haben? Die mir in Treuen folgten, warten jetzt anderen Königen auf um Huld, Reichtum und Unterhalt, der Schatz, den ich mühselig aufgehäuft habe, wird hinschwinden bei ihnen, die ihn mit unrechtem Aufwand vergeuden.«

Dergleichen bedachte der König unablässig; da sah er bei der Einsiedelei einen einsamen Mann von bürgerlichem Stande und fragte ihn: »Wer bist du? Wie kommst du hierher? Warum siehst du so traurig aus?« – Der Bürger vernahm seine freundliche Frage, neigte sich vor dem Könige und gab ihm zur Antwort: »Ich bin ein Bürger, mit Namen Samadhi – das heißt ›Sammlung‹ –, ich stamme aus einer reichen Familie und bin von meinen schlimmen Söhnen und Frauen, die nach meinem Reichtum gierig waren, aus dem Hause geworfen worden. Bar des Reichtums und der Frauen und Söhne, die sich ihn nahmen, bin ich hierher in die Wildnis gekommen – elend von Freunden und Verwandten verjagt. Hier hause ich und weiß nicht: Geht es den Söhnen, meinen Leuten und den Frauen gut oder schlecht? Herrscht jetzt Wohlstand oder Mangel in ihrem Hause? Wie sind sie? Sind meine Söhne rechten oder schlechten Wandels?«

Der König sprach: »Wie? Dein Sinn umfängt noch mit Liebe die Deinen, die dich, nach deinem Reichtum gierig, verjagten?« – Der Bürger sprach: »Es ist so, wie dein Wort sagt. Was soll ich tun? Mein Sinn bringt keine Härte auf. Nach Reichtum gierig, taten sie Liebe zum Vater, Neigung zum Gatten und Verwandten von sich ab und verstießen mich – und eben ihnen ist mein Sinn zugewandt. Was ist das? Nicht erkenne ich das, obwohl ich es kenne, du Kluger, daß mein Sinn der Liebe zu den Verwandten nachhängt, auch wenn sie des Guten bar sind. Ihnen gelten meine Seufzer, und um ihretwillen bin ich traurig. Was tu ich, wenn mein Sinn sich nicht gegen die Liebelosen verhärtet?«

Da gingen beide selbander zu dem Heiligen; Bürger und König baten ihn um Gehör, saßen nieder und pflogen mancherlei Rede. Der König sprach: »Erhabener, eines will ich dich fragen, was meinem Sinn Leid bringt, ohne in meinem Denken gegründet zu sein – sag' mir das! Ich habe ›Ich‹- und ›Mein‹-Gefühle für meine Königsmacht und alle ihre Teile, wie einer, der nicht weiß, daß er sie verloren hat, obwohl ich die Wahrheit weiß – wie kommt das, hoher Heiliger? Und dieser Bürger ward von den Seinen vertrieben und verlassen, dennoch hängt sein ganzes Herz an ihnen. So sind wir beide sehr unglücklich, ›Mein‹-Gefühl zerrt unseren Sinn auf das Ding, dessen Fehle wir doch sehen. Wodurch kommt es, daß uns beide trotz Erkennen der Wahrheit Betörung umfängt? Woher kommt mir und ihm dieser Wahn, in dem wir blind für sondernde Einsicht sind?«

Der Heilige sprach: »Erkennen eignet jedem Geschöpf auf der Weide der Sinnenwelt, doch sondert es sich hierhin und dorthin: manche Wesen sind bei Tage blind, andere nachts, und manche sind bei Tag und Nacht von gleicher Sehkraft. Die Menschen erkennen – gewiß, aber nicht sie allein; Erkennende sind alle: Vieh, Vögel, Wild und anderes Getier, und das Erkennen der Menschen ist das gleiche wie bei Wild und Vögeln; Erkennen, das den Menschen eignet, ist auch jenen eigen. Wohl haben sie Erkennen, und doch – sieh die Vögel dort, wie emsig sie Körner in die Schnäbel ihrer Jungen schnäbeln, in Betörung, obgleich sie selber der Hunger quält! Die Menschen sind voll Liebe gegen ihre Kinder – gierig nach Gegenleistung sind sie es freilich, siehst du das nicht? Trotz ihres Erkennens stürzen sie in den Strudel des ›Mein‹-Gefühls, in die Fanggrube der Betörung: durch die Macht der Großen Maya wirken sie Bestand des endlosen Lebenskreises. Dabei ist nichts zu verwundern. Sie ist die magische Schlaftrunkenheit des Herrn der Welt, sie ist die Große Maya Vischnus, und alles was lebt, wird von ihr in Betörung gewirbelt. Die erhabene Göttin reißt mit Gewalt auch den Geist des Erkennenden an sich und gibt ihn der Verblendung preis. Die Große Maya entfaltet alle lebendige Welt, sie ist's, die gnädig Wünsche gewährt und den Menschen zur Erlösung verhilft. Sie ist höchstes Wissen, ewige Ursache der Betörung und Ursache der Bindung an den Samsara – sie allein, die Herrin des Herrn des Alls.«

Der König sprach: »Heiliger, wer ist diese Göttin ›Große Maya‹, von der du sprichst? Wie ist sie entstanden und was ist ihr Tun? Was ist das Wesen der Göttin, was ihr Ursprung?«

Der Heilige sprach: »Ewig ist sie, ihre Gestalt ist die Welt, von ihr ist das All rings ausgespannt. Dennoch ist ihr Ursprung vielfältig, das höre von mir. Wenn sie offenbar wird, um dem Werke der Götter zum Erfolge zu helfen, dann heißt es von ihr in der Welt, ›sie ist entstanden‹, obwohl sie ewig ist.

Am Ende einer Weltzeit, als die ganze Welt ein einziges Meer geworden war, streckte sich der erhabene Vischnu auf der Weltschlange hin und sank in magischen Schlaf. Da entstanden aus dem Schmutze seiner Ohren zwei schauerliche Dämonen, Madhu und Kaitabha genannt, die wollten Brahma töten. Brahma, der Herr der Wesen auf dem Lotos, der Vischnus Nabel entsprießt, erblickte die beiden schrecklichen Widergötter und sah, daß Vischnu in Schlaf versunken war. Da sammelte der Herr strahlender Kraft sein Herz in eine Spitze und pries die magische Schlaftrunkenheit, die sich Vischnus Augen zur Stätte erkoren hatte, um Vischnu von ihr aufzuwecken; er pries die Herrin von Allem, die Erhalterin der Welt, die der Welt entbreitetes Bestehen und ihr Zusammenraffen in Vernichtung schafft, die erhabene Schlaftrunkenheit Vischnus, die Unvergleichliche.

Brahma sprach: ›Du bist der heilige Opferruf Svaha, du bist Lebenskraft, du bist der heilige Spendenruf Vaschat – Schall ist dein Wesen! Trank der Unsterblichkeit bist du, Unvergängliche; dein Wesen liegt in den drei Zeiten der heiligen Silbe OM beschlossen, du bist in der Halbzeit beschlossen, die dem Verklingen der Silbe OM als Schweigen nachfolgt, du Ewige, die vom Unterschiedlichen her nicht auszusagen ist.

Du bist ›DIE‹! Bist der Weihespruch Savitri, der Einweihung verleiht, du bist die höchste mütterliche Göttin! Von dir wird alles erhalten, von dir wird diese Welt aus dir geschaffen und behütet, und am Ende ißt du alles wieder auf. Wenn du die Welt aus dir hervorgehen läßt, ist Hervorgehen deine Gestalt, Bestand ist deine Gestalt, wenn du behütest – so ist Zusammenraffen deine Gestalt beim Ende dieser Welt, o du, die du Welt bist! Große Weisheit, große Maya, große Einsicht, großes Gedenken, große Verblendung, verehrungswürdige große Göttin, große Widergöttin! Du bist der unterschiedlose Urstoff von allem und entfaltest dich in der Dreifalt unterschiedlicher Artung. Du bist die Nacht des Weltentodes, die Große Nacht und die Nacht der Verblendung, Unerbittliche! – Du bist das Glück, die Herrin du, Scham bist du und Vernunft, Verstehen ist dein Zeichen, Ehrfurcht, Gedeihen, Heiterkeit bist du und Seelenruhe und Geduld! Schwert trägst du und Spieß, du Grausige, Keule und Wurfscheibe, Muschelhorn und Bogen, Pfeil und Geschoß und eisenbeschlagenen Stab – lieblich bist du, lieblicher als alle Lieblichen, überaus Reizende! Allerhöchste über Hohem und Niederem bist du allein, allerhöchste Herrscherin! Was wo nur irgend west, gut oder bös – o die du aller Wesen bist, du bist die Kraft von alledem, die darin wohnt; wie soll ich dich da preisen? Von dir ist er, der die Welt aus sich hervorbringt, die Welt behütet und wieder aufißt, in Schlaf gebannt; wer ist hier mächtig, dich zu preisen? Vischnu, ich und Schiva, der Herr, sind durch dich leibhaftig geworden – darum: Wer hätte die Kraft, dich zu preisen?

Hab ich dich, Göttin, so mit deinen eigenen erhabenen Kräften gepriesen, so verblende diese beiden unüberwindlichen Widergötter Madhu und Kaitabha und führe den Herrn der Welt leicht zum Erwachen und gib ihm den Sinn ein, die beiden großen Widergötter zu erschlagen!‹

Als Brahma die Göttin voller Dunkelheit so gepriesen hatte, daß sie Vischnu erwachen ließe und er Madhu und Kaitabha erschlüge, stieg sie aus Vischnus Augen, Mund und Nase, aus seinen Armen, Herz und Brust auf und stand Brahma vor Augen. Und es erhob sich der Herr der Welt, der ›Quäler der Menschen‹, von ihr befreit, von seinem Lager im all-einen Meer, und er erblickte die beiden schlimmen Dämonen, die, übermächtig an Kraft und Mut, mit Augen rot vor Zorn, ansetzten, Brahma zu verschlingen. Da stand der erhabene Hari auf und kämpfte mit ihnen fünf Jahrtausende lang – seine Waffen waren die Arme. Aber die beiden, berauscht von ihrer übergroßen Kraft, verblendet von der Großen Maya, sprachen zum Lockigen Gotte: ›Eine Wahlgabe wähle dir von uns!‹ – Der Erhabene sprach: ›Beide stell' ich euch zufrieden, beide sollt ihr von mir getötet werden – was soll ich andere Wahl? So habe ich gewählt.‹

So waren die beiden betrogen. Sie blickten über die ganze Welt, die Wasser war, und sprachen zum lotosäugigen Gott: ›Schlag uns, wo die Breite von Wasser nicht überflutet ist!‹ – ›So sei es‹, sprach der Erhabene mit Muschelhorn, Wurfring und Keule in Händen und schlug ihnen mit dem Wurfring auf der Breite seiner Schenkel ihre beiden Köpfe ab.

So erstand sie, von Brahma selbst gepriesen; weiter aber vernimm von der Wundermacht der Göttin – ich künde sie dir:


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