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I

1. Vischnus Maya

Heilige Seher, die als Einsiedler in der Waldwildnis lebten, sammelten sich bei der Einsiedelei des heiligen Vyasa, der ein Quell göttlicher Offenbarung war, und lauschten seinen Lehren. Einmal befragten sie ihn um das Geheimnis der Welt, um die Kraft des Allgottes, die alle Wesen befängt: »Wir wünschen uns, die große Maya Vischnus zu erkennen, die gewaltig schwer zu überwinden ist. Aber du weißt um die ewige Ordnung, du sollst uns Vischnus Maya künden – danach tragen wir höchste Wißbegier.«

Der Heilige Vyasa antwortete ihnen: »Die Maya Vischnus gleicht dem Gaukelspiele eines Traumes, und sie reißt alle Welt in ihren Bann. Wer kann die Maya des höchsten Gottes erkennen, außer dem lockigen Gotte selbst? Aber laßt euch eine Geschichte erzählen von der Betörung, die seine Maya vorzeiten gewirkt hat.«

Da erzählte der große Weise die Geschichte von einem Königssohne, der Kamandamana hieß, das ist »Bezwinger der Wünsche« und »Bezwinger der Sinnenlust«, und ein Leben führte, das seinem Namen entsprach: »Er lebte ganz der Erfüllung frommer Pflichten und Übungen, war voller Langmut und fand seine Freude darin, seinem Vater zu gehorchen und allen Wesen Freude zu bereiten. Er war voll Aufrichtigkeit und mühte sich um das heilige Wissen.

Sein Vater wünschte, ihn zu verheiraten, aber er wollte nicht. Da sprach der Vater zu ihm: ›Was ist das, du willst keine Frau nehmen? Das wünschen sich doch die Menschen, damit ihr Glück ganz werde. Denn die Frauen sind die Wurzel des Glücks – darum tu du desgleichen!‹

Der Sohn hörte das Wort seines Vaters und schwieg ehrerbietig. Als aber der Vater immer wieder in ihn drang, gab er ihm zur Antwort: ›Lieber Vater, ich halte mich, wie es meinem Namen entspricht. Vischnus göttliche Kraft, die uns umfängt und trägt, seine Maya, ist mir offenbar geworden.‹

Der Vater erwiderte ihm: ›Mein Sohn, dein Verhalten ist nicht nach der heiligen Ordnung. Ich, dein Vater, habe Gewalt über dich; laß mein Geschlecht nicht in der Hölle ertrinken, weil ihm Nachkommen mangeln, die mit ihren Ahnenopfern die Toten im besseren Jenseits speisen.‹

Der Sohn vernahm des Vaters Geheiß; da gedachte er, der sich selbst bezwungen hatte, freudig des bunten, wunderbaren Spiels des kreisenden Stromes der Geburten von alten Zeiten her und sprach:

›Lieber Vater, vernimm meine Rede, mein wahres und wohlbegründetes Wort! Ich habe Tausende von Geburten durchlebt, hunderte Male erlebte ich Alter und Tod und allerwegen Vereinigung und Trennung von Gattinnen. Gras, Busch und Schlingpflanze bin ich gewesen, Rankgewächs, kriechendes Gewürm und Tier der Wildnis war ich, Brahmane und Vieh, Frau und Mann und vieles andere war ich hunderte Mal. Ich war ein Seliger in Schivas Scharen, war ein Halbmensch und Himmelsgeist, war ein Verklärter voll Wunderwissen, und war ein großer Schlangendämon. Ich bin ein Kobold gewesen, ein schätzehütender Geist und ein Unhold, ich war Dämon und Himmelsfrau und viele Götter, tausendfach war ich ein göttlicher Herrscher von Flüssen. – All das bin ich wieder und wieder gewesen. Immer, wenn die Welt nach ihrem Untergange sich wieder neu entfaltete, wurde ich mit ihr neu entfaltet, und wenn der Gott die Welt auflösend in sich zurückraffte, wurde ich mit ihr eingerafft. Dieser Trug narrte mich, wo ich Gemeinschaft der Ehe einging. Höre, was mir in meiner drittletzten Geburt begegnete. Ich will dir erzählen, wie damals die göttliche Wunderkraft eines heiligen Badeplatzes an dem großen Wallfahrtsorte Benares entstanden ist.

Viele Geburten hatte ich durchwandert, unter Göttern und Wesen aller Art, da ward ich unter den Menschen geboren als der heilige Sutapas, als, ›einer, dessen Askese gut ist‹. Meine gläubige Hingabe an Vischnu, den Herrn der Welt, war groß und unerschütterlich. Da ward der Gott mit meiner Hingabe, meinen vielfältigen Gelübden und Fasten zufrieden; und Vischnu nahte sich mir mit seinem großen Wesen, auf Garuda, dem göttlichen Könige der Vögel, kam er dahergezogen. Er sprach mit lautem Schalle: ›Brahmane, wünsche dir eine Gabe; was du verlangst, will ich dir schenken.‹ Da sprach ich zum Herrscher des Alls: ›Wenn du mit mir zufrieden bist, wünsche ich mir das eine: Was deine allerhöchste Maya ist, um die möchte ich wissen.‹ – Er aber sprach zu mir: ›Was willst du mit meiner Maya? Ich will dir die Fülle des Lebens schenken: Erfüllung frommer Pflichten, Reichtum und Sinnenglück, herrliche Söhne und Gesundheit.‹ Aber ich gab ihm zur Antwort: ›All das soll überwunden sein und abgetan von mir! Darum verlangt es mich, um deine Maya zu wissen – zeige sie mir!‹

Da sprach Vischnu: ›Um meine Maya weiß keiner. Es wird auch keiner um sie wissen. Vorzeiten war einmal ein gottgleicher Seher, er hieß Narada und war ein Sohn Brahmas, der war mir gläubig ergeben. Wie du fand er vorzeiten mit seiner gläubigen Hingabe Gnade vor mir, und ich kam zu ihm, wie jetzt zu dir, ihm einen Wunsch zu erfüllen. Da wünschte er sich dasselbe wie du. Ich warnte ihn, aber in arger Torheit bestand er, wie du, auf seinem Wunsche. Da sagte ich zu ihm: ›Tauche dich unter, Narada, ins Wasser, dann wirst du um meine Maya wissen!‹ – Da tauchte sich Narada ins Wasser hinab und – erschien wieder als ein Mädchen, er tauchte auf als Suschila, die Tochter des Königs von Benares. Ihr Vater gab sie in ihrer Jugendblüte dem Sohne des Königs von Vidarbha zur Frau. Der Prinz vereinte sich mit ihr, und der große Seher Narada genoß unvergleichliche Liebesfreuden. Als der alte König von Vidarbha zum Himmel eingegangen war, erbte sein Sohn die Macht des Vaters, und viele Söhne und Enkel wuchsen um ihn auf. Aber dann entbrannte ein großer Krieg zwischen ihm und seinem Schwiegervater, und in diesem Kriege kam der König von Vidarbha um, aber auch der König von Benares, und alle Söhne und Enkel kamen ums Leben.

Als Suschila vernahm, ihr Vater und alle seine Söhne, aber auch ihr Gatte samt all seinen Söhnen und Enkeln sei erschlagen, da schritt sie zur Stadt hinaus und kam auf das Schlachtfeld. Sie sah das große Blutbad und klagte lange Zeit kummervoll im Heerlager des Gatten und im Heerlager des Vaters. Dann nahm sie die Brüder, die Söhne, die Brüdersöhne und die Enkel, nahm den Gatten und den Vater und schichtete auf dem großen Leichenfelde einen riesigen Scheiterhaufen, legte sie alle darauf und zündete ihn mit eigener Hand an. Und als die Flamme hoch auflohte, rief sie: ›O mein Sohn! Mein Sohn!‹ und stürzte sich hinein.

Sie warf sich in die Flamme – da ward das Feuer durchsichtig wie Bergkristall, es ward zu einem Teich voll kühler Flut, und Suschila fand sich wieder als der heilige Narada. Und ihm voran entstieg der höchste Gott den Wassern. Und lachend sprach der lockige Gott zum göttlichen Seher: ›Wer ist dein Sohn, sag an, um den du klagst, du Tor?‹

Da stand der Heilige beschämt; und weiter sprach ich zu ihm: ›So sieht meine Maya aus: von wehvoll-dunkler, verwünschter Gestalt; der lotosentsprossene Brahma vermag nicht um sie zu wissen, auch alle anderen Götter nicht, nicht einmal Schiva oder der große Indra – wie willst du um die Unergründliche wissen?‹

Als der großmächtige Seher dieses Wort vernahm, sprach er: ›Gib mir gläubige Hingabe an dich, o Vischnu, und gib, daß ich, wenn meine Zeit erfüllt ist, mich hieran und an alles erinnern und dich schauen möge! Und hier, wo ich leidvoll auf den Scheiterhaufen stieg, soll ein heiliger Badeplatz sein, und du, Unerschütterlicher, sollst immerdar hier walten und alle Sündenschuld an den Wallfahrern vernichten, die kommen, hier zu baden.‹

Da sagte ich zu Narada: ›Ein Badeplatz mit reinem Wasser soll dein Scheiterhaufen sein, und immerdar will ich, Vischnu, hier weilen.‹ So sprach ich zu Narada und entrückte mich an meine Stätte im Milchmeer.

›Dies habe ich dir erzählt, um dich zu belehren, denn meine Maya läßt sich nicht erkennen. Wenn du willst, tauche auch du ins Wasser unter und du wirst wissen, wieso dem so ist.‹

So belehrte Vischnu den Brahmanen Sutapas, der ich selbst, Kamadamana, vorzeiten gewesen bin, und in notwendigen Sinnes Fügung tauchte ich, der Brahmane, unter in die Flut. Da ward der Brahmane zu einem Mädchen in einer Tschandalafamilie, die nahe dem heiligen Badeplatze an der Mündung der Koka hauste.

Das Mädchen war schön, gut und tugendhaft; es wuchs heran und wurde mit einem häßlichen Tschandalasohne verheiratet. Ihr Mann gefiel ihr nicht, aber sie gefiel ihrem Manne. Seine Frau gebar ihm zwei Söhne, die waren blind, danach eine Tochter, die war taub. Ihr Mann war arm. Die junge Törin ging an den Fluß, dort saß sie immer und weinte. Einmal aber, als sie, Wasser zu holen, mit ihrem Kruge an den Fluß gegangen war, tauchte sie ins Wasser unter, um darin zu baden – da tauchte wieder jener Brahmane Sutapas aus den Wassern auf, der fromme werkfreudige Asket.

Nach einer Weile dachte ihr Mann zu Haus, sie bleibt lange aus, und ging zum heiligen Flusse, nach ihr zu sehen. Er fand ihren Krug am Ufer, aber nicht sie selbst. Da weinte und schrie er in großem Leid. Dann kamen die beiden blinden Knaben mit der tauben Tochter bekümmert herbei; als die den Vater weinen fanden, weinten sie auch in großer Trübsal. Der Vater fragte Brahmanen, die am Ufer standen: ›Habt ihr eine Frau gesehen, die um Wasser hierher kam?‹ Und sie antworteten: ›Es ging hier eine in den Fluß, aber sie kam nicht wieder heraus – wir haben uns nicht weiter um sie gekümmert.‹ Als er ihre harten Worte vernahm, weinte er, die Augen quollen ihm über von Tränen. Wie ich ihn weinen sah samt den Söhnen und der Tochter, ward mir unendlich weh zumute. Weh faßte mich und die Erinnerung: diese Tschandalafrau war ich selbst. – Da sprach ich zum Tschandala: ›Was weinst du so wehvoll? An dieser Frau hattest du keinen Gewinn, sie war eine große Törin. Was heulst du hier umsonst?‹ – Aber er antwortete mir: ›Hier diese beiden blinden Söhne und die taube Tochter, wie soll ich die Armen trösten, wie sie aufziehen?‹ So sagte er und schluchzte, schluchzte mit seinen Kindern wieder aus vollem Halse.

Je fassungsloser der arme Paria weinte, desto mehr durchdrang es mich. – Da gebot ich dem Armen Einhalt und erzählte ihm die Geschichte meiner eigenen Herkunft. Da ging der Tschandala, leidvoll anzusehen, in seinem Schmerze samt seinen Kindern in die Mündung der Koka. Kaum war er ins Wasser getaucht, da fiel dank der Wunderkraft des heiligen Badeplatzes aller Makel von ihm ab. Und auf einem Götterwagen, licht wie der Mond, fuhr er vor meinen Augen gen Himmel.

Als er ins Wasser gegangen und gestorben war, faßte mich Leid und schuf mir arge Verblendung. – Da ging auch ich ins hochheilige Wasser der Koka und fuhr zum höchsten Himmel auf. Danach trat ich wieder auf Erden ins Leben, in einer Bürgerfamilie, und litt an Krankheit. Aber dank der Gnadenwirkung des heiligen Badeplatzes entsann ich mich der früheren Geburt und ging lebenssatten Sinnes wieder zu der Mündung der Koka, bezwang mich in Worten und Gedanken, dörrte meinen Leib in Entsagungen aus und stieg wieder himmelauf. Vom Himmel sank ich wieder herab und ward in deinem Hause, mein lieber Vater, wiedergeboren und erinnere mich dank Vischnus Gnade an meine früheren Geburten. Ich will den Gott an der Mündung der Koka verehren und will Heil und Unheil von mir streifen."

Mit diesen Worten verließ Prinz Kamadamana seinen Vater, und statt sich zu vermählen, ging er zur Mündung der Koka, dem hochheiligen Wallfahrtsorte. Er gab sich ganz der Verehrung Vischnus hin und verließ seinen Erdenleib, der aus Mängeln besteht, und fuhr himmelauf in sonnenstrahlendem Wagen.« – Der Heilige Vyasa aber schloß seine Erzählung, mit der er die Frage der heiligen Seher nach der Maya des Allgottes beantwortet hatte, mit den Worten: »So habe ich euch die Maya des höchsten Herrn verkündet – selbst den Göttern ist sie unausdenkbar. Sie gleicht dem Gaukelspiele eines Traumes und verblendet alle Welt.«

 

Die Knechtsarbeit, in der die Symbole des Mythos jeweils fronden und heraklesgleich ihre geheime Kraft offenbaren, übermalt ihren zeitlosen Kern an der Oberfläche mit zeitgebundenen Tendenzen. Die Absicht, der ein mythisches Motiv seine Weitergabe in der Überlieferung und schließlich die Form verdankt, in der es uns literarisch greifbar wird, verkrustet es, überschminkt es und wandelt es ab. Die Ströme der »Alten Überlieferungen« (Purana), in denen Indiens Göttermythen und Heiligenlegenden mitgeführt werden, handeln neben vielem anderen von den wunderbaren Segenswirkungen heiliger Wallfahrtsorte; Brunnen und Teiche, Badeplätze an Ufern und Mündungen der göttlichen Ströme, aber auch heilige Gipfel von Bergen verheißen den Pilgern Erlösung zu besserem Leben, ja Erlösung von jeder Gebundenheit greifbaren Lebens. Sie wetteifern miteinander in der Anpreisung ihrer Segenskraft, die Wallfahrer anziehen soll, und überbieten sich dabei in grellen Schilderungen ihrer Wunderwirkung. Solche fromme Reklame eignet der Stätte, der sie dient, mythische Begebenheiten zu, um ihre Kräfte geschichtlich zu begründen und durch Wunder, die sich an ihr ereignet haben, zu beglaubigen. Das mythische Motiv von der Kraft der Wasser, zu verwandeln und wiederzugebären, wer in sie taucht, ist hier in den Dienst kultischer Propaganda zur Hebung der Pilgerströme getreten, die zur Mündung der Koka oder auch zu einem Wunderbrunnen im heiligen Benares wallfahren sollen. Es verdankt dieser Knechtsarbeit, die es verrichten muß, die oberflächliche Form; dieser Zwecksetzung haben wir es zu danken, daß die Überlieferung es uns aufbewahrt hat – was wüßten wir von Herakles, dem Göttersohne, ohne seine übermenschlichen Fronarbeiten im Dienste des schlechteren Bruders?

Reklame ist grell und wirkungsbedacht; die Propaganda für die Wunderkräfte des heiligen Badeplatzes an der Mündung der Koka arbeitet mit den Mitteln des Öldrucks und mit seiner Phantasie, wenn sie die schnelle und unfehlbare Wirkung der göttlichen Wasser schildert oder die in jedem Betracht enterbte Pariafamilie. Die Verkrüppelung der Kinder: daß beide Söhne blind, die Tochter aber taub ist, hat nach indischer Auffassung ihren Ursprung in der unglücklichen Ehe der Eltern: der Mann gefiel der Frau nicht, aber sie gefiel ihrem Manne. Die Frau bleibt dem Manne verschlossen, wie taub und blind erduldet sie seine Liebe – das prägt sich an ihren Geburten aus. So weiß das indische Epos von einem Prinzen, der blind war; und von einem anderen, den man den »Blassen« hieß; ihre beiden Mütter hatten die beiden von einem Heiligen aus der Wildnis empfangen müssen, der ihrem verstorbenen Gemahl in ihnen Nachkommenschaft erwecken sollte, aber bei der Empfängnis hatte beiden Frauen vor dem ungepflegten Asketen geekelt, die eine hatte die Augen geschlossen, die andere war totenblaß geworden. Die buddhistische Legende weiß von einem Prinzen, der wunderbar klug und stark war, aber der häßlichste Mensch; der Götterkönig Indra selbst war sein Vater, aber er hatte seiner Mutter, der Königin, in Gestalt eines alten häßlichen Brahmanen beigewohnt, und sie hatte ihn schaudernd ertragen. So erhielt das Kind vom Vater her übermenschliche Gaben, aber es war mit der Häßlichkeit gezeichnet, die sich der Mutter verletzend eingeprägt hatte.

Die indischen Wallfahrtsorte verbreiten den Ruhm ihres wunderwirkenden Wassers, wie Badeorte von heute die Wirkung ihrer Quellen rühmen, und was bei diesen ärztliche Protokolle ihrer Heilerfolge und chemische Analysen ihrer Kurmittel leisten, bedeuten bei jenen Mythen und Wundergeschichten, die das Höchste versprechen. Man pilgert zu ihnen, um vom allgemeinsten Leiden zu genesen, vom Leiden am Leben, von der Krankheit des menschlichen Daseins, die ihre Ansteckung durch die Lust, die Liebende aneinander finden, weiterträgt auf ein neues Geschlecht. Die heiligen Badeorte verheißen bei wiederholtem Gebrauch ihres Wunderwassers in immer neuen Existenzen als höchsten Endeffekt völlige Heilung: Erlösung vom individuellen Dasein überhaupt, als Zwischenwirkung heben sie, wer sie erprobt, für eine Weile ins paradiesische Wohlsein besserer Welten. Sie laden zum kultischen Selbstmord ein, er ist das heilende Bad, das die leidvolle Last des Menschenlebens und allen irdischen Makel abwäscht. Dieses Sterben in den Wassern meint kein Ende, es ist ein Tor zu neuem Leben. Wasser ist ja das Urelement des Lebens. »Wasser war all dies hier im Anbeginn, Flut war's«, lehren die Veden; als alle Welt noch »Tohuwabohu« im ungeschiedenen Beieinander aller Möglichkeiten und Gegensätze von Gestalten und Kräften schlummerte, schwebte der Atem Gottes, der die Schöpfung ins Leben rief, brütend über den Wassern. Und wenn der philosophische Geist des Abendlandes sich dem Schoße mythischer Sphäre entringt, um den Weg zu sich selbst zu finden, bricht aus dem Munde des eben Geborenen als erster Laut ein Echo der alten Weisheit seiner mütterlichen Welt – Thales Wort:

»Alles ist aus dem Wasser entsprungen!«

Darum spricht der Gott zu dem Heiligen, der das Geheimnis alles Lebens ergründen will: »Tauche dich unter ins Wasser, Narada, dann wirst du um meine Maya wissen«, und entsteigt, als Mystagog ihn führend, lachend ihm voran der kristallenen Flut des prasselnden Scheiterhaufens. In der Bildersprache der Träume sind die Wasser die Tiefe des Unbewußten, aus ihrem Spiegel wächst gestaltig, was uns in Traum und Wachen als innere Welt erfüllt. So wächst im indischen Weltbild die Gestalt der Welt aus Wassern der Tiefe: sie schwimmt auf den Wassern des Abgrunds. Sie schwebt auf dem Haupte der Schlange »Endlos« – Ananta –, die auch Schescha genannt wird: der »Rest«, der übrigblieb vom gestaltlos-unendlichen Element, als die endliche Weltgestalt sich aus seinen Fluten hob. Die Schlange trägt das Weltei auf ihrem Kopfe, aber in ihrer Wassertiefe ist auch die Schildkröte zu Haus, das andere mythische Wassergeschöpf. Auch sie verkörpert das Element, auf dem alles ruht: so trägt sie auf ihrem Schilde die Wurzel des Weltbergs, der aufwärts als Achse das Weltei von seinem Grunde bis in den Zenit durchragt. Wasser ist der Saft, der den Weltleib belebend durchkreist, wie es ihn samt allen Geschöpfen aus sich hervorgebracht hat. Die Sonne saugt es mit ihren Strahlen herauf aus Erde und Meer, als Regen niederstürzend rettet es alle Kreatur vorm Tode des Verschmachtens, oder taucht sie, wenn ihre Zeit erfüllt ist, alles überflutend, in den Schlaf des Weltunterganges. Es kreist in den Adern der Ströme, die schimmernde Frauen und nährende Mütter sind, von ewigen Bergen zu ewigen Meeren, – Urelement, wie Vater Nil und Vater Rhein es führen, wie es in den ersten Takten des »Rheingold«vorspiels klingende Leibhaftigkeit als Anfang aller Dinge ist. Sein gesegneter Schoß ist das milde Grab, das weich umfangende Bett, um darin schlafen zu gehen, wenn das Leben allzusehr aufs Trockene geriet und trostlos ward, wie für jenen Tschandala, dessen Schicksal für Tausende seinesgleichen steht mit seiner erbärmlichen Geschlagenheit, seiner heulenden Entmutigung. Der Tod in den Wassern meint: heim ins Mütterliche, ins Vergessen des Tags, heim in den Schlaf, aus dem der Traum eines schöneren Lebens tagt, noch einmal zurück ins Fruchtwasser vor der Geburt, um aus seinem Schoße wiederzukehren in ein besseres Los.

Wer ins Wasser geht, will leben; nur sein Lebenslos freut ihn nicht mehr. Er taucht ins Element des Lebens wie in Schlaf und Traum, taucht unter zur Wiedergeburt in einem neuen Lebenstraum, wie der Täufling ins Bad des Taufbeckens taucht, um als ein Neuer, Verwandelter wiedergeboren zu werden. Da ist es nur wie ein flüchtiges Untertauchen dieser Gestalten ins Wasser – schon hebt eine wieder den Kopf heraus, aber was für einen? Einen ganz anderen: der Heilige hat einen Prinzessinnenkopf, der Brahmane den Kopf eines Tschandalamädchens, und wie sie sich die Benommenheit des verwandelnden Untergetauchtseins von der Schläfe wischen und ganz heraussteigen, sind sie ganz und gar Prinzessin und Tschandalamädchen, als müßte das so sein.

Wie nahe sind diese Wasser dem indischen Menschen, als schmeichelndes, lockendes Element – heimzukehren in ihren mütterlichen Schoß und aus ihm erneut ins Leben zu tauchen; wie selbstverständlich steigen hier alle ins Wasser: diese beiden Heiligen, jeder an seiner Stelle, aufs Geheiß des Gottes, und jene anderen Lebensmüden, Verwandlungsgierigen am heiligen Badeplatz. Wie nah ist die Tiefe des Unbewußten, aus der die innere Welt quillt, hier der oberen Sphäre, in der sie sich bewußt und greifbar in Gestalten wird: dem indischen Menschen rauscht ihr Wasser nicht tief vergraben unter Schichten des trockenen Bewußtseins, immer scheint es bereit, ihm über dem Kopfe zusammenzuschlagen, ihn zu verwandeln und fortzuspülen zu einem anderen Dasein. Es ist, als streckte er nur auf Zeit, wie auf die Länge eines Atemholens oder auf den Atemzug einer Lebensdauer, den Kopf – immer einen anderen Kopf – aus den Wassern herauf in die gestaltige Welt, um das Bewußtsein eines Lebens ein- und auszuatmen, und schnell wieder unter Wasser zu verschwinden.

Die Wasser des Lebens, Schoß aller Weltgestalt, ihr wiedergebärendes Grab, alle Gestalt durchkreisend und bauend, sie tragend und zerlösend, sind greifbar das Element der allgöttlichen Maya, nach deren Wesen Heilige und Seher tasten. Sie bergen das Geheimnis dieser Maya als Kraft des eigenen wandlungsmächtigen Wesens und geben es nicht preis, aber sie geben es zu schmecken, wenn einer sich ihnen anheimgibt. Wie Welt entsteht, stündlich entsteht: als Weltgestalt außen im Flusse des Werdens geschehend, als Gestalt innerer Welt aus dem Dunkel des Unbewußten in den Strahl des Bewußtseins tretend – das läßt sich erfahren; wie ließe sich's ergründen?

Die letzte philosophische Frage nach dem Sein – danach, wie Werden wird? – ist unausdenkbar; alles Denken ist nur ein Teil dieses Werdens, sein logisches Schreiten ist nur ein besonderer Rhythmus dieses Geschehens; diese Frage reicht über den Raum des Logischen ins Psychologische als in eine Form allgemeinsten kosmischen Geschehens. Darum findet das Denken keine Antwort auf sie, und keiner, auch von den hohen Göttern keiner, hat das Geheimnis der Maya durchschaut. Alle weben in ihr, sind ein Teil ihres Gewebes. Warum ist etwas? Und warum ist es sich gegeben und existiert für sich? Und existiert auch wieder nicht für sich, bleibt sich entzogen und greift sich in immer anderen Verwandlungen neu, wächst sich selbst greifbar aus der eigenen Tiefe entgegen, faßt sich und kann sie selbst nie fassen, aus der es sich hebt? Wir tragen in uns, was uns trägt, und was wir nicht haben – vielmehr es hat uns; aber oft scheint es, als hätte es uns nicht, denn es macht nicht immer viel Wesens von uns, die wir »uns« und »wir« von uns sagen. Warum wachsen wir und wandeln uns? Warum träumen wir und wachen wieder? Wie geschieht's, daß wir uns greifbar werden und uns entsinken? daß uns etwas an uns greifbar wird und dahinter ein anderes, Gewaltiges ungreifbar bleibt, wie unbeteiligt und doch ins Greifbare verwoben – es spielt hinein in das Gestaltige, als das wir uns greifen, und entzieht sich, indes es an ihm wirkt.

»Wüßt' ich genau, wie dies Blatt aus seinem Zweige hervorkam,
Schwieg ich auf ewige Zeit still, denn ich wüßte genug.«

Dieser Vers Hofmannsthals, der den Titel »Erkenntnis« trägt, zielt ins Geheimnis der Maya.

Leben – und Bewußtsein als seine Form, Stücke von sich zu spiegeln – ist ein Ineinander von Verwandlungen, ein Auf- und Untertauchen in sich selbst mit immer anderen Gesichtern und Gesichten, ist wie ein Sinken von Traum zu Traum. Tauche unter in die Wasser der Tiefe, außen wie innen, und du tauchst zu einem verwandelten Leben auf.

Die Wasser, aus denen alle Gestalt der Welt, außen wie innen, sich ballt, um wieder in sie zu zerrinnen, sind das Element des Mythos. Wo anders soll seine Rede anheben, als bei ihrer Tiefe, der alles entsteigt: Weltleib und Mensch, Götter und Dämonen, der Wirbel aller Wesen, die sich fortzeugend und verschlingend ineinandertauchen. Als Ausgeburt der Wassertiefe innen gehen die Mythen dem Menschen auf, und wenn sie vom Wandlungsspiel der kosmischen Wasser und ihrer Gestalten im Weltgeschehen handeln, geschieht es im Stil inneren Gesichts. Ihr Weltgeschehen ist wie ein Sinken Gottes von Traum zu Traum, und Maya ist die schöpferische Traumgewalt im Gott, die alle Weltgestalt wie Blasen treibt und wieder ins gestaltlos Fließende zerfließen läßt. Der indische Mythos ist das Sich-Träumen-Gottes, mit dem er sich selbst im lustvollen Spiel seiner Tiefe befängt: sie quillt gestaltig auf zum Bewußtsein, mit dem alle Kreatur sich selbst ergreift, sie ballt sich zur Weltgestalt, die alle Kreatur umfängt. Wir selbst sind Lichter und Schatten, Gestalten und Wirbel der Phantasmagorie, die Gott, in sich träumend als Traumspiel der Welt, bei sich bewegt. Und wie uns ein Traum die traumlos wirkliche Tiefe unseres Wesens schillernd überspielt, verschleiert sich der Gott die überweltliche Ruhe seines Wesens, in der nichts geschieht, mit dem Wellengekräusel des Weltgeschehens. Er gibt sich in das fließende Traumgebilde seiner Maya und befängt sich als ihre Vielgestalt, wie wir im Traume uns als Bewußtsein geträumter Ich- und Du-Gestalten befangen und durch ihre Räume geistern. Wie wüßten die Gestalten, die wir in Träumen sind, um die Kraft, die sie wirkt? Sie ängstigen und trösten einander, finden einander und entschwinden sich selbst, tauchen verwandelt wieder auf und kennen sich nicht wieder – so treibt sie die »unergründliche« Maya »von wehvoll-dunkler, verwünschter Gestalt«: alle Götter der Welt sind ihre Traumgestalten und werden von ihr geträumt; was vermögen sie von der Gewalt zu wissen, die sie träumt?


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