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4. Schiva im Wald der Götterbäume

Vorzeiten hausten im Walde der Götterbäume, den Götter und Verklärte besuchten, große Heilige mit ihren Söhnen und Frauen und sammelten Glutgewalt in Askese. Mancherlei frommes Werk, das gedeihlichem Werden gilt, übten sie, opferten Opfer und glühten in Askese.

Da begab sich Schiva in den Wald der Götterbäume und klärte den ewigen Irrtum, in dem ihr Denken sich bewegte, da es auf Gedeihen und Werden gerichtet war. Der »Große Herr« nahm sich Vischnu, den Älteren und Lehrer des Alls, an seine Seite; so kaum der Friedebringer, um die Erkenntnis des Entwerdens aufzurichten.

Er nahm die schwellende Gestalt eines Zwanzigjährigen an, träge von Liebeslust, mit großen Armen, fleischigen Gliedern und weichen Augen. Sein Leib war goldfarben, und sein Antlitz war wie der volle Mond. Wie ein brunsttrunkener Elefant schritt der Herr der Welt einher; er war ganz nackt, der Himmelsraum war sein Gewand.

Vischnu, der ihn lächelnd begleitete, trug eine aus Gold gefertigte Blumenkette, mit Juwelen geziert. Er, Urwesen und Schoß der Welt, nahm Frauengestalt an; so folgte Vischnu dem Spießträger. Sein Gesicht war wie der volle Mond, voll und steil standen die Brüste, sein Lächeln strahlte. Er war heiter, paarweis klingelten seine Knöchelringe, leuchtend gelb war das Gewand des Dunkelfarbigen mit den weichen Augen; er schritt mit dem edlen Gang eines Schwans daher. In seinen Reizen spielend, berückte er die Sinne, mit seiner Maya betörte er die Welt

Wo immer die Frauen Schiva einherschreiten sahen, wurden sie von seiner Maya betört und folgten ihm nach. Alles Gewand, das sie trugen, sank von ihnen ab, sie vergaßen alle Scham; die gattentreuen Frauen zogen, von Liebe gequält, mit ihm dahin. Aber die Söhne der Seher, die jungen Männer voll gebändigten Wesens, folgten alle Vischnu, dem Herrn der Sinne, nach, von Liebesverlangen gepeinigt Die Scharen der Frauen sangen und tanzten in verlockendem Spiel um ihn, der sie führte, den Einzigen Herrn. Die Söhne der hohen Weisen fielen lächelnd vor ihm nieder, als sie ihn mit dem Weibe sahen, und umarmten den Überlieblichen, Ersehnten und sangen Lieder, andere winkten Vischnu mit den Brauen, als sie ihn erblickten. Der mayagewaltige Vischnu ging in ihren einzigen Wunsch ein, er ging in ihren Geist ein und schuf ihnen Wonnen, die in ihrem Geiste spielten: sie erlebten sie, dank seiner Maya, als ob sie wirklich wären. Als Schiva, von Vischnu und den Frauen umgeben, mit allen Frauen umging, sah es aus, wie wenn er mit seiner alleinen göttlichen Kraft und Gattin umginge, die sich spielend mit ihm zu zahllosen Paaren vervielfachte.

Die Heiligen sahen, wie Schiva das Frauenvolk und der lockige Vischnu ihre Söhne betörte und gerieten in gewaltigen Zorn, sie gaben dem Gotte harte Worte und fluchten ihm in vielen Reden, von seiner Maya betört. Aber all ihre Glutgewalt, in Askese gesammelt, in Flüchen über ihn entladen, prallte ohnmächtig am Friedebringer ab, wie der Sternenglanz des Himmels am Schein der Sonne. Asketen und Vedakundige kamen zuhauf und schmähten ihn: »Wer bist du?« fragten sie, von ihm betört, und der Erhabene gab zur Antwort: »Um in Askese zu glühen, bin ich mit meiner Gattin in dies Land gekommen – um euretwillen, ihr Frommen!«

Als Bhrigu und andere Stiere unter den Weisen seine Rede hörten, sagten sie: »Erst zieh ein Gewand an und verstoße deine Frau – dann glühe in Askese!« – Da betrachtete er Vischnu, der ihm zur Seite stand, und sprach auflachend zu ihnen: »Ihr härmt euch doch selbst eure Frauen zu ernähren, warum sagt ihr: ›Verstoße deine Frau!‹ – Ihr Wisser ewiger Ordnung, die ihr friedvollen Geistes seid?« – Die Heiligen sprachen: »Frauen, die vom Wege weichen, soll der Gatte verstoßen, aber unsere treu ergebenen guten Frauen haben es nicht verdient, daß wir sie wegschicken.« – Der Große Gott sprach: »Niemals, ihr Weisen, begehrt meine Frau auch nur im Geiste einen anderen, und ich lasse sie auch niemals von mir.« – Die Seher sprachen: »Wir haben gesehen, wie sie sich verging, verworfener Mensch! Du sprichst die Unwahrheit, mach' dich schleunigst fort von hier.« Da antwortete der Große Gott: »Ich redete wahr, eure Einbildung ist sie« – und verließ die Seher und schritt von dannen.

Er kam mit Vischnu in die Einsiedelei Vasischthas, des hohen Asketen voll großen Wesens, und bat um Essen. Als dessen geliebte Gattin, Arundhati, den Gott bettelnd nahen sah, schritt sie ihm hingebungsvoll entgegen und neigte sich vor ihm. Sie wusch ihm die Füße und bot ihm einen Sitz. Sie sah, daß sein zarter Leib von den Schlägen der Brahmanen verwundet war; da pflegte ihn die Reine bekümmerten Gesichts, bezeigte ihm tiefe Verehrung und fragte ihn: »Wer bist du, Verehrter? Woher kommst du mit deiner Gattin? Was ist dein Wandel? Sag an!« – Der Erhabene sprach: »Ich bin der höchste der Verklärten; was dort als strahlendes Rund, von Brahma geschaffen, immerdar als Sonne glänzt: eben die Gottheit bin ich und trage mich immerdar mir.« – So sprach der Strahlende und schritt, der gattentreuen Frau seine Huld bezeigend, von dannen.

Aber die Brahmanen schlugen ihn mit Stöcken, warfen nach ihm mit Erdklumpen und trafen ihn mit ihren Fäusten, als sie den Herrscher vom Berge nackend in verwandelter Erscheinung dahinschreiten sahen; sie riefen: »Reiß dein Lingam ab, Verruchter!«, und der große Yogin sprach zu ihnen: »Ich will es tun, wenn ihr mein Lingam nicht leiden mögt!« Der Erhabene sprach es und riß sich sein Lingam aus, aber im selben Augenblick sahen sie ihn selber nicht mehr, auch nicht den lockigen Vischnu, noch das Lingam. Dann geschahen Zeichen, die aller Welt Gefahr verkündeten: die Sonne schien nicht mehr, die Erde erbebte, alle Wandelsterne verloren ihren Glanz, und das Weltmeer wallte auf. Die gattentreue Frau des Heiligen Atri schaute ein Traumgesicht und erzählte es furchterfüllt den vedakundigen Brahmanen. »Alles mit blendender Glut erhellend, sah ich Schiva mit Vischnu als Gefährten in unseren Häusern betteln gehen.«

Als die Seher ihr Wort vernahmen, befiel sie Furcht, und alle gingen zum yogagroßen Brahma, dem Ursprung des Alls. Der saß auf einem von vielen Wundern gezierten Sitz, der, von tausendfältigem Schein erfüllt, Erkenntnis, Allgewalt und andere Kräfte in sich barg; die vier Veden und das heilige Weihgebet Savitri umstanden ihn leibhaft. Er lächelte, seine Augen glänzten, und gnädig fragte er die Heiligen nach dem Grund ihres Kommens. Da taten sie ihm alles kund, was sich begeben hatte, und fragten: »Wer ist dieser Mann? Wir sind voll Furcht und suchen bei dir Schutz, du Unerschütterlicher! Du weißt alles was in der Welt geschieht, darum hilf uns gnädig!« Da versenkte sich der Lotosentsprossene in innere Schau und erschaute den Gott, der den Dreispieß als Zeichen führt, und sprach mit andächtig zusammengelegten Händen: »Wehe, Unheil erstand euch da, das all euren Gewinn zunichte machte. Fluch eurer Kraft, Fluch eurem Wandel in asketischer Glut, fruchtlos sind sie euch jetzt geworden! Den höchsten Schatz aller Schätze, die in Heiligkeit wurzeln, habt ihr erlangt, aber falschen Wesens und betört, habt ihr ihn übersehen. Den Schatz, nach dem Yogin in Ewigkeit verlangen, und um den Asketen in Glut sich mühen, habt ihr bekommen und – weh: ihn übersehen! Ihn zu erlangen opfert der Vedenkundige mit vielerlei Opfern, aus seiner Verehrung stammt meine Allherrschaft, ihn übersaht ihr – und saht doch den Schatz, ihr Glückverlassenen! Dieser Gott soll als der ›Große Herr‹ erkannt werden, nichts läßt sich als sein fernster Schritt begreifen. Wenn die Götter und alle leibhafte Welt am Ende von tausend Weltaltern sich auflösen, reißt Er, zum Todbringer Zeit geworden, sie in sich zusammen; Er bringt alle Geschöpfe aus sich hervor durch seine Glutgewalt: dann trägt er die Zeichen Vischnus und herrscht rings über die Welt. Im ersten vollkommenen Weltalter ist er der Yogin, im dreiviertel vollkommenen ist er das Opferritual, im halb vollkommenen Weltalter wird der Erhabene zum Todbringer Zeit, im letzten Kali-Weltalter führt er die ewige Ordnung als sein Zeichen.

Drei sind die Formen des Gottes, mit denen das All ausgespannt ist: dumpfe Trübe, das ist der Feuergott; schöpferischer Wirbel der Leidenschaft, das ist Brahma; und lichte Klarheit, das ist Vischnu. Noch eine andere Gestalt wird von ihm gelehrt: die Luft ist ihr Gewand, gütig ist sie und fest in Ewigkeit, in ihr befindet sich dieses Brahma vom Yoga getragen. Die Frau aber an seiner Seite, die ihr als seine Gattin anspracht, ist Vischnu, das höchste ewige Wesen. Aus ihm ist alles geboren, und in ihm wird es sich wieder auflösen; er kann alles erlösen, er ist der höchste Pfad. Der Urkeim der Welt ist sein Same, der Erhabene ist die Wasser, Maya ist der Leib des Herrn. Am Ende einer Weltzeit reißt das höchste Wesen das All in sich zusammen, trinkt den Unsterblichkeitstrank des Yoga und schlummert ein: das ist Vischnus höchster Schritt. Nicht wird er geboren, noch stirbt er, noch wächst der Allschauende, den Ungeborenen besingen die Vedawisser als unentfalteten Urstoff. Wenn dann die Nacht zu Ende geht und es ihn verlangt, die ganze Welt aus sich herauszulassen, dann wirft Schiva den Keim in den Nabel des Ungeborenen Vischnu – wißt: der Keim bin ich, Brahma, der sein Gesicht allerwärts hat. Aber das große Urwesen, den All, den höchsten Keim in den Urwassern, erkennt ihr nicht, den Erzeuger, die ihr betört von seiner Maya seid: den Gott der Götter, den Herrn der Geister, Hara, den Wegraffer. Der Große Gott, der anfangslose Hara, schafft und entschafft mit Vischnu vereint, bei ihm findet sich nicht Not noch Zweck, nicht findet sich, was über ihn hinausliegt. Sein Leib ist Maya, in Yoga geschaffen, er gab mir vorzeiten die heiligen Veden, der Mayahafte schafft und entschafft alles mit seiner Maya. Erkennt ihn um eurer Erlösung willen und nehmt eure Zuflucht zu Schiva.«

Als der Erhabene so sprach, neigten sich die Heiligen und fragten gesammelten Geistes: »Wie können wir den Gott mit dem Dreizack wieder schauen?« – Brahma sprach: »Weil ihr sein Lingam saht, das zur Erde fiel, fertigt ein herrliches Lingam, das dem seinen gleicht. Verehrt es andächtig mit euren Frauen und Söhnen und wandelt dabei in Keuschheit unter Gelübden, die in den Veden gelehrt sind. Richtet das Lingam auf unter Sprüchen an den Friedebringer, die allen Veden entstammen, übt strengste Askese und sagt seine hundert Namen auf. Verehrt ihn gesammelten Geistes und fallt vor ihm nieder, dann werdet ihr den Herrn der Götter schauen, der schwer zu schauen ist für alle, die nicht an ihres Wesens Kern geschaffen haben, und des Anblick allen Erkenntnismangel und alle Schuld vernichtet.«

Da zogen die Seher erfreut wieder in den Wald der Götterbäume und warben um die Gunst des Gottes, wie Brahma sie gelehrt, unkundig seiner höchsten Form, aber frei von Leidenschaften und Ichsucht. Auf nackter Erde, in Berghöhlen und auf einsamen Sandbänken der Flüsse saßen sie, manche aßen nur Wasserschlingkraut, andere lagen immer im Wasser, manche, die Wolken über sich als Dach, standen auf einer Zehe, andere brauchten ihre Zähne als Mörser, um die rohen Reiskörner zu zermahlen, die ihre einzige Kost waren, andere nahmen nur Steine dazu, manche aßen nur rohes Kraut und Blätter, sie ergaben sich Waschungen, tranken Lichtstrahlen, hausten unter Baumwurzeln und schliefen auf Steinplatten. So brachten sie die Zeit in Askese hin und verehrten den »Großen Herrn«.

Da entschloß sich Hara, der die ihm Ergebenen von Leid erlöst, sie zu begnaden und zur Erkenntnis zu erwecken. Gnädig kam er zum Wald der Götterbäume, sein Leib war weiß mit Asche beschmiert, er war nackt; in gewandelter Erscheinung hielt er einen Feuerbrand in Händen, er hatte rotgelbe Augen. Manchmal lachte er furchtbar auf, manchmal sang er wunderbar entrückt, dann wieder tanzte er zärtlich-sinnlich, und dazwischen brüllte er immer wieder. Durch die ganze Einsiedelei zog er als Asket und bettelte sich fort: diese mayahafte Gestalt gab sich der Gott und kam in den Wald.

Er gesellte sich seine Gattin Gauri, die Tochter des Himalaya, die Herrin der Götter kam in der gleichen Gestalt wie vormals Vischnu in den Hain. Als die Heiligen den Gott samt der Göttin genaht sahen, neigten sie sich und feierten ihn mit Sprüchen der Veden und schönen Preisliedern: »Anbetung dem Gott über Götter, dem Dreiäugigen mit dem Dreispieß! Luft ist dein Gewand, Verwandelter du, vor dem sich alle Götter neigen, der sich selbst vor keinem neigt. Du bringst dem Endebringer Tod das Ende und reißt alles vernichtend in dich hinein. Deine Art ist es zu tanzen: Anbetung dir in deiner Schreckensform! In deinem Leibe vereinst du Mann und Weib, du Yogin und Lehrer! Selbstbezwungen ruhevoll bist du und schreckend als Rudra im Gazellenfell; schreckenlos, schreckenvoll ist deine Erscheinung! Die Ganga trägst du auf deinem Haupte, dein Leib ist mit Asche beschmiert, du schlugst Brahma das Haupt ab und erscheinst als todbringende Zeit. Dein Kommen kennen wir nicht, noch dein Gehen, Gütiger, der beim großen Ende alles in sich schmilzt, Herr der Quirlgeister, Schenker von Glück und Fülle, der die Schädelschale trägt, Meistgeliebter! Dein Lingam ist Wasser und Feuer, Sonne und Erkenntnis, du bist der Tod des Todes. Vergib, was wir in Verblendung taten; wunderbar ist dein Wandel, allen, selbst Brahma, schwer zu erkennen. Was immer Menschen aus Erkenntnismangel oder Erkenntnis tun, all das tut der Erhabene selbst mit der Maya seines Yoga.« So priesen sie den Großen Gott – in ihrem Herzen von ihm durchdrungen – und baten: »Wir wollen dich sehen in deiner früheren Gestalt.«

Da zeigte der mondmilde Friedebringer, der die Mondsichel im Haar trägt, ihnen seine frühere Gestalt, und sie erschauten den dreizacktragenden Gott mit der Göttin wie vormals und neigten sich vor ihm. Sie fragten ihn, mit welchem Yoga sie ihm nahen sollten: mit Askese oder Erkenntnis? Er lehrte sie sein Geheimnis: »Nicht durch Yogaaskese allein wird das höchste Wesen erschaut, nur die wahre Erkenntnis schenkt Erlösung. Ihr mühtet euch ganz in Askese ab, darum kam ich hierher, um die Menschen, die ganz der Werkfreudigkeit verfallen sind, ihren Wahn erkennen zu lassen. Vernehmt die fleckenlose Erkenntnis, die Vollendung in Entrücktsein schafft: Eines und allerwärts ist das Wesen, entrückt und reiner Geist; Seligkeit ist es, fleckenlos und ewig. Wer sich an dieses Höchste hält, einzig in ihm steht und geht, der mächtige Asket schaut mich, den Herrn, den All. Dieses ist meine freundliche Gestalt. Es werden viele Wege zur Vollendung gelehrt; Erkenntnis, die auf mich zielt, ist ihnen überlegen. Vorzeiten schuf ich das Gelübde des Glaubens an den ›Herrn der Tiere‹: friedvoll, gebändigten Sinnes, den Leib mit Asche bestäubt, keusch und nackt wandle der Mensch! Oder nur mit einem Lappen um die Lenden oder in einem einzigen Gewand, den Leib mit Asche beschmiert und der Lüste bar, pflege der Asket das Wissen der Veden und weihe sich dem ›Herrn der Tiere‹ in inneren Gesichten! Ohne Verlangen, Furcht oder Zorn, in ihrem Stoff mir gleich geworden, sind viele durch diesen Yoga rein geworden und zu mir eingegangen. Es gibt noch andere Lehren in der Welt, die verwirren und den Veden widerstreiten – auch diese habe ich verkündet. Folgt diesem Pfad, dann wird euch die höchste Erkenntnis aufgehen, und glaubt an mich: ich schenke mich nur innerer Schau!«

So sprach der Mondhafte und verschwand allda. Die Heiligen blieben im Hain der Götterbäume und wandelten nach seinen Worten. Sie kamen zusammen und fragten sich: »Was ist die Wurzel der Welt und ist unser eigenes Wesen? Wer ist wohl der Grund aller Formen des Seins und ihr Herr?« Als sie sich so bedachten und festhielten am Wege innerer Schau, ward die Große Göttin offenbar. Von einem Flammenkranz umringt, strahlte sie wie tausend Sonnen und füllte mit fleckenlosem Scheine das Firmament. Da neigten sich die Heiligen vor der einzigen Gattin des Herrn über alles und erkannten: »Dies ist sein höchster Keim. Sie, unsere Zuflucht, ist die Gattin des Höchsten und ist auch unser eigenes Wesen: ›All-Raum‹ ist ihr Name.« So schauten sie freudig ihr eigenes Wesen und rings das All in ihr.

Die Gattin des Höchsten betrachtete sie; da schauten sie auch den Gott, den Grund aller Dinge, den friedewesenden weisen Herrn, schauten beide und fühlten letzte Seligkeit. Überwältigende Erkenntnis der Wahrheit offenbarte sich strahlend und erlöste sie von aller Wiedergeburt: » Sie ist der Schoß aller Welt, ihr Wesen ist das Wesen aller, sie meistert alles: die Kraft des Großen Gottes, anfangslos vollendet. ›All-Raum‹ ist ihr Name, strahlend erfüllt sie den Weltraum. In ihr ist der Große, der weit jenseits an höchster Stätte weilt: Schiva, der Einzige. Er schuf das All, das in seiner Kraft wurzelt, seiner Maya waltend. Der mayahafte Gott, in allen Wesen verborgen, vollteilig teillos: Er eben ist die Göttin und nichts ist von ihm verschieden. Wer das erkannt hat, ist unsterblich.«

Die Geschichte vom verführerischen Asketen und seiner Begleiterin im Walde der Deodarbäume – in den »Alten Überlieferungen« mehrfach erzählt – dient, wie sie hier berichtet wird, handgreiflich der Heiligung des vorarischen Lingamkultes und der besonderen Verehrung Schivas als »Herrn der Tiere« (Paschupati) im hinduistischen Brahmanismus. In dieser Verehrung soll der Mensch die Grenzen des Endlichen durch asketischen Wandel im Yogaerkenntnisweg überwinden unter Verzicht auf weltliche und überweltliche Macht- und Glücksziele, die dem Reiche der Maya angehören und durch asketische Werkfrömmigkeit erlangt werden können, wie die Heiligen sie üben, die Schiva nicht erkennen wollen.

Der heimatlos schweifende, bettelnde Pilger in völliger Blöße tritt den Einsiedlern gegenüber, die zwar auf die Welt verzichtet haben, auch auf weltliches Ehe- und Familienleben, aber noch mit Weibern und Söhnen befaßt sind. Der lauten, engen Menschenwelt abgedankt, weihen sie sich, jeder für sich, aber einmütig in ihrem Bemühen, dem Ziel überweltlich -gotthafter Macht, magischer Fülle und Seligkeit; sie sind zwar in den Wald gegangen, aber sie hängen an diesem Höhlen- und Laubenidyll der Wildnis wie an seiner asketischen Besitz- und Tugendordnung als der Ebene verfeinerter Maya. Der Übergang zu völliger Entblößtheit und einem verwirrenden Jenseits und In-Eins aller Gegensätze, zu dem der laszive Asket und seine Begleiterin zu führen scheinen, dünkt ihnen Verführung. Diese beiden brauchen nur aufzutauchen, um den Selbstbetrug dieser Askese offenbar zu machen: die Unvollkommenheit der Entsagung, mit der diese verbissen Tugendhaften, glühend Selbstgerechten sich selber blenden, daß sie nicht sehen, wie sehr ihre asketischen Frauen und Söhne, ja sie selbst der Welt und ihren Trieben noch verfallen sind. Ironie: das fremde Asketenpaar wirkt unter den Heiligen Verführung zu Sinnenlust und Eifersucht, sein Anblick stört die Weltverfallenheit auf, die unter Opfern und Observanzen, asketischer Glut und Gehorsam mächtig ist: der Anblick der Söhne, die das fremde Mädchen anschmachten, versetzt die Alten in Raserei, der mänadische Jubel der Frauen bringt die heiligen Männer, die geschlechtlos leben, außer sich. Sie sehen in Schivas Nacktheit schamlose Welthingabe, unterschiedslose Lustbereitschaft wie bei seiner verlockenden Freundin, ihr Beieinander dünkt ihnen der Gipfel des Hohns auf seinen Anspruch, Asket zu sein. Schiva kommt wie Dionysos – als diesen empfanden ihn die Griechen – als der paradoxe, ironische Fremdling: unerkannt geht er vorüber, er ist der Gott, der sich verkennen, verfluchen und mißhandeln läßt, ohne zu widerstreben; schließlich verschwindet er lautlos. Das In-Eins der Gegensätze ist dem auf Ziele ausgerichteten, notwendig einseitigen Menschen anstößig: der phallische Asket, der Weltabgedankte, der zur Lust verlockt, der kein Weib anblicken sollte und die verkörperte Lust als Weibsgestalt mit sich führt, ist in bestürzender, empörender Weise der »Ganze«, alles Gegensätzliche in sich Umfassende.

Vischnu heißt auch der »Ganze«, der »All«, und ist es in kosmisch umfassendem Sinne: er ist der Schoß aller vielfältigen Ausgeburt an Kräften und Gestalten; Götter und Dämonen, Menschen und Ungeheuer. Lichtes und Trübes gehen aus ihm hervor, der die Welt in seinem Bauche beschließt; Schiva aber, der »Jagadguru«, der »Lehrer der Welt« stellt die Einheit des sich Widersprechenden sinnfällig an sich dar als Essenz der Wirklichkeit. Rätselhaft rafft er weg, was als sein Wesen erscheinen könnte: der Jubel der Götter geleitet den großen Asketen zur Hochzeit, daß er der große Liebende und Zeugende sei, und sein Sohn, der die Welt errettet, ist der Gott gewaltsam vervielfachten Todesgrauens. Im paradoxen Bilde des phallischen Asketen offenbart sich sein Geheimnis: der Asket meint das Göttliche in seiner ewig form- und tatenlosen Ruhe, in der leeren Stille seiner Weltentrücktheit: ein Meeresspiegel ohne Kräuseln; das Lingam aber meint das zeugende Spiel des Göttlichen, sein sich Hinschießen- und Geschehenlassen zum Werden der Welt; lustvoll und zweckfrei geht die Maya der Welt aus seiner Stille hervor als die sichtbare Seite Gottes und der Wirklichkeit, als das Teil, an dem der Mensch sich selber greifen kann – der bewegte, schimmernde Schleier, der von der Stille zeugt, die er verhüllt.

Zwei Seiten des Göttlichen, zwei Seiten alles Wesens: werden sie auseinandergerissen, wird dem Asketen sein Lingam genommen, so schwinden beide ins Unfaßbare, und nach den Zeichen, die geschehen, scheint der Bestand der Welt bedroht für den, der diese Trennung erzwang. Erst die Verehrung des Lingam und die Erkenntnis, die sie in sich schließt, bringt die Versöhnung des Gottes und sein Wiedererscheinen. Das Lingam verehren, meint hier: das Ungreifbare in der Form verehren, die seine greifbare Erscheinung hervorbringt und alle Vielfalt greifbarer Ausgeburten als ihr Quell in sich begreift: das Entrückte, dem der Mensch sich nahen will in Verzicht auf die sichtbare Welt, will eben im Sichtbaren, in seiner Maya verehrt werden: nur so erfüllt sich das Erlebnis des Göttlichen und Wirklichen als des Ineinander sich feindlicher Gegensätze, gewinnt sich die Erfahrung der höheren Einheit, die den Menschen von seiner Besessenheit, zu unterscheiden, von seiner Bindung an das Ein-oder-Andere erlöst.

Die Brahmanen werfen dem wandernden Asketen vor, seine Begleiterin buhle mit anderen; er leugnet es, daß sie je ohne ihn sei, je von ihm getrennt – er ruft ihnen zu: »Eure Einbildung ist sie.« Sie ist die weltschaffende, welterhaltende Maya und Schakti, die bewegende Kraft, die bewegte Seite der Stille jenseits, sie ist die Einbildung der Geschöpfe der Maya, die, in ihrem Banne, ihre eigene, ihnen greifbare Bewegtheit für ihr ganzes Wesen nehmen. Darum zeigt die sich steigernde Selbstoffenbarung des Gottes schließlich die Göttin statt seiner und ihn selbst unlöslich mit ihr verschmolzen als zweideutige Einheit, die das Wesen des Wirklichen ist und deren Erkenntnis erlöst.

Die Göttin und der Stierdämon

Das verborgen Weibliche an Vischnus kosmogonischer Gestalt entschleiert sich im letzten Weltalter des indischen Mythos, wenn die große vorarische Weltmutter endlich ihren Einzug ins hinduistische Pantheon hält: nun ist Vischnu eine Erscheinung von ihr geworden und begleitet ihren Gatten als Weib. Wenn er als Urmann mütterlich die Welt in seinem Leibe trug, deutete er in einer etwas wunderlichen Weise auf das Geheimnis ewiger Selbstbegattung des Göttlichen im Spiele des ruhenden Schiva mit seiner bewegten Schakti, das den Heiligen des alten Brahmanismus anstößig dünkte, bis sie es als die Einheit von Welt und Überwelt, Greifbarem und Ungreifbarem erkannten.

Wenn Schiva zum zweiten Male den Wald der Deodarbäume betritt, ist er grauenhaft und entzückend zugleich, verlockend und befremdend: ein Rätsel, das gelöst sein will – so wie das Ungelöste in uns, das wir uns nicht zueignen mögen, indem wir es durchdringen, diesen zweideutigen Zug an sich trägt. Krischna ist der Bezaubernde, Schiva der Befremdende: anstößig und verlockend, dabei belehrend, er ist auch der Geduldige, der keiner Zumutung widerstrebt und eben darum unbezwungen bleibt. Der wandernde Fremde ist der Seelengeleiter, der hinwegführt, der am Menschen die Schale zerbricht, die er sich festzuhalten müht und gegen den Fremdling verteidigt. Unter den Verführungen, die an ihm aufblitzen, fehlt die Versuchung zur Lust am ehesten, sie ist ein Schein – fühlbar ist die Versuchung zum Tode als einem Aufbruch aus dem Ein-und-Anderen. Nach Erfüllung und Genuß des Lebensrituals in Heim und Wald muß als viertes Lebensstadium ein letztes kommen, das all dies auflöst; der Mystagog und Verwandler zu diesem Ziel ist der Gott des vierten Weltalters, der aus Verwurzelung in Welt und Einsiedelei hinwegführt in die Heimatlosigkeit, ins ganz entblößte, zielfreie Pilgern. Was ausgegrenzt und unvollzogen blieb, fasziniert, das Leben wird des Geleisteten müde, das Fremde lockt, das Ungelebte winkt verführerisch, denn es verlangt, gelebt zu werden: so will das Ungeborene gezeugt und ausgetragen sein, das Halbe rund werden und das Ganze zerfallen. Indien hat mit seinen vier Lebensstadien im Widerspiel zu den beiden aufbauenden voller Bindungen zwei gegensätzliche, abbauende: Einsiedeltum und Pilgerschaft heiliggesprochen – im Spiel des Widerspruchs soll das Leben ganz werden. Sein mythisches Bewußtsein trägt die Einheit der Gegensätze: Aufbau und Abbau, Tag und Nacht als Gleichgewicht des Lebens in sich und gibt ihr Spiel dem Menschen als Weg; schon Zarathustras chiliastisches Weltbild enthält mit seinem moralisch-kosmischen Schwarz-Weiß-Schema eine einseitige Lebensdynamik, die solche naturhafte Weisheit nicht mehr verträgt, die christliche und moderne Welt bauen darauf weiter und strecken die Haltung aufsteigenden Lebens krampfhaft über den absteigenden Ast.

Der Asket, der aufzulösen kommt, was, in sich selbst verkrampft, sich zu verhärten droht, ist unheimlich: aus dem Vertrauten weist er ins Weglose. Aber das Befremdende zieht an, denn insgeheim will das Leben ganz werden. Die Gegensätze fordern einander: die schweifende Verführerin Venus-Lilith ist als Begegnung und Einweihung so wesenhaft, als Hieroglyphe für die Gebärde des Lebens und des Weibes so bedeutend, wie die Hieroglyphe der Mutter: Maria, Anna, Kybele. Aber wenn der Mann das Weib ganz zur Mutter und Hausfrau macht, sein Mannsein etwa gleich mit diesem Typus anfing – Erziehung, Familie, Moral drängen ihn dazu –, dann erhält der unerlebte Lilithtyp etwas romantisch Dämonisches, faszinierend Fremdes. Der Vagabund, der Unbehauste und die frei schweifende Venus – Schiva und seine Gefährtin – sind beide so ursprünglich, lebenssymbolisch und urbildhaft wie Hausvater und Kindsmutter. Aber Gesellschaftserfahrung und Elternweisheit, Besitztrieb und Sicherheitsbedürfnis scheiden zwischen Ordnung und Abenteuer; die Urbilder, die Erhaltung meinen, treten als Idealfiguren in den Vordergrund, der Wanderer, die Verführerin werden in Schatten gedrängt, aus der umpflügten Dorfgemarkung geregelten Lebens in die Wildnis verbannt. Vertrieben und ungeehrt werden sie fremd, geheimnisvoll und faszinierend. Sie nehmen rachsüchtige, gefährliche Züge an; Dionysos trägt ein grausames Rätsellächeln, wenn er seine rauschhafte Verwirrung in die Menschen wirft und sie mit seiner Wut befällt, daß sie Tiere und Menschen mänadisch zerreißen müssen, um sich wie reißende Tiere zu letzen, weil sie die dunkle Gewalt des Gottes nicht als Wesen ihrer selbst ehren mochten. Verführerische Urbilder wie er sind so verlockend und unwahrscheinlich, in »smaragdenem Goldglanz« schimmernd, weil alles Ungelebte glühend sie umwebt. Sie wären etwas Wirkliches, wie vieles andere, imponierend wohl, aber nicht faszinierend und ins Ungeheuerliche verschwimmend, wenn der Mensch sie erfüllt hätte. Sie gehören in den Reigen der Urbilder des Lebens, die über seinen Wegstrecken schweben, um sich nacheinander einweihend auf den Wanderer niederzulassen.

Der Mythos bewahrt diese Urbilder der Lebensgebärden als natürliche Sakramente, durch deren Aura der Mensch schreiten soll, um von ihnen durchtränkt zu werden und auf einen Augenblick unbewußt ihre Gebärde zu sein, um so nacheinander an ihnen ganz zu werden. Indem der indische Mythos in seinem letzten Weltalter den »Herrn der Tiere«, den abseitig fluchbeladenen Meister aller Schrecken, Geister und Dämonen, an sich nimmt und als den »Großen Gott« feiert, löst er den Bann der ausgrenzenden Haltung, der ihn selbst gegenüber dem Ungeheuren befangen hielt, wie der pilgernde Asket die Beschränktheit und Verkrampfung der Waldeinsiedler löst – so wird er ganz und kann enden.


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