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2. Weltnächte und -tage

Das müdgewordene Heute taucht in seine Nacht, um neugeboren zum Morgen verwandelt aus ihr aufzutauchen. Das Bewußtsein läßt sich in Schlummer fallen, der es zerlöst und sich selber entrafft, ohne vor ihm zu bangen; so steigen diese erkenntnishungrigen Heiligen und die erlösungsdurstig Leidenden, müdgeworden am Ich, ohne zu bangen ins Wasser, das sie verwandelnd neu gebiert. So sinkt der Weltleib, wenn er am Ende seines Lebenstages welk geworden ist, in die Flut zurück, die ihn gebar; sie nimmt ihn heim, in ihrem Schoß zu schlummern, bis er erfrischt zu neuem Leben aus ihr aufsteigt.

Im Morgenschein eines neuen Weltentages befragte Manu, der erste Mensch, den Allgott Vischnu nach dem Geheimnis des Spiels zwischen Weltnächten und -tagen. In Gestalt eines wunderbaren Fisches war Vischnu aus seiner Überweltlichkeit in den Abend der untergangsreifen Welt getreten und hatte aus ihrem Wirrsal den Frommen gerettet, daß er, zum Adam einer neuen Weltzeit erlesen, nicht von der großen Flut verschlungen werde. Im neuen Aufgang nach der Flut fragte ihn der Stammvater der kommenden Menschheit nach dem wunderbaren Spiel der Auf- und Untergänge des Weltleibes, er fragte ihn nach dem ewigen Ringen der göttlichen und dämonischen Gewalten um die Herrschaft in der Welt und wie die überweltliche Allmacht in immer anderen Gestalten in die Welt hineinsteigt, um das Wirrsal ihrer widerstreitenden Kräfte immer wieder auf Zeit zu göttlicher Ordnung zu schlichten. Im Angesicht des ungeheuren Schauspiels, wie die Welt vergeht und neu ersteht, fragte der erste Mensch nach Maßen und Regeln des Weltgeschehens, nach den wirkenden göttlichen Kräften und nach dem Wundergeheimnis, kraft dessen das höchste Wesen den allgemeinen Untergang übersteht.

Manu fragte den fischgestaltigen Vischnu: »Wie entstand im lotoshaften großen Weltalter die lotosgeformte Welt aus deinem Nabel, als du im Weltmeer lagst? Schlafend lagst du im Weltmeer mit deinem Lotosnabel; wie entstanden da vorzeiten dank deiner Macht in deinem Lotos die Götter samt der heiligen Seher Schar? Verkünde mir das ganze Werk deiner Yogawunderkraft, o Herr der Yogakundigen! Wie lange ruht dein höchstes Wesen im Weltmeer? Wie lange schläft es? Wie lange währt es, bis es aufsteht in seiner großen Herrlichkeit? Und wie bringt der Erhabene, auferstanden, die ganze Welt aus sich hervor? Welche Weise ersann sich der yogakundige Herr der Elemente, der sie aus sich entfaltet, daß er im all-einen Meere weilen mochte, dem leeren, in dem alles, was geht und steht, vergangen war – in einer Welt, die ein einziger Abgrund war, da alle Götter, Wesen und Elemente in ihr zunichte geworden waren?«

Da kündete ihm der Gott den Gang der vier Weltalter, in deren Schritten der Weltleib seine vier Lebensalter durchmißt. In schrittweisem Absinken von ursprünglicher Vollkommenheit des Anfangs wird die Welt mählich reif, unterzugehen und wieder eingeschmolzen zu werden.

Viertausend Herbste währt das erste, vollkommene Weltalter, achthundert Herbste seine Abenddämmerung. In ihm ruht die göttliche Weltordnung, wie sie der Welt bei ihrem Entstehen eingeprägt ward, zu vier Vierteln voll auf allen ihren vier Füßen – ihr Widerpart ist nur ein Viertel stark. In diesem Weltalter werden gute Menschen geboren, sie weihen ihr Leben der Erfüllung des Pflichtenkreises, den ihnen die göttliche Ordnung zuweist: die Brahmanen wurzeln ganz in ihrem heiligen Wandel, ganz in königlichem Gebaren verharren die Herrscher, dem Feldbau hingegeben sind die Bauern, und die Unterworfenen verbleiben in unterwürfigem Gehorsam. Wandel und Tat der Guten verbreitet sich in Tun und Kunde über die anderen; da halten sich auch die Menschen gemeiner Herkunft an die ewige Ordnung.

Jedes weitere Weltalter währt um tausend Herbste kürzer, der Lebensgang der Welt beschleunigt sich, die göttliche Ordnung aber verliert in jedem an Boden, bald steht sie nur mehr auf drei, dann auf zwei Füßen, schließlich nur mehr auf einem einzigen, ihr Widerpart hingegen wächst entsprechend. Im dritten Weltalter wandeln die vier Kasten ihr Wesen entschieden zum Schlechten; die vier geheiligten Formen, den Sinn der vier Lebensalter zu erfüllen: keusche Schülerschaft, Hausvaterstand, Waldeinsiedeltum und heimatlose Pilgerschaft, die bettelnd die Straße zur Ewigkeit zieht, verlieren ihre Kraft. Jetzt sind alle Menschen, auch Brahmanen und Fürsten, unterschiedlos auf Erwerb aus, auf Gewinn erpicht; von trübender Leidenschaft geschlagen werden sie alle gemein und abhold der Erfüllung heiliger Pflichten. Das Streben nach wahrem Brahmanentum, nach läuterndem Wandel in Gelübden und Fasten erlischt.

Im letzten Weltalter hat die göttliche Ordnung nur mehr ein Viertel ihrer anfänglichen Macht über den Wandel der Menschen. Sie sind voller Lüste und bar der asketischen Glut, die ihnen die Gnade von oben erschließen könnte. Da findet sich keiner mehr, in dessen Wesen lichte Güte und Vollkommenheit das Vorwaltende wäre, kein Weiser, keiner, der die Wahrheit sagt und Wort hält. Die Menschen, die ehedem an der göttlichen Kraft, am Brahman, hingen, werden zu seinen Verleugnern. Ichgefühl überwältigt sie, die Bande zärtlicher Liebe schwinden. Aller weisen Brahmanen Wandel ist dem Gebaren niederster Parias gleich. Die natürlichen Lebensstufen der Lebensalter kehren sich um: die Alten benehmen sich, als wären sie jung, die Jungen wirken vergreist; keiner erreicht mehr die wirkliche Reife seiner Jahre, es gibt keine Älteren mehr mit der Weisheit des Alters. Am Ende dieses Weltalters verteigen die Kasten ineinander zu einem unterschiedslosen Brei.

Dann sieht Vischnu, daß aller Wesen Leib, ja der Weltleib selbst, zum Untergange reif ist. Zwölftausend Herbste – das ist ein Tag Brahmas – sind um, und es wächst im Allgott der Wille, all das Weltwesen vernichtend wieder in sich hinein zu raffen, wie er es einst aus sich hervorgetrieben hat. Von Brahma, dem Höchsten, angefangen, der das Ganze als Weltgeist innerlich durchwaltet, bis hinab zum Geringsten, dem Grashalm: alle Berge und Ströme, alles Getier und Gewürm, Götter und Dämonen, Kobolde und Unholde, Vögel, Himmelswesen und Menschen – alles rafft er in sich hinein.

Er wird zur Sonne und saugt in sich das Sonnenhafte aller Wesen: ihre Augen; er wird Wind, der die Odemkräfte aller Leiber an sich reißt, er wird Feuer und verbrennt alle Wesen, er wird Wolke und regnet schrecklich. Der erhaltende Wechsel des indischen Jahres mit seinen Gezeiten von Dürre und Regenschwall steigert beide nacheinander ins Ungemessene, so bringen sie allem Leben, statt seinen Bestand zu fristen, den Untergang. Der Allgott wird zur Sonne, die Todesglut ohne Unterlaß strahlt; mit ihren Strahlen saugt er alle Lebensfeuchte der Welt zu sich herauf, er spaltet die Erde, sie birst vor Dürre, und er langt bis zum Grunde der untersten Tiefe, schöpft ihre Flut und trinkt den erhabenen Saft. Dann wird er gewaltiger Wind und schüttelt die ausgedörrte Welt, daß sie sich aneinander reibt und entzündet wie bei Waldbränden zur Zeit der Sommersglut – ein furchtbarer Flammenwirbel der Vernichtung brennt sie rings zu ihm auf und sinkt in Asche zusammen. Dann wird der Dunkle tausendfältiger Regen und sättigt die Erde mit dem Opfergusse himmlischer Flut.

Dieser milde heilige Guß vom höchsten milchförmig süßen Naß schenkt der Erde Nirvana, völliges Erlöschen. Vom Flutschwall des regnenden Gottes über und über bedeckt, wird sie rings Gewässer, ein alleines Meer, in dem kein lebendes Wesen sich regt. So kehrte alle Lebensgestalt wieder heim zu den Wassern des Anfangs, aus denen sie sich von ihrem Lebenssaft durchströmt, auf Zeit geballt und aufgewölbt hat. Alle Elemente, als große Wandlungsformen der Urwasser, sind wieder in ihnen zerlöst und aufgehoben, der ganze Stoff der sichtbaren Welt ist übersinnlich fein und ungreifbar geworden.

Wenn der Allgott so aus seinem Wesen erst Verdorren hervorgebracht und alle Wesen in Glut verzehrt hat, danach aber alles überschwemmt und in sich eingerafft hat, schläft der Ewige einsam; zu seiner uranfänglichen Gestalt heimkehrend, schläft der göttliche Yogin, das Wasser des alleinen Meeres erfüllend, dank seiner Yogazaubermacht. Schläft viele tausende Weltalter in der Alleinsamkeit seiner selbst, und keiner vermag um den unentfalteten Entfalter aller Welt zu wissen. »Was ist das für ein Wesen? Was ist sein Yoga? Wie lange wird der Gewaltige dieses Gebaren üben, im alleinen Meer zu ruhen?« Da ist keiner, der um den Erhabenen weiß, kein Sehender, kein Gehender, kein Erkennender – kein Wissen ist um ihn, außer im höchsten Gotte selbst. Alles löscht er aus, und es gefällt ihm, wiederum zu ruhen.

Dann ruht der Allgott in der Welt, die ein einziges Meer geworden ist, strahlend als Schwan. Zugleich ruht er auf den Urwassern, der elementischen Form seines Wesens, in Menschengestalt: als ein riesiger schlafender Mann, der auf den Windungen einer endlosen Schlange liegt; sie ist die Tiergestalt seines Wesens.

Wie er so in sich selber, dem allerfüllenden einsamen Meere, lag und schlief, geschah einmal vorzeiten etwas Wunderbares: der weise Markandeya schlüpfte aus Wißbegier dem Gotte aus dem Munde.

Markandeya, der ein großer Heiliger war, wanderte nämlich im Leibe des Gottes umher. Er war schon viele tausend Herbste alt, aber in altersloser Kraft pilgerte er und besuchte heilige Wallfahrtsorte, über die Erde hinwandernd, die voller heiliger Orte war. Reine Einsiedeleien und Tempel der Götter, Länder und Reiche voller Wunder und vielerlei Städte betrat er. Immer weiter wandernd im Leibe des Gottes, schlüpfte er mählich zum Munde des göttlichen Leibes hinaus. Aber als er hinausgelangte, erkannte er das große Weltwesen nicht kraft der Maya des Gottes. Als Markandeya aus seinem Munde kam, sah er: die Welt war ein einziges Meer, rings von Dunkel bedeckt. Da überfiel ihn heiße Furcht und Bangen um sein eigenes Leben.

Der Anblick des Gottes erfüllte ihn mit Freude, und er ward voll gewaltigen Wunderns. Nachdenkend stand er inmitten der Wasser und bedachte sich zweifelnd: »Ist dieser Trug meine eigene Einbildung? oder bin ich in einem Traume befangen? – Gewiß: diesen um und um veränderten Stand aller Dinge bilde ich mir nur ein. Denn die Welt verdient nicht solche ungeheuerliche Not in Wirklichkeit: Sonne, Mond und Wind sind ja vergangen, dazu Berge und Erde – was ist das für eine Welt?« – so versank er in Sinnen.

Und er sah einen schlafenden Mann, der war wie ein Gebirge; zur Hälfte eintauchend schwamm er im Wasser, wie eine Wolke über dem Meere schwebt, gleichsam flammend von Lichtkräften wie die Sonne mit ihren Strahlen, gleichsam wach in der Nacht, hellscheinend mit eigener Lichtgewalt. Den Gott zu schauen, kam er heran. »Wer bist du?« wollte er ihn staunend fragen, aber schon war er wieder in seinen Leib hineingelangt.

Wieder eingegangen in den Leib des Gottes, war Markandeya voll höchsten Wunderns und hielt, wie eben, was er gesehen hatte, für ein Traumgesicht. Und wie er vormals über die Erde hin gewandelt war, zog er wieder pilgernd durch die Fülle ihrer Wallfahrtsorte an heiligen Wassern. Er sah viele Einsiedeleien heiliger Männer, sah reiche Herren, die heilige Werke ausrichten ließen, und sah Brahmanen zu Hunderten, die im Leibe des Gottes weilten, Opfer ausrichteten und dafür reichen Opferlohn empfingen. Alle Kasten, voran die Brahmanen, hielten am rechten Wandel fest, und die heilige Ordnung der vier Lebensstufen – Brahmanschüler, Hausvater, Waldeinsiedel und Pilger zur Ewigkeit – war, wie Gott sie gewiesen hat, in Kraft.

So wanderte Markandeya ein volles Hundert Herbste über die ganze Erde und ersah nicht das Ende des göttlichen Leibes. Danach aber schlüpfte er irgendwann wieder dem Gotte zum Munde hinaus. Da erblickte er ein Kind, das lag einsam unter einem Feigenbaume und schlief. Und in der Welt, die, aller Wesen bar, ein einziges einsames Meer war, dessen Wasser Nebel umhüllten, spielte das Kind furchtlos unverstört. Da durchdrang den Heiligen Wundern, und Wissensverlangen ergriff ihn, aber er vermochte das Kind, das wie die Sonne strahlte, nicht anzublicken. So stand er grübelnd beiseit im Schoß der Wasser und meinte: »Das hab' ich vorzeiten schon einmal gesehen«, und schwankte, es sei nur ein Spiel der Maya des Gottes.

Im unergründlichen Gewässer Wunderns voll dahinschwimmend, ward Markandeya von Angst befallen, und seine Augen erzitterten vor Furcht. Da sagte der Gott zu ihm: »Willkommen, Markandeya!« – das höchste Wesen, im Yogazauber dieser Kindesgestalt, sprach zu ihm mit Wolkendonnerstimme – »fürchte dich nicht, Kind! Hab keine Angst und komm zu mir!«

Aber der heilige Markandeya ergrimmte trotz der Pein seiner Erschöpfung über diese Anrede und rief: »Wer wagt es, mich bei Namen zu rufen? Mich schlichtweg mit meinem Namen anzureden und verachtet die Glutgewalt meiner Askese und kränkt mein ehrwürdiges Alter, das tausend Götterherbste zählt? Ich bin nicht gewohnt, daß man so mit mir umgeht! – nicht einmal unter den Göttern. Das wagt nicht einmal Brahma, der Höchste der Götter; er redet mich ehrerbietig ›Langlebender‹ an. Wer stürzt sich selber ins grause Dunkel der Vernichtung und wirft sein Leben von sich, daß er mich einfach ›Markandeya‹ anredet und dafür den Tod zu schauen verdient?«

So sprach der Heilige voll Zorn. Und wieder sprach der Erhabene: »Ich bin dein Erzeuger, Kind, bin dein Vater und Älterer, bin der lebenverleihende Urzeitliche – warum kommst du nicht zu mir? Dein Vater gewann vorzeiten, in heiliger Askese nach einem Sohne verlangend, meine Gnade und wählte sich als die Gabe, die ich ihm gewähren sollte, dich: daß du alterslos voll unermessener Lebenskraft sein solltest. Er weste im Wesen aller Dinge, und seinem Wesen entsprangst du als sein Sohn. Darum ist es dir gegeben, mich zu erschauen, wie ich im all-einen Meere ruhe und spiele in meiner magischen Kraft.«

Da erstrahlte Markandeyas Gesicht vor Freude, seine Augen blühten weit auf vor Wundern; der Heilige neigte sich hingebungsvoll in Gebet vor dem Erhabenen und sprach: »Ich wünsche diese deine Maya in ihrer Wahrheit zu erkennen: daß du in Kindesgestalt mitten im all-einen Meere ruhst. Mit welchem Namen wirst du, erhabener Herr der Welt, erkannt? Ich denke, du bist das große Wesen aller Wesen – wer anders vermöchte so zu weilen?«

Der Erhabene sprach: »Ich bin Narayana: das Urwesen, aus dem alles kommt – ich bin der Tausendköpfige. Unter den Bräuchen bin ich das heilige Götteropfer, ich bin auch das heilige Feuer, das die Opferspenden gen Himmel trägt, und bin auch der unvergängliche Herr der Wasser. An Indras Stätte bin ich Indra, der König der Götter. Ich bin der Jahreskreis, der alles hervorbringt und wieder verschlingt, ich bin der Yogin, dessen Zauberspiel ›yuga‹: ›Weltalter‹ heißt, und bin auch der Wirbel, der Weltalter endet. Ich bin der Endebringer aller gewordenen Wesen, ich heiße der Tod aller. Ich bin die ewige Satzung und bin Glut aller Askese. Was überall das höchste Wahre ist, bin ich. Ich allein bin der Herr aller Ausgeburten, ich bin Opfer und frommes Werk, ich heiße der Herr des heiligen Wissens. Ich bin Himmelslicht, Wind und Erde, Wasser und Meere und die zehn Richtungen des Raums. Ich bin der Urzeitliche und bin auch die höchste Zuflucht. Aus mir wird alles, was geworden ist, was werden soll und was da west. Was irgend du siehst und hörst und in der Welt gewahrst, in alledem wisse mich. Weltalter um Weltalter werd' ich die ganze Welt aus mir hervorgehen lassen. – Alles dies Ganze betrachte wohl in deinem Herzen, folge meinen ewigen Satzungen und wandle glücklich in meinem Leibe. In meinem Leibe lebt Brahma samt allen Göttern und heiligen Sehern. Wisse mich als den Entfalteten, dessen Zauberkraft unentfaltet-ungreifbar ist. Ich bin jenseits der drei Gehalte, die das Menschenleben ausfüllen: Sinnenglück, Erwerb und frommer Wandel in ewiger Satzung – und weise eben diese drei Ziele des Lebens.«

So sprach der uranfängliche Herr und zog Markandeya, den großen Heiligen, geschwind an seinen Mund. Da ging der hohe Heilige in den Leib des Erhabenen ein. Und selig weilte er in ihm an einsamer Stätte und lauschte dem unvergänglichen Schwan, wie er sang:

»Viele Gestalten nehme ich an und schwimme im großen Weltmeer, wenn Mond und Sonne vergangen sind, langsam dahin. Ich bin der Herr und bin Schwan. Ich brachte die Welt aus mir hervor. Und weile im kreisenden Vergehen der Zeit.«

 

Im Ein und Aus des Atems, im Einkrampfen und Ausweiten des Herzens, zwischen Schwellen und Verebben, Spannung und Lösung pulst das Leben des Leibes; es erhält sein Dasein im Pendeln von Pol zu Pol. Aus der Entspannung des Schlafes schnellt es in die willige Angespanntheit wachen Aufmerkens, ermüdet wechselnd in ihr und richtet sich wieder auf, bis es wieder dem gliederlösenden Schlummer verfällt. Wächst eine der Phasen ins Ungemessene, so bedeutet das Tod – oder ist's nur ein größerer Phasenwechsel, ein weiterer Pendelschlag, der wie der Schlaf zum Tage steht mit seinen flinkeren Pendelschlägen flüchtiger Ermüdung und neuer Spannung? Atem und Herzschlag, dem Wachen ungewollt vernehmbar, pulsen im Schlafe fort, wenn er das sich greifbare Bewußtsein mit all seiner ausgespannten Welt in sich verschluckt hat und ungreifbar hält. So schlingt der Untergang den greifbaren Weltleib Indiens in sich, ungreifbar aber trägt er ihn weiter. Saugende Dürre und tränkender Regenschwall sind die Phasen des indischen Jahres, sie sind das Aus und Ein des Lebenssaftes, der Atem und Pulsschlag, mit denen der indische Weltleib sein Dasein erhält. Wachsen beide ins Ungemessene, daß ihr rhythmischer Wechsel zerspringt, so bedeutet das den Untergang des Weltleibs. Aber der ist nur wie ein weiter ausgreifender Pendelschlag: wie in einen Schlaf sich selbst entrückt läuft die Welt weiter.

Die Wachwelt unseres Leibes fällt im Schlafe nicht in ihr blankes Nichts, sie wird Fülle, die sich selber ungreifbar ist; was an ihr greifbar und bewußt war, eint sich der Fülle des ungreifbar Unbewußten, aus dem es aufstieg, und zerschmilzt darin. So wird die Weltfülle am Ende eines Lebenstages, der über vier Weltalter ging, von den nächtlichen Wassern ihrer Tiefe verschluckt und löst sich in ihnen auf wie Bewußtsein in Schlaf. Das göttliche Urwesen, das als menschhaft zweite Form des Urelements der Wasser in ihnen ruht, schluckt die Welt des Tages in seinen dunklen Bauch zurück. Aber wie Bewußtsein, ins Ungreifbare ertrunken, sich selbst verzaubert, träumend mit sich spielt, mit halbdunklen vielsagenden Gebärden in Träumen geisternd nach sich langt und innen sich eine Welt vorspiegelt, so spielt die Welt im Leib des Gottes nächtlich weiter, der sie aus sich in ihren Tag hervortrieb. Aus Wirrsal und Erschöpfung ihrer Kräfte und Gestalten zu ihrem lebendigen Urstoff heimgekehrt, erfährt sie die Erquickung und Verjüngung, die der Schlaf dem wachen Leben bereithält; sie freut sich aufs neue der idealen Ordnung heilig-frommen Lebens, die ihrer Kindheit im vollkommenen ersten Weltalter eigen war – wie der Schlafende seinem bewußten Alter entgleitet und träumend des kindlichen Tiefsinns wissender Gesichte teilhaft wird. Die eingeschluckte Welt, die voll idealer Ordnung im Leibe des Gottes innen spielt, ist wie ein glücklicher Traum, der den Leib des Schlafenden erfüllt und nach dem Wirrsal immer trüberen Tages nächtlich erbaut; der Schlaf mit seinem Traum vollzieht die Wiederherstellung der geschändeten Tagwelt zu ihrer ursprünglichen Unschuld, er heilt, was der Tag verwirrte und zerbrach – »und die Fäden, die zerrissen, knüpft er alle wieder an«.

Gestalten durchgeistern die Welt, die dem göttlichen Träumer innen geworden ist, wie Traumgestalten unsern Leib im Schlaf durchwandeln; ein Heiliger wandert im Bauche des Gottes durch seine gestaltige Fülle der Welt. Er wandert rastlos und schlüpft auf Augenblicke dem schlummernden Gotte zum offenen Munde hinaus, denn ein gigantisches Schnarchen, so scheint es, sperrt den Rachen des Urwesens auf, als wolle es mit seinem Rhythmus dem Stillstand weltloser Zeitlosigkeit ringsum den Takt harfen.

Er fällt ins Meer; aber wie Geträumtes vom Wachen her nicht wirklich scheint, dünkt ihm die allerfüllende nächtliche Flut, in der alle vertraute Weltgestalt und selbst der Raum ertrunken ist, unwirklich wie ein Traum. Der Heilige ist wie eine Traumgestalt, die uns aus unserem Traume hinausgeraten wäre und sich nicht mehr auskennt im weiten dunklen Nichts, er scheint hinabgestürzt in den Abgrund traumloser Tiefe. Da steht er vor der Grenze, die Traumhaftigkeit seiner selbst und der vertrauten Welt, die er durchwandert, zu durchschauen, aber das ist die Grenze des Wahnsinns: er müßte daran vergehen und sich auflösen im gestaltlos Nächtigen, begriffe er, daß dieses grenzenlos Ungreifbare das zweite tiefere Gesicht der Welt ist, in der er lebt und deren Teil er ist – Gesicht der Wirklichkeit, die sich mit keinem Traume überschillert. Vor dieser Not errettet ihn, daß er wieder eintaucht in die Welt des Traumes, der er angehört. Das Geschöpf der Maya bedarf ihres umfangenden Gewebes, um sich zu bewahren; wenn es für einen Augenblick wie von außen gewahren kann, worin befangen es innen lebt, vermag es dieses Gesicht nur als Trug und Einbildung zu werten.

Aber alterslos die Welt durchwandernd, gerät es aufs neue über ihre Grenzen hinaus, fällt wieder aus ihrem Traumgeweb in die bodenlose Tiefe, die wie unser Träumen Gestalten treibt – immer andere, und sie meinen das gleiche: statt des schlafenden Riesen im Meer ist es ein schlummerndes Kind, das unter einem Feigenbaume spielt, und der Heilige fühlt, »das hab' ich vorzeiten schon einmal gesehen«.

Hier träumt der indische Gott, aber nicht wie ein Mensch, den der Bann der Gestalten befängt, die er wie Blasen aus der Tiefe treibt, sondern spielend in hellem Wissen um sich selbst und seinen Traum: so läßt er eine seiner Traumgestalten wie zum Spiel aus ihrer Welt entschlüpfen und stellt sie in den Abgrund jenseits, dessen Wirklichkeit sie zersprengen würde, könnte sie ihren Sinn begreifen. Aber der träumende Gott ist seinem Traumgeschöpf nahe, sein Spielzeug kann ihm nicht entfallen und sich zerschlagen: stumm schlingt er den Verlorenen, der ihn fragen will, in sich zurück, da ist dem Heiligen, was er gesehen, nur wie ein dunkler Traum – oder er spricht ihn tröstend mit seinem vertrauten Namen an. Aber wie immer er sich ihm zu schauen gibt, es bleibt ein Spiel, bleibt wie ein Traum im Traume, wie fremder Anhauch im vertrauten Lebenstraume.

Es ist der Stil des Traums, daß er anders verläuft, als er sich jeweils anläßt und zu erwarten gibt: Gestalten verwandeln sich und strafen ihre Erscheinung und ihren Namen Lügen, sie sind noch sie selbst, aber sie sprechen mit der Stimme eines anderen, und was geschieht, widerspricht sich selbst, indem es geschieht, es gebiert ein Fremdes aus sich als Wirkung und Gebärde, und all dieses in sich Verfließende bleibt immer in sich plastisch. Mit diesem Stil weist es über sich selbst hinaus; die Spannung der Widersprüche, die ihm Natur sind, ist vielsagender, als das Wachen mit dem Stil seines Denkens ausdrücken könnte. Das Kind, in nächtlicher Öde verloren, bedarf keines Schutzes, es spendet Trost; das Unerwachsene redet den eisgrauen Heiligen als Kind an, es kennt ihn bei Namen, aber ist er ihm je begegnet? Es spricht zum Alten: »Ich bin dein Erzeuger, Kind, bin dein Vater und Älterer« – freilich, spricht noch ein Kind aus diesem Wort mit Wolkendonnerstimme? – oder ist es ein Kind: jenem Knaben verwandt, den Heraklit Aion, Genius der Ewigkeit, nannte, dessen müßiges Brettspiel der Gang des Weltalls ist? – verwandt auch dem »puer aeternus«, den westliche Geheimlehre als Wesen zeitloser Tiefe in uns findet, jenseits der bewußten Person, alterslos und unberührt von Tod und Schicksal, der immer wieder den frischen Schmelz unversehrter Schmetterlingsflügel enteilend spreitet, wenn die Hülle des Leibes zerbricht, die seinen allwissenden Schlummer barg?

Ungleich dem heiligen Narada und dem Brahmanen Sutapas verlangte Markandeya nicht, das Geheimnis der göttlichen Maya zu schauen und hinter ihr Gewebe zu langen, das ihn befing und trug. Ganz unfreiwillig stürzte er aus ihm hervor, entstürzte der wunschlosen Befangenheit in sein Heiligenleben, das sich am traumhaft vollkommenen Lauf der Welt erbaute und, in ihm von Göttern und Menschen geehrt, unschuldig die eigene hohe Person genoß. Er war ganz selbstzufriedener Teil dieser Maya und in ihr ganz auf die Maya seines Ich gestellt, das beglücktes und geehrtes Wandern war. – Reißt ihn das überweltlich Unergründliche, das diese ganze Maya als Traum im Bauche trägt, eben darum über ihre Grenze hinaus? Reißt ihn – nicht in ein Wachen, einen Tag, aber in die Wirklichkeit der tieferen Nacht, die als ihr Spiel die schillernde Blase des Traums und Markandeya in ihr aus ihren Wassern auftrieb?

Da gerät der Heilige in Zorn: die ruhmwürdige Person wird ihm versagt, die ihm an sich selber das Wirkliche bedeutet, mit dem er in seiner Tagwelt steht; wie abgetakelt und ohne die Flaggengala seiner selbstbewußten Person treibt er vor dem ungewohnten Anruf dahin. Die unterweltliche Tiefe verweigert ihm durch Kindermund, was ihm sein Wesen ausmacht – da blitzt die abgründige Ironie der Tiefe innen gegen das Bewußtsein auf: was das Ich sich dünkt und woran es sich selber hält, ist wie ausgewischt, ist wie Nichts vor diesem Tiefendunkel in uns. Vor seinem alterslosen, kindhaft wissenden Blick zerbröckelt der bewußte Erwerb eines langen Lebens: Heiligkeit und Alter, Pilgerschaft und Askese; das taggewirkte Gewand der Person und alles Prangende, das ihr den Platz in Tagwelt und Selbstbewußtsein anweist, wird durchscheinend dünn, das Nackte darunter scheint hervor: kindhaft täppisch und unerfahren, erinnerungslos, unweise und in sich selbst befangen. Vor dieser Tiefe in uns selbst, die den kleinen Weltleib unserer Person wie eine Blase aus sich treibt, sind wir mit unserem Ich und seiner Wichtigkeit ein kleines Kind.

Alterslos auf ewiger Pilgerschaft durch die Maya der Welt ist Markandeya das glücklichere Geschwister jener anderen, die zeitlos umgetrieben von Leben zu Leben hinter das Geheimnis des Bannes langen wollen, der sie treibt. Er ist eine heitere Gestalt in einem lichten Traum, wie jene leidvolle Figuren in einem dunklen sind; daher wird ihm ungefragt zuteil, was jenen in Erfüllung ihres Lebenswunsches geschieht: den Wirbel der Maya sinnfällig an sich zu erfahren. Sie trifft ihn mit Verwirrung und macht ihn begierig, sie zu ergründen. Er fragt nach ihrem Geheimnis: nach dem Namen des göttlichen Wesens. Aber der Erhabene gibt ihm keine bündige Antwort, redend entfaltet er das schimmernde Pfauenrad vieler Gestalten und Kräfte und bezieht sie alle auf sich: das eine wie das andere, alles Hohe und Mächtige, wie es nebeneinander waltet und gegeneinander wirkt, sich ergänzt, bestreitet und aufhebt, fließt als ein Strahlenspiel seiner Offenbarung ihm aus dem Munde und funkelt vor Ironie in der Fülle seiner Möglichkeiten angesichts dieses Fragers, der die Tiefe mit seiner schmalen Frage auszuschöpfen meinte wie ein Meer mit der hohlen Hand. Der Allgott stellt den Heiligen vor die Unergründlichkeit seines Wesens, dann aber lenkt er ihn aus ihr zurück ins Netz seiner Maya voll göttlicher Kräfte und Satzungen, zurück in den Traum des Lebens als sein greifbares Spiel: aller Gehalt an Freuden, Gütern und Pflichten, der das Leben greifbar erfüllt und sinnhaft macht, entstammt der ungreifbaren Lebenstiefe jenseits, für die das Leben nur ein Traum ist und für die seine Ziele und Erfüllungen nicht gelten.

Markandeya wird belehrt und wird wissend, aber nicht durch greifbare Lehre und Formel, sondern wie in einem Traum, dessen sinnbildliches Geschehen ihn sich selbst zu erfahren gibt, wie er nicht um sich gewußt hat. In Schreck und Überraschung, Bangen und Beglückung tauchen Bilder und Gestalten, dazwischen Worte, empor, sie nehmen ihn in sich auf, werfen ihn einander zu, zergleiten und lassen ihn gleiten; jedes einzelne dunkelt vor Sinn, und ihr Nacheinander und Beisammen deutet auf einen höheren Sinn und schließt sich zu einem höheren Ganzen, das um und um Sinn ist, der den Heiligen umwebt und durchdringt. Schließlich wird er selbst ein Teil dieses Sinns; was er schaute und litt, löst sich auf in den Gesang des Schwans, den er, heimgekehrt, im Leibe des Gottes vernimmt. Nun ist er verwandelt und trägt sein Ich nicht mehr wandernd von Ort zu Ort, an Heiligem sich zu erbauen und anderen als ein Heiliger erbaulich zu sein – ein neuer Sinn ist an ihm aufgegangen: sein Ohr vernimmt den Gesang des göttlichen Schwans, und er lauscht ihm zeitlos selig an entrückter Stätte.

Der Schwan ist die letzte Gestalt, die der »unentfaltete Entfaltende« in seinem Spiel mit dem Heiligen vor ihm entfaltet – die letzte Maske, in die er sich verlarvt, um sich dem wissend Gewordenen zu offenbaren. Seine Maya kleidet ihn in das Zeichen Brahmas, denn der Schwan ist die Tiergestalt Brahmas, ist das Tier, auf dem er reitend die Welt durchschwebt. Der Schwan ist das Sinnbild seligen Beisichseins und grenzenloser Weite: der wilde Schwan ist heimatlos und an keine Stätte gebunden. Auf seinem Wanderfluge vom Süden zu den Höhen des Himalaya und wieder hinab ist er überall zu Haus und nirgends verhaftet, er gibt sich der Erdentiefe hin mit ihren Gewässern, aber er ist ihr nicht verfallen, wie was am Boden und im Feuchten lebt, er hebt sich auf ins obere Meer des Äthers und schwimmt in seiner Unendlichkeit. Er ist der Gast der unteren Sphäre und gibt sich ihren begrenzten Orten wie zum Spiel, die Erde hält ihn nicht, er tauscht sie mit der Höhe, wie es ihm gefällt. So ist er Sinnbild des Göttlichen, das die Welt durchwaltet und nicht in sie eingeht, das jenseits west, wie es sie diesseits erfüllt – Sinnbild des ungreifbar Ungebundenen, das die kleine Leibeswelt des Menschen zu innerst trägt, und der alldurchdringenden feinsten Kraft im Weltleibe.

Der indische Yogin wird dieses Göttlichen im Mikrokosmos seines Leibes inne, wenn er auf seinen Atem lauscht. Sein ständiger Gesang verkündet sein geheimes Wesen: ein und aus tönt der Atem »ham – sa«. – So aber klingt das indische Wort für Schwan, »hamsa«, aus und ein sagt er »sa – 'ham«, aber »sa« meint »er«, und »'ham« (oder »aham«) bedeutet »ich« – »ich bin er«. Damit sagt der Atem: »Ich«, die sinnlich greifbare innerste Kraft des Lebens, das die Welt des Leibes erfüllt, und die Person, das sich greifbare Ich erhält, ist »er« – jener andere, der den Weltleib aus sich quellen läßt und füllt und jenseits seiner greifbaren Fülle wie jenseits der Person im Dunkel steht – in dem Dunkel, das ihren sich selber leuchtenden Schein umfließt, und das dunkel und ungreifbar für sie ist, weil sie sich selber leuchtende Gestalt, Welt und Ich, sind.

Der indische Yogin vernimmt den Gesang des Schwans als Atem seiner Leibeswelt innen, der heilige Markandeya lauscht ihm als Weltatem des Gottesleibes ringsum – beide schwingen in ihm, der auf dem Grunde aller Lebensgestalt tönt, und beiden übertönt dieser Gesang das übrige Geräusch der Welt. Mit seinem Sinn »ich bin er« schlägt dieser Gesang die Brücke zwischen dem Innersten und dem Weitesten, zwischen dem Innigsten und dem Umfassendsten und sagt den Sinn des vielfältigen Traumgeschehens noch einmal aus. Der Schwan ist so wahr wie das furchtlose Kind, in weltloser Öde geborgen, und wie der Riese, der in sich selbst, den Wassern, wogend ruht, wahr wie die Welt, die er wimmelnd in sich trägt, und wie die Nacht, in deren Flut alles vergangen ist. Daß eines ins andere taucht, es ist und nicht ist; daß immer eines die Tauschgestalt zum anderen ist und es verdunkelt, indem es sinnvolles Licht aus sich selber drüberhin wirft: Sinn ohne Ende, Rätsel ohne Boden – das ist Sinn vom Ganzen her. Eines ist wie das andere, trotz Schrecken und Bestürzung, die dazwischenliegen: der leuchtende Leib des Gottes und das gestaltlose Meeresdunkel, die heimische Ordnung der idealen Welt innen und die raumlose Nacht außen, das spielende Kind und seine Wolkendonnerstimme. Wandle wissend in dem allen, sieh das eine im anderen, recht betrachtet ist alle Gestalt Tauschgestalt, und alle Tauschgestalten sind Masken, die verlarven, was sie offenbaren. Wo ist innen, wo ist außen? Sind nicht die nächtig umfangenden Wasser der Schoß der Welt, und die Welt im Schoße des Gottes ihre Ausgeburt und Larve? Das Schreckende birgt das Tröstende, eins offenbart sich als das andere – nirgends ist Anfechtung und Drohung für den wissend Gewordenen – aber auch nirgends mehr Lockung für ihn, mit seinem Ich eine Welt zu durchgeistern. Der in die bodenlose Tiefe stürzte und im Untergründigen zu ertrinken wähnte, oder wie ein Ungeborenes im Mutterschoß sich blind geborgen fühlte in der Harmonie seiner Welt, schwingt mit entrückter Ruhe in dem großen Atem, der das Ganze trägt.

Die Geschichte von Markandeya ist die Antwort des Erhabenen auf Manus Frage nach dem Geheimnis der Yogawunderkraft, mit der das Göttliche die Welt einrafft, entfaltet und bewegt. Auf die Frage nach dem Geheimnis der Maya erzählte Vischnu dem Brahmanen Sutapas die Erlebnisse des heiligen Narada, so antwortet er Manu mit der Erzählung von Markandeyas Abenteuern. Die beiden Fragen nach der Maya und nach der Yogazaubermacht zielen ins gleiche. Was vom Geschöpf her Maya heißt: Zauber, der das Geschöpf befängt und in sich hält als Glied des Zaubergewebes, heißt vom Gotte her, dem kosmisch zaubernden, Yogawunderkraft. Der unentfaltete Entfaltende, der die Welt in sich trägt und aus sich entfaltet und wieder nach Gefallen in sich rafft, ist der große Yogin. Wie die Tiefe in uns, die unser greifbares Teil bei jedem Erwachen aus traumlosem Schlaf neu aus sich spielen läßt und speist, daß es sich in sich selbst befange, bringt das Göttliche die Welt hervor und alle anderen Gestalten, in denen es sich verlarvend offenbart.

Ungreifbar gestaltlose Kraft ist der Stoff der Welt und ihrer Gestalten; sie ist dem vollkommenen göttlichen Yogin in Willfährigkeit ohne Maß zu Diensten, und wie ein Yogin auf Erden vor dem eigenen einsamen Blick oder im Kreise von Zuschauern aus der gesammelten Kraft asketischer Glut Tauschgestalten und Vorgänge heraufzaubert, daß aller Augen sie greifen können, und sie verschwinden, wie sie kamen, nachdem sie spielten, was sie sollten – so wirkt das Göttliche die Welt: ein Phantasma vor seinem Blick, bannende Wirklichkeit für die in sie Gewobenen.

 

Indien ist den Wassern der Tiefe näher als der Westen, den Islam einbegriffen; amphibische Gelassenheit angesichts des Elements, das alles in sich auflöst und verwandelnd neu aus sich entläßt, ist seine Gebärde. Das wunderbare Motiv, wie einer ins Wasser untertauchend in ein neues Dasein auftaucht, wie er dabei von Lebenstraum zu Lebenstraum sinkt, ist ins Bereich islamischer Erzählung gewandert und von dort auch zu uns gelangt. Pétis de la Croix, der lange in Persien war, erzählte es dem persischen Derwisch Mokles nach, in den Märchen von »mille et un jour«, die Lesage überarbeitete und 1710-1712 dem Westen schenkte (eine deutsche Übertragung von Paul Hansmann und Paul Ernst erschien 1925: »Die Märchen von Tausend und einem Tag«). Mokles war ein Sufi, er soll in seiner Jugend eine Sammlung indischer »Komödien« – sie hieß »Die Freude nach dem Kummer« – in seinen Band persischer Erzählungen umgegossen haben. Augenscheinlich handelte es sich bei seiner Vorlage nicht um wirkliche Komödien fürs indische Theater, aber um Erzählungen in Dialogform, um Berichte, die in Gespräche gerahmt und geschachtelt waren, wie das die übliche Form des Erzählens und Lehrens in Indien bildet, in den »Alten Überlieferungen« wie anderwärts. Pétis de la Croix erzählt eine wunderbare Geschichte von dem weisen Scheich Schahab-al-Din:

Der Sultan von Ägypten versammelte einmal alle Gelehrten seines Reiches in seinem Palast, und es erhob sich unter ihnen ein Streit. Man sagt nämlich, der Erzengel Gabriel habe eines Nachts den Propheten Mohammed von seinem Lager entrafft und ihm alles gezeigt, was in den sieben Himmeln, im Paradies und in der Hölle vorhanden ist; der Prophet aber habe zudem mit Allah neunzigtausend Unterredungen gehabt und sei dann von demselben Engel auf sein Lager zurückgebracht worden. Ein Gelehrter behauptete nun, all diese Dinge hätten sich in so kurzer Zeit abgespielt, daß Mohammed bei seiner Rückkehr sein Bett noch warm gefunden hätte, ja, er habe noch einen fallenden Krug aufheben können, bevor das Wasser völlig ausgelaufen war, obwohl er selbst den Krug umgestoßen hatte, als ihn der Engel Gabriel entführte. – Der Sultan, der die Versammlung leitete, erklärte, das sei unmöglich. Er sagte: »Ihr versichert, es gäbe sieben Himmel, und zwischen ihnen läge jedesmal ein Raum, den zu durchwandern ein Mensch fünfhundert Jahre braucht, und die Breite jedes Himmels betrage soviel wie jeder dieser Zwischenräume – wie ist es möglich, daß Mohammed alle diese sieben Himmel und Zwischenräume mit ihren Weiten durchwanderte und dazu neunzigtausend Unterredungen mit Allah hatte, bei seiner Rückkehr aber das Bett noch warm fand und den Krug, den er auffahrend umgestoßen hatte, noch nicht ausgelaufen? Wer wird einem so lächerlichen Märchen Glauben schenken?« – Die Gelehrten erwiderten, so etwas könne zweifellos nicht mit natürlichen Dingen zugegangen sein, aber der göttlichen Allmacht sei kein Ding unmöglich. Aber der Sultan war augenscheinlich was man einen Freigeist nennt und wollte diese Auskunft nicht gelten lassen. So gingen die Gelehrten uneins auseinander und ohne den Herrscher überzeugt zu haben.

Das Gerücht von diesem Streit lief durch das ganze Land und gelangte auch zu dem gelehrten Scheich Schahab-al-Din, der aus einem Grunde, den die Geschichte nicht vermeldet, an dieser gelehrten Versammlung nicht teilgenommen hatte. Er begab sich in der größten Tageshitze in den Palast des Sultans und wurde von ihm mit Ehren zur ungewohnten Stunde empfangen, da er in dem Rufe stand, auch vor Fürsten sehr hochmütig zu sein. Der Sultan fragte ihn nach seinem Begehr und meinte, er hätte sich nicht persönlich bemühen brauchen, um von ihm zu erlangen, was er wünsche. Er aber sagte, er wünsche sich nur die Ehre, seine Hoheit den Sultan einen Augenblick zu unterhalten.

Das Gemach, in dem die beiden saßen, hatte Fenster nach allen vier Seiten. Der Scheich bat, sie alle schließen zu lassen, und die Unterhaltung nahm ihren Anfang. Dann ließ der Scheich eines der Fenster öffnen, der König blickte hinaus und gewahrte die Wald- und Berglandschaft, auf die er blickte, wie sie von berittenen Kriegern wimmelte, die mit verhängtem Zügel gegen den Palast ansprengten. Er wurde blaß und rief entsetzt: »Allah, was für ein furchterregendes Heer sprengt wider mein Schloß an?« – »Sei ohne Sorge, o mein Herr«, sprach der Scheich, »es ist nichts.« Mit diesen Worten schloß er selbst die Läden, und als er sie einen Augenblick später wieder auftat, lag die Landschaft leer und friedlich da, wie gewöhnlich.

Ein anderes Fenster blickte über die Stadt. Als der Gelehrte es auftun ließ, sah der Sultan ganz Kairo in Flammen stehen, das Feuer leckte hoch in den Himmel hinauf. »Was für ein Brand!« rief der Sultan, »da sinkt mein herrliches Kairo in Asche!« – »Sei ohne Sorge, o Herr«, sprach der Scheich, »es ist nichts«, und schloß das Fenster, und als er es wieder öffnete, war von dem Brande keine Spur.

Dann ließ er das dritte Fenster auftun, es ging auf den Nil, und der Sultan sah, wie der Strom gewaltig über seine Ufer trat und wie seine Wogen rasend in den Palast schlugen. Vielleicht hätte er nach den beiden Wundern, die er eben erlebt hatte, gelassen bleiben sollen, aber er rief: »Wehe mir! Die Überschwemmung wird meinen Palast wegfegen und mich samt meinem Volke ertränken!« – »Sei ohne Furcht«, sprach der Scheich, »es ist nichts.« Wirklich hatte der Scheich das Fenster kaum geschlossen und wieder aufgetan, und der Sultan sah den Nil wie gewöhnlich in seinem Bette vorüberziehen.

So ließ der Scheich auch das vierte Fenster öffnen, es ging auf die Wüste. Aber da sah man Fruchtgärten und Weinberge ohne Ende, in Blumen und Früchten schwellend, von Bächen durchrauscht, und die Nachtigallen schlugen im Hag. Der Sultan jubelte über die wunderbaren Dinge, die sich seinem Auge boten. »Welch ein Wandel!« rief er, »welch schöner Garten, welch ein Aufenthalt! Wie gern will ich alle Tage mich darin ergehen!« – »Freue dich nicht zu sehr, o mein Herr«, sprach der Scheich, »es ist nichts.« Damit schloß er das Fenster, und als er es wieder auftat, lag die Wüste da wie eh und je.

»O mein Herr«, sagte der Scheich, »ich habe dir große Wunder gezeigt, aber wo bleibt das alles im Vergleich zu dem erstaunlichen Wunder, zu dessen Zeugen ich deine Hoheit jetzt machen will? Befiehl, daß man eine Schüssel voll Wasser bringe, wie man sie zum Baden braucht.« – Der Sultan gab seinen Dienern Befehl, und als sie die Schale brachten, hieß der Scheich den König sich entkleiden und die Lenden mit einem Tuche gürten. Der König fügte sich seinem Ansinnen, und wie er inmitten der Diener nur mit einem Tuche gegürtet stand, sprach der Scheich zu ihm: »O mein Herr, geruhe den Kopf ins Wasser zu tauchen und ziehe ihn auf der Stelle zurück.«

Der König tauchte also den Kopf in die Schale, und im selben Augenblick hob er sich aus dem Wasser am Ufer eines unbekannten Meeres und stand an einem fremden Strand, über dem ein unbekanntes Gebirge aufragte. Dieses Wunder erstaunte ihn mehr als alle anderen zuvor, und er rief von Grimm erfüllt: »O Scheich, o du Verräter, der du mich so grausam betrogen hast! Kehr' ich jemals nach Ägypten zurück, nachdem du mich durch deine abscheuliche schwarze Kunst meinem Lande entrückt hast, will ich mich an dir rächen, das schwöre ich dir! Du sollst elend umkommen!« – Und weiter erging er sich in Flüchen und Drohungen wider den Scheich, bis er sich sagte, daß all sein Klagen und Drohen zwecklos sei. Also ergab er sich in sein Schicksal und ging mutig auf ein paar Männer zu, die vor ihm im Gebirge Bäume fällten. Er war entschlossen, seinen wahren Stand nicht zu verraten, um nicht für einen Narren oder Schwindler zu gelten – so gab er sich für einen schiffbrüchigen Kaufmann aus, und er erbarmte die Männer. Die armen Holzfäller hatten selber nichts, aber sie ließen ihm der eine einen zerfetzten Rock, der andere ein Paar alte Schuhe und nahmen ihn mit sich nach der Stadt hinterm Gebirge, wo sie zu Haus waren. Dort ließen sie ihn allein, verschwanden ein jeder nach seiner armseligen Hütte, er aber, müde und hungrig, machte vor der Tür eines Schmiedes halt. Der hieß den Ermatteten eintreten. Der König gab sich als schiffbrüchig aus, aber der Schmied tröstete ihn: »Du bist noch jung und wirst dich vielleicht in dieser Stadt nicht unglücklich fühlen, denn ihre Sitten sind den Fremdlingen, die sich hier niederlassen wollen, gewogen. Oder hast du keine Lust?« Und er gab ihm einen Rat: »Geh zum öffentlichen Bade der Frauen, setze dich an die Tür und frage jede Dame, die das Bad verläßt, ob sie schon einen Gatten hat, die aber verneint, wird nach der Sitte des Landes dein Weib.«

Der Sultan tat, wie ihm geraten war, und ging wie durch Himmel und Hölle, als nacheinander eine sehr schöne, dann aber zwei grundhäßliche Frauen, eine fürchterlicher als die andere, das Bad verließen, und er an eine nach der anderen die Frage tun mußte, denn er begriff, daß er keine auslassen dürfe. Aber alle drei hatten Männer – die vierte aber, die seine Frage verneinte, war schöner noch als die erste und reich dazu. Er ward ihr Gatte und lebte sieben Jahre lang mit ihr in Glück und Freuden, und sie schenkte ihm sieben Knaben und sieben Mädchen – augenscheinlich sieben Knaben für die sieben Himmel, sieben Mädchen aber für die Zwischenhimmel, die Mohammed im Bruchteil eines Augenblicks durchwanderte. Da er sich auf kein Gewerbe verstand und, wie er königlich gewohnt war, aus dem Vermögen seiner Frau dahinlebte, war es nach sieben Jahren aufgezehrt, sie saßen im Elend, und die schöne Dame sprach zu ihm: »Solange ich etwas besaß, hast du nicht damit gespart; du hast in Müßiggang gelebt und dir die Zeit wohlsein lassen. Jetzt ist es an dir, dafür zu sorgen, daß du deine kleine Familie ernähren kannst.«

Diese Worte betrübten den König. Ratlos, wie er war, suchte er den alten Schmied auf und klagte ihm seine Lage. Als dieser Schmied seines Glückes sah, daß er sich auf keinerlei Hantierung verstände, gab er ihm zwei Kupfermünzen und dazu den Rat, sich davon Stricke zu kaufen und sich auf den Markt zu stellen, wo die Lastträger stehen. Der König tat's. Kaum stand er dort, da kam schon ein Fremder, ihn zu dingen, und lud ihm einen großen Sack auf. Den konnte er nur mit vieler Mühe tragen, und die ungewohnten Stricke schnitten ihn tief in die fürstlichen Schultern. Und schließlich erhielt er als Lohn eine Kupfermünze. Als er die aber als Tageslohn nach Hause brachte, mußte er von seinem Weibe hören, wenn er nicht täglich das Zehnfache brächte, könnten die Seinen bald Hungers sterben.

Da war er am andern Morgen noch ganz von Trauer übermannt und mochte nicht hingehen, bei den Lastträgern zu stehen; er erging sich in der Einsamkeit am Ufer des Meeres und sann seinem Unglück nach. Aufmerksam betrachtete er die Stelle, an die er durch die Kunst des Scheichs entrückt worden war, und rief das ganze unheimliche und verhängnisvolle Abenteuer ins Gedächtnis und mußte darob weinen. Darüber kam die Zeit der rituellen Waschung, da tauchte er den Kopf ins Wasser hinab – als er ihn aber wieder hob, erstaunte er in höchstem Staunen, denn er fand sich in seinem Palaste in Ägypten vor der Schale stehen, umringt von all seinen Dienern. »O du Grausamer«, rief er aus, als er den Scheich noch in eben der Stellung dastehen sah, in der er ihn verlassen hatte, »fürchtest du nicht, daß Gott dich dafür straft, wenn du also an deinem Herrn und Gebieter handelst?« – »O mein Gebieter«, erwiderte der Scheich, »woher kommt dieser Grimm deiner Hoheit wider mich? Du hast eben erst dein Haupt in dieses Becken getaucht und es auf der Stelle wieder daraus erhoben. Wenn du mir nicht glauben willst, so frag' deine Diener, die dessen Zeugen waren.« – »Ja, o Herr«, riefen alle Diener mit einer Stimme, »der Gelehrte spricht die Wahrheit.« Da rief der Sultan ihnen zu: »Ihr seid Betrüger! Seit sieben Jahren hält dieser Verfluchte mich durch die Macht seines Zaubers in fremden Landen fest. Ich habe mich dort vermählt und sieben Söhne und sieben Töchter gezeugt, aber nicht darüber beklage ich mich vor allem, sondern ich klage, weil ich Lastträger werden mußte! Weh dir, du arger Scheich! Konntest du es über dich gewinnen, mich zum Träger der Stricke zu machen?«

Da versetzte der Scheich: »Ei, o mein Herr, da du meinen Worten keinen Glauben beimessen willst, so will ich dich durch meine Handlungen überzeugen.« Mit diesen Worten entkleidete er sich, gürtete seine Lenden, trat in die Schale und tauchte den Kopf unters Wasser. Und während er so mit dem Kopfe unter Wasser war, griff der Sultan, der immer noch den Grimm wider ihn in sich kochen fühlte und sich seines Schwurs entsann, ihn zu bestrafen, sollte er je wieder nach Ägypten heimkehren – griff der Sultan nach seinem Schwerte, um dem Scheich den Kopf abzuschlagen, sowie er ihn aus dem Wasser ziehen würde. Aber der Gelehrte erkannte die Absicht des Sultans dank seiner geheimen Kunst, und dank einer anderen seiner wunderbaren Künste verschwand er plötzlich im Wasser und entrückte sich selbst fernab von Kairo nach Damaskus.

Er schrieb von dort dem Sultan einen Brief, in dem die Worte standen: »O König, wisse, daß Du und ich nur arme Diener Allahs sind. Während Du Deinen Kopf ins Wasser tauchtest und auf der Stelle wieder hobst, hast Du eine Reise von sieben Jahren gemacht, Du hast Dir während dieser Zeit ein Weib genommen und viel gelitten und sieben Töchter und sieben Söhne gezeugt, Du hast Dich viel gemüht, und Du wolltest nicht glauben, daß Mohammed, unser großer Prophet, sein Bett noch warm fand und den Krug noch nicht geleert. Erfahre, daß jenem nichts unmöglich ist, der mit dem einen Worte ›Werde!‹ Himmel und Erde erschuf.«

Es heißt, als der Sultan diesen Brief gelesen hatte, begann er zu glauben, aber es heißt auch weiter, daß er doch noch versuchte, seinen Schwur wahrzumachen und aus der Ferne den Scheich töten zu lassen, was ihm freilich, wie zu erwarten war, mißlang.

 

Hier ist das indische Motiv, »Tauche dich unter ins Wasser, dann wirst du um die Maya wissen«, ins Islamische übersetzt. Der Gott Mohammeds kann nicht leibhaftig in der Welt erscheinen, auch nicht verlarvt den Menschen als Person begegnen wie der Allgott indischer Mythen; ein Heiliger, ein Gesandter Gottes – oft ist es Moses oder Elias, Jesajas oder Jeremia –, tritt an seine Stelle. Aber das Wasser der Schale, in die Sultan und Scheich ihre Häupter beugen, ist das Wasser des indischen Mythos. Freilich, der Sultan ist kein gläubiger Inder, und so ist die Wirkung des Untertauchens eine völlig andere. Die Frage: »Was ist das Wirkliche? Ist, was wir wachend und bewußt an uns und um uns zu greifen meinen, die ganze Wirklichkeit? Oder was ist es mit diesem Gewebe, das uns umwirkt? Ist unser Wachen eine Art Träumen, ausgeworfen von unserer unbewußten Tiefe als eine besondere Form, in der wir uns als uns selbst verfangen?« – diese Frage, die das arglose Selbstvertrauen des Lebens zu seiner ihm vertrauten Greifbarkeit anrührt, trifft auf ein taubes Ohr. Der Sultan wird durch keine Entfaltung der Zauberkraft, der Yoga-Maya des Scheichs in einem der vier Fenster belehrt, darum muß er selbst hinein, nicht bloß anschauen, aber am eigenen Leibe erleben und erleiden: hinab ins Wasser, hinein ins Traumhafte der eigenen Wirklichkeit. Aber auch das hilft ihm nicht. Er kehrt zurück, und alles was er hat, ist – Wut gegen den, der ihm das angetan hat: diesen Verlust seiner Person, daß er die königliche Herrlichkeit, die prunkende Gebärde des Herrschers gegen Elend in der Fremde eintauschte, daß er sein fürstliches Ich mit dem Ich des Lastträgers vertauschen mußte – das kann er nicht verzeihen: die Stricke, die ihm in die Schultern schnitten. Aber wer hat schuld? Doch nur er selbst: Von der vierfachen Maya der Fenster unbelehrt, nimmt er die fremde Küste, Gebirg und Stadt für echt, und statt in ihrem Anblick wieder unterzutauchen, geschwind wie der Scheich die Fenster schließen ließ und wieder öffnen zum gewohnten Bild – statt dessen schreitet er in die Phantasmagorie hinein und siedelt sich in ihr an. So schreiten wir alle Morgen, zu Ich und Welt erwachend, verzweifelt oder wohlgemut, aber ganz in sie befangen, in beide hinein und siedeln uns in ihrer Maya an.

Auch als der Sultan schließlich wieder an der verhängnisvollen Küste bei der Stelle seines Auftauchens steht, durch kein Erkennen oder Ahnen zu ihr geleitet, nur durch Elend und Verzweiflung hingetrieben, lenkt ihn keine Eingebung zurück ins Wasser, unterzutauchen, der Zufall führt ihn, daß die Stunde ritueller Waschung gerade da ist. Wäre er nicht ganz so blind für dieses Spiel der Maya, er hätte diese sieben Jahre mit Zufallsglück und Demütigungen sich ersparen können. Aber er hing an dem, was ihm als Ich und Welt jeweils vor Augen war, wie es auftauchte aus den Wassern, indem er in sie tauchte, er hing an dem, was für Indiens Mythos weniger ist als das Gaukelspiel eines Traumes und dabei alle Welt verblendet, was nach den Reden des Scheichs kein Anlaß zu Sorge, Furcht oder Freude ist, denn »es ist nichts« nach seinen Worten, freilich auch »selbst den Göttern unausdenkbar verblendet es alle Welt«.

Wie die Tiefe unserer Träume uns Dinge zu erleben gibt, die uns nicht freuen, und unser Ich in Rollen kleidet, die unser waches Selbstgefühl sich nicht gefallen ließe, lehren die Wasser den Sultan, wiewenig seine anspruchsvolle Natur den natürlichen Ansprüchen des Lebens gewachsen sei. Ein Untertauchen aus dem herrscherlichen Tage und traumhaft schnell ist er seiner fürstlichen Person entkleidet, steht als Bettler am fremden Strand, hockt mit abgelegten Lumpen in der Glückslotterie des Lebens am Tor des Frauenbades, bangt, eine greuliche alte Hexe heimführen zu müssen, oder ohne Verdienst und Ansehen seiner Person die herrlichste Frau als Zufallsgeschenk zu erhalten. Wie bitter ist auch das Gute: das Mitleid der Ärmsten, der Rat des Schmiedes, ja auch das Glücklos, Schönheit und Besitz – wie arg bleibt alles, wenn einer dabei nicht er selbst sein darf! Die Wut des ausgetauschten Ich und was es ausgetauscht erlebt, bringt erst sein eigenes Wesen ganz heraus. Dem Sultan ist seine prunkende Welt genommen und eine geringere Rolle in die Hand gedrückt, aber sein ichbegrenztes verschwenderisches Wesen ist noch da: ohne Rücksicht und ohne Vorblick, ohne Besinnung und Weisheit verschwendet er das Gut seiner Frau, die Glückslose, die ihm in den Schoß gefallen sind wie die Herrschaft Ägyptens. Daher das Elend als selbstverhängtes Geschick und in ihm das Beschämende des letzten Zufalls, der den Sultan endlich augenblicks wieder in seine königlichen Ehren einsetzt. Leer und verstockt taucht er aus seinem Lebenstraume in den Wassern auf, wie er blind für den Sinn der Wunder in den Fenstern seinen Kopf ins Wasser steckte; aber, indes er aus dem Traum, der ihn in Zorn benahm, wieder in den vertrauten seiner Herrschaft taucht, hat ihn der andere Traum entlarvt. Wie ist sein Wesen bloßgestellt durch diese Entrückung eines Augenblicks: wie er sich hier geschieht, das ist er wirklich ganz, einmal ohne die Zufallsgunst der Hoheit und Gewalt, die ihm in Kairo dienen und seinen Mangel an Größe und Weisheit gnädig verschleiern. Wie taub und leer er ist, bringt der traumhafte Wirbel, zwischen zwei Atemzügen, ihm aus der Tiefe seines Wesens herauf: er taugt zu nichts, keine Geschicklichkeit und keine Gabe, die ihm Herzen gewönne und zwischen ihn und seine Not träte, rettet ihn vor Verzweiflung, und die Seinen sind ihm nur eine arge Last. Der Zauber des Scheichs bringt heraus, was in diesem Sultan steckt, er heißt ihn niederfahren in die Wasser seiner eigenen Tiefe, darin sein verborgenes Wesen anschauen und ihm standhalten. Er will ihn lehren, was es mit dieser Wirklichkeit seiner fürstlichen Person auf sich hat, die der Sultan prahlend in die Waagschale wirft. Aber das Spiel endet, wie es nach dem Vorspiel mit den Fenstern enden muß. Weil der Sultan, nach allem was er an sich selbst erfahren hatte, noch immer nicht die Maya aller Gestalt begriff: seiner selbst, des Scheichs und aller anderen, wie sie ihm greifbar waren, läßt er den Scheich, den er töten will, selbst in die zauberischen Wasser steigen, die ihn entrücken können und nun wirklich leibhaft entrücken. Freilich, wie wollte er verhindern, daß dieser Mayamächtige sich ihm entzöge?

Die Geschichte Schahab-al-Dins bekräftigt die Unzerbrechlichkeit des Traums vom Ich: es müßte sich selber auflösen, wollte es den Schlüssel zu seinem Geheimnis finden, indes es gerade sich selbst als Schlüssel fest in Händen krampft, um sich damit die Welt aufzuschließen.


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