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2. Brahmas fünftes Haupt

Vorzeiten neigten sich die großen Seher auf dem Gipfel des Weltbergs vor dem göttlichen Ältervater Brahma und sprachen zu ihm: »Was ist das Eine, Unvergängliche, Wirkliche?« Und Brahma nannte, von der Maya Schivas, des Großen Herrn, verblendet, höchste Wirklichkeit nicht erkennend, sich selbst im Übermut: »Ich bin der Schöpfer, der Schoß der Welt, bin aus dem eigenen Wesen erworden, bin der einzige Herr, bin anfangsloses höchstes Brahma. Wer mich als solches verehrt, wird erlöst. Ich bringe alle Götter ins Werden und Wirken, lasse sie entwerden und ende ihr Wirken, und nicht findet sich irgendwer in den Welten, der mich überragte.«

Als er so von sich dachte, erhob sich aus dem ruhenden Allwesen die Erscheinung Vischnus und sprach, mit zornroten Augen hell auflachend: »Was ist die Ursach, Brahma, daß solch ein Gedanke dich jetzt befällt? Du übst den Yoga des Nichterkennens: dergleichen findet sich doch nicht an dir! Ich bin der Schöpfer der anfänglichen Welten im Opfer, vom ruhenden Urwesen her, ohne mich ist nirgendwo Leben in dieser Welt, ich allein bin höchstes Licht, höchster Weg – von mir empfingst du den Antrieb und schufst das Weltrund.«

So stritten sie in Verblendung miteinander und wollten einer den anderen besiegen; da kamen die vier heiligen Veden herzu, betrachteten die beiden und verkündeten zitternden Herzens die wahre Wesenheit des Gottes, der an höchster Stätte steht. Der Veda der heiligen Strophen sprach: »In wes Innerem alle gewordenen Wesen sind, von wem her alles sich bewegt, was sie das höchste Wirkliche nennen: das ist der Gott Schiva, der Große Herr.« – Der Veda der heiligen Sprüche sprach: »Der durch alle Opfer und durch Yoga als Herr verehrt wird, den sie den göttlichen Herrscher nennen: das ist der Gott, der den Bogen führt.« – Der Veda der heiligen Sangesweisen sprach: »Von dem alles im Wirbel des Scheines umgetrieben wird, was glückhaft im Räume befangen ist, über den die Yogin als das Wirkliche sinnen: das ist der Große Gott, der Friedebringer.« – Der Veda der Zauberworte sprach: »Den die Asketen als Herrn der Götter erschauen und mit Opfern ehren, der Große Herr, das Urwesen, Rudra: dieser Gott ist der erhabene ›Sein- und Werden‹.«

Als Brahma diese herrlichen Worte von den Veden vernahm, lachte er und sagte verblendet: »Wie kommt es, daß dieses höchste Brahma, das alles Haftens bar ist, mit seiner Gattin in Lust spielt und von Quirlgeistern mächtig erhoben wird?« – Als er so sprach, nahm der erhabene Urlaut OM, der Leiblose, Leib an und sprach: »Niemals spielt der erhabene Herr in Lust mit irgendeiner Gattin, die von seinem Wesen verschieden wäre, denn solches: Gatte und Gattin in einem, ist er. Er ist aus sich selber, ist Himmelslicht aus sich in Ewigkeit; es heißt: aus seiner Lust an sich selbst entstand die Göttin – sie ist Schivas zum Spiel gewollte Form.«

So sprach er, aber auch da zerging noch nicht die Blindheit Brahmas und Vischnus, eben weil Schivas Maya sie umfing. Da erblickte Brahma einen wundersamen himmlischen Lichtschein, der rings das Firmament erfüllte, und in seiner Mitte, in einem Ring von Licht, funkelnd von Strahlenglanz, schwebte Schiva. Als Brahma das himmlische Antlitz in der Höhe sah und das flammenstrahlende furchtbare, makellose Rund, flammte sein fünftes Haupt, das er über die vier Gesichter, die alle Weltgegenden durchdringen, erhob, in übergewaltigem Zorne auf. Da erschien alsbald ein großer Mann, blauschwarz und rot, einen Dreizack in der Hand, eine Opferschnur von Schlangen um Schulter und Hüfte gegürtet – es war Schiva. Und Brahma sprach zu ihm: »Ich weiß, vorzeiten entsprangst du meiner Stirn; beuge dich zufluchtsuchend vor mir!«

Der Herr vernahm das hochmutsvolle Wort des Lotosgeborenen, da sandte er einen furchtbaren schwarzen Mann: »Zeit«, der die Welten verbrannte. Der fürchterliche Gesell hub gewaltig mit Brahma zu kämpfen an: da hieb er dem weltentfaltenden Gotte sein fünftes Haupt ab. Da starb Gott Brahma, als ihm vom friedewesenden Gotte das Haupt abgeschlagen ward, aber dank Schivas Yogakraft gelangte der Allschöpfer wieder zum Leben. Da sah er wieder inmitten des Strahlenrundes den ewigen Großen Gott, vereint sitzend mit der Großen Göttin. Schlangenkönige umwanden ihn als Armbänder, die Mondsichel war sein Schmuck, er strahlte wie Myriaden Sonnen, er leuchtete unter der Fülle geflochtenen Haars. Er trug ein Tigerfell als Kleid, war mit Ketten himmlischer Blumen geschmückt und hielt den Dreizack in der Hand, sein Leib war mit Asche bestreut.

Brahma betrachtete den Ewigen, der mit der Großen Göttin vereint auf herrlichem Throne saß, und Erinnerung an höchstes Wissen befiel ihn. Er stürzte wie ein Stock zu Boden und feierte den großen Yogin, der schwer zu erschauen ist, mit Anrufungen, die ihn priesen und mit der Litanei seiner hundert Namen. Der Große Gott, der »Wegraffer«, der Betrübten, die sich vor ihm neigen, ihre Trübsal wegrafft, hob ihn gnädig auf und schenkte ihm Yoga höchster Erkenntnis und Herrscherkraft, der nichts die Waage hält. Er sprach zu Rudra, dem Blauroten: »Brahma ist aller Welt verehrungswürdig, er steht an erster Stelle. Du sollst ihn hüten wie dich selbst; ehrwürdiger als du an entfalteten Kräften, soll er dir wie ein Vater gelten. Ihn, das vorzeitliche Urwesen, darfst du, Reiner, nicht töten. Vischnu ist das ›Opfer‹, Brahma ist der ›Stolz‹; über den Stolzen sollst du, Reiner, immerdar gebieten, und das Haupt Brahmas sollst du tragen: zeige der Welt ein Gelübde, um die Sünde des Brahmamordes abzutun, wandere fort und fort, Almosen bettelnd, und bringe Götter und Brahmanen auf den rechten Weg!«

So sprach der höchste Herr und ging zur himmlischen Stätte seines innersten Wesens ein: zur höchsten Stätte. Darauf hieß der schwarzblaue Gott mit geflochtenem Haar, den fürchterlichen Mann »todbringende Zeit« das abgeschlagene Haupt Brahmas aufnehmen und sprach zu ihm: »Wandle du, Sünde zu vernichten, durch die Welt mit deinem Gelübde, das der Welt Heil bringt: mit der Schädelschale in Händen sollst du, Erhabener, allerwärts Almosen empfangen.« – Sprach's und sandte ein Mädchen aus, »Sünde des Brahmamordes« geheißen, mit gräßlich zähnebleckendem Munde und mit Flammenkränzen geschmückt: »Folge dem Dreizackträger mit deiner schrecklichen Gestalt, bis er nach Benares, der göttlichen Stadt gelangt!« und wandte sich zu »Zeit«, dem Großen Herrn der Welt, der flammend alles verzehrt: »Wandere durch alle Welten, Almosen bettelnd auf mein Geheiß! Wenn du zu Vischnu, dem Herrn der Götter gelangst, wird er dir ein Mittel sagen, das dich von deiner Schuld reinigt«

Der erhabene Wegraffer vernahm das Wort der Gottheit über den Göttern, und das Wesen des Alls wanderte durch alle drei Welten mit der Schädelschale in der Hand. Verstellte Erscheinung nahm er an, im eigenen Glanze flammend, herrlich und entsühnend war er. Er hatte drei Augen und strahlte wie tausend Sonnen, Verklärte und stiergleiche Quirlgeister umgaben ihn, des Auge das Todesfeuer der Zeit blitzt. Er trank den Göttertrank »Todlos«, die Seligkeit des Herrn an höchster Stätte, und spielend in mannigfachem Gebaren zog der Herr durch die Welten einher. Das Frauenvolk zog ihm nach, als es den Friedebringer mit dem toddunklen Antlitz, »Zeit-Tod«, den Furchtbaren, erblickte, wie er voll Schönheit und Reiz war; sie besangen ihn mit vielerlei Liedern und tanzten vor dem Herrn einher, blickten ihm lächelnd ins Antlitz und verzogen verführerisch die Brauen.

Der Dreizackträger wanderte zu den Stätten der Götter und Dämonen und aller anderen Wesen, endlich kam er zu Vischnus Stadt, wo das Höchste Wesen wohnte. Als er, der der Welt den Frieden bringt, mit seinem Geistergefolge nahte, die göttliche Behausung zu betreten, verwehrte ein starker Türhüter, der das göttliche Wesen des Höchsten Herrn nicht erkannte, ihm den Eintritt Vischvaksena, »Heer nach allen Seiten«, war er genannt; aus einem Stück Vischnus entstanden, hielt er Muschelhorn, Wurfring und Keule in Händen. Auf Geheiß des Friedebringers kämpfte seine fürchterliche Schar, »Kalavega« geheißen, das ist: »reißend wie Tod und Zeit«, mit dem Vischnu-Entsprungenen, aber er besiegte sie und lief mit zornroten Augen gegen Rudra an und schleuderte die Wurfscheibe auf ihn. Der Große Gott maß die Waffe, wie sie auf ihn zusauste, nur mit einem verächtlichen Blick, indes durchstach er jenem, der ins Riesige wuchs und wie Weltuntergangsfeuer lohte, mit seinem Spieße die Brust, daß er zu Boden stürzte. Den Gefallenen verließ seine gewaltige Kraft ganz und gar, das Leben verließ ihn, wie es Kranke verläßt, die den Tod geschaut haben.

Als er Vischnus Mann erschlagen hatte, nahm er den Leichnam und trat mit den stiergleichen Anführern der Quirlgeister ins Innere des Hauses. Als Vischnu ihn, den Grund der Welt, erblickte, riß er sich eine Ader aus der Stirn und ließ ihr einen Blutstrom entfließen: »Nimm, Erhabener, mein Almosen, unermeßlich Strahlender! Kein anderes gibt es, das dir geziemte!« Die Schädelschale Brahmas in der Hand des Höchsten Gottes füllte sich nicht, obwohl der Strom eintausend Götterjahre lang in sie schoß. Da sprach Vischnu zum todbringenden Rudra, nachdem er ihn vielfältig gepriesen hatte, voll großer Ehrfurcht: »Wozu trägst du diesen Schädel Brahmas?« – Der Große Herr verkündete ihm alles, was sich begeben hatte. Da rief Vischnu die »Sünde des Brahmamordes« herzu und bat sie: »Laß den Träger des Dreizacks los!« – aber sie wich nicht von seiner Seite. Da versank der Allwissende lange in innere Schau, dann sprach er zum Friedebringer: »Erhabener, geh zur göttlichen Stadt Benares, der heilbringenden, wo der Höchste Herr die Sünden aller Welt geschwind zunichte macht.«

Da zog der Gott, im Wunsche, aller Welt Heil zu bringen, spielend zu allen geheimnisvollen Wallfahrtsorten und Stätten, wo Götter wohnen, allerwärts gepriesen von yogastarken Quirlgeistern. Tanzend schritt der große Yogin dahin und trug den Leichnam in der Hand. Vischnu aber, das Urwesen, nahm seine höchste Gestalt an und lief neben ihm her, voll Verlangen, seinen Tanz zu schauen. Und er, der den Stier im Banner führt und dessen Wesen unendlicher Yoga ist, lächelte, als er Vischnu erblickte, und tanzte und tanzte. Auf allen Wegen folgte ihm Vischnu, sein Gefährt war die ewige Ordnung; so gelangten sie in die Stadt des Großen Gottes, die Benares heißt. Kaum war der Herr des Alls, der geflochtenes Haar trägt, in sie eingetreten, da rief die »Sünde des Brahmamordes«: »Wehe! Wehe!« und fuhr mit Geschrei unselig zur tiefsten Hölle.

Als der Wegraffer die heilige Stätte betrat, legte er den Schädel Brahmas nieder, gab den Leichnam dazu, und der Hort des Mitleids sagte zu Vischnu: »Er soll leben! Und wer immer meiner höchsten Erscheinung mit dem Schädel gedenkt, dessen Sündenschuld wird schnell in dieser und jener Welt zunichte. Wer hierher wallfahrtet und am höchsten aller Badeplätze, wie es die Ordnung will, sich abwäscht und Ahnen und Götter durch Opfer satt macht, wird der Sünde des Brahmanenmordes ledig. Erkennt die Vergänglichkeit der Welt und wallt nach der heiligsten Stadt; sie schenkt, wenn der Leib zu Ende geht, höchstes Wissen, höchste Stätte.«

So sprach der Erhabene, umarmte Vischnu und entschwand samt den Herrschern der Quirlgeister im Augenblick. Vischnu aber nahm den toten Vischvaksena und kehrte in seiner höchsten Gestalt schweigend an seine Stätte zurück.

 

Zum Vordergründlichen an diesem Mythos gehört die Begründung der Heiligkeit von Benares; der Wallfahrtsort an den Wassern der göttlichen Ganga erweist seine höchste sündentilgende Wirkung an dem mythischen Ereignis, daß er die schwerste, eigentlich unsühnbare Schuld des Brahmanenmordes abwäscht, und daß Schiva selbst zu ihm gewallfahrtet ist, um ihrer ledig zu werden. Ein vordergründliches Element ist auch der Rangstreit der drei großen Götter, der Schiva über Brahma und Vischnu erhebt. Er ist durch den vierstimmigen Spruch des heiligen Wissens vorab entschieden, und die Quintessenz der Veden, der heilige OM-Laut, bestätigt ihn.

Aber es ist die Gewalt der Maya Schivas, die Brahma und Vischnu als seine höchsten Entfaltungen in sich selbst befangen hält. Begreiflich, daß sie sich selbst – wie alle Geschöpfe – letzte Wirklichkeit dünken in ihrem Wesen, das nichts Geringeres ist, als das Weltspiel zu entfalten und zu tragen. Sie sind sich letzter Ernst, höchste Größe, über die nichts hinausragt, wie könnte die Welt sonst aus ihnen und in ihnen kreisen? Und doch ist es »höchstes Licht«, es anders zu wissen, und der »höchste Weg« ist, sich von dieser Selbstbefangenheit zu befreien. Die Einheit dieses Widerspruchs ist die Umarmung, in der Schiva und die Göttin sich zeitlos umschlungen halten, und die Verwirrung, die dieser Widerspruch dem Selbstgefühl der Geschöpfe auferlegt, daß sie mayabefangen sie selbst sein sollen, indes ihr ihnen Greifbares der Schein ist, der ihr Wesen vor sich selbst verhüllt – diese Verwirrung tobt im Spiel der Quirlgeister, die Schiva preisen, indes Brahma an solchem Gefolge des Gottes Anstoß nimmt.

Auch die großen Götter müssen erlöst werden, sie sind selbstbefangene Walter des Scheins. Aber die stumm leuchtende Selbstoffenbarung des höchsten Wesens am Himmel offenbart erst ganz die Gewalt der Maya, mit der es sein erlauchtes Geschöpf Brahma befängt: anmaßend hebt er sein fünftes Haupt über sich selbst empor. Da naht ihm Schiva wie seinesgleichen, als ein Mann, ihm ebenbürtig und von ihm verschieden wie jener Vischnu, mit dem Brahma sich um den Vorrang zankte. Redend befragt er ihn, aber Brahma weist ihn mit einer Anspielung auf einen alten Mythos ab, daß Schiva seiner Stirn entsprungen sei. Da sendet ihm Schiva, um ihn zu strafen, die Verkörperung seiner dunklen Todesgewalt, den Gott »Zeit« (kala), den flammend alles verzehrenden Untergang, der ihm das Haupt abschlägt, daß er stirbt. Die Yogawundermacht des Großen Gottes erweckt Brahma alsbald wieder zum Leben, und Schiva gibt sich ihm aufs neue in seinem Strahlenglanze zu sehen: mit der Göttin vereint. Jetzt erkennt Brahma ihn als den Höchsten, und der Größere Gott versöhnt ihn mit seiner eigenen furchtbaren Erscheinung. Zum Zeichen der Sühne und um die Welt auf den rechten Weg zu bringen, wird der Brahmamörder auf die Pilgerschaft gesandt.

Brahma scheint von seinem demiurgischen Wesen, die Welt zu entfalten, Leben in allen Formen aus sich hervorzutreiben, so völlig besessen, daß er keine Kraft außer der seinen gewahrt und sich für das Wesen des Ganzen nehmen muß. Vergeblich offenbart sich ihm der höchste Schiva als Einheit aller Gegensätze, vergeblich naht er sich ihm als seinesgleichen; als Brahma sich anmaßt, ihn für sein Geschöpf zu erklären, muß er ihm schließlich in Gestalt der feindlichen Kraft nahen, die Brahmas Weltspiel endet. Sie raubt ihm das Gefühl seiner Einzigkeit und das Zeichen dafür: das fünfte Haupt, das er einsam über seine vier weltwaltenden Gesichter zu erheben wagte. Erlernt sich das Teil des höheren Ganzen begreifen und nimmt den Platz ein, der ihm darin zukommt, und in der Vereinigung Schivas mit der Göttin sieht er das innige Spiel der Gegensätze als völlige Einheit, das in sich spielende göttliche Paar ist zwei in eins.

Vischnu – hier als der Welterhaltende gesehen – steht mitteninne zwischen dem weltentfaltenden Brahma und dem »wegraffenden« Schiva, der Bestand der Welt ist die ständige Verschlingung von Geburt und Tod; Vischnu streitet mit Brahma um den Vorrang, aber er fühlt die Größe des dunklen anderen: er kämpft nicht mit ihm, wie der Türhüter, als jener in sein Haus einbricht, er speist die Almosenschale des wandelnden Todes mit seinem Blute, er weist ihm den Weg und folgt entzückt seinem rauschenden Pilgertanze.

Lust und Grauen umgibt die Gestalt des tanzenden Pilgers, die Frauen singen ihm zu und folgen ihm nach, wie die Mänaden dem Dionysos; gebannt folgt ihm Vischnu: so schaut das Leben in das Gesicht des Todes und wird seiner nicht satt, wenn es die Angst der Fremdheit vor ihm überwunden hat und sich selbst mit ihm als eins begreift, mit ihm verschlungen zu einem Höheren, das die Welt mit ihrer Sprache nicht sagen kann.

Schivas mythischer Pilgergang mit der Schädelschale ist die Weihe, die der Mythos den unheimlichen Asketen gibt, die als Doppelgänger Schivas Indien durchwandern; ihr zeit- und zielloses Schweifen, ihr lange verfemter Orden, das Grauen ihres Gebarens wird durch ihn heiliggesprochen. Wie jener rasende Pilger, durch die Welten aller Götter und Wesen wandernd, zu Vischnu kommt, tritt der Asket mit der Schädelschale an jedes Haus als Bote der alles verzehrenden tödlichen Zeit, als Bote des »Wegraffenden« und zugleich des »Friedebringers«, der alles Leid wegrafft, schließlich als Bote des höchsten Gottes, der jenseits seiner dunklen und lichteren Erscheinungen als Schiva, Vischnu oder Brahma, zeitlos von der Göttin umschlungen, Welt und Jenseits, ruhendes Sein und rasendes Werden, Stille und Spiel in einem ist. Der Asket mit der Schädelschale ist mit seiner stummen Gebärde der Seelengeleiter zum Tode und zu dem Wissen, das ihn tröstlich, ja gegenstandslos macht. Der unbehauste Pilger will von denen gespeist sein, die in Häusern wohnen; sein mahnender Schatten fällt über den Tisch des Lebens, aber er weist über das Grauen hinaus, das er ausströmt, wie die tanzende Erscheinung des Gottes Zeit-Tod zu jener höheren hinweist, aus deren Aura ihr Grauen hervortrat und den Auftrag der Pilgerschaft empfing – aus deren Aura die unlösliche Einheit der Gegensätze als befreiende Erkenntnis im Bilde des in sich verschlungenen göttlichen Paares sich offenbarte.

Schiva, der Asket, den queren, berauschten Blick in die innere Leere gerichtet, mit dem Stirnauge in die Leere des Weltraums starrend, trunken nicht nur von Yoga, auch von Hanf, Opium und anderen Drogen, die Entrückung fördern, ist der Abseitige, Ungesellige im Kreis der Götterfamilie. Volkstümlich in seinem Grauen, da alles Unaussagbare, Unheimliche sich an ihn hängt, erhaben in seiner Gleichgültigkeit, anziehend als der Fremdling, der Befremden und Spannung aus sich strömt, erscheint der Einsame in der Volksphantasie, für die das Familienleben die naturhafte Form des Gemeinschaftsdaseins bildet, unter der Maske des Fremden in der Familie: als der Schwiegersohn. Es gibt einen indischen Spottvers:

»Gäste, Kinder, Weiber und der König,
was Geld und Gut ist, wissen sie wenig,
und als fünfter hintendran
kommt dazu der Tochtermann«

– ein Stoßseufzer des Familienvaters: Gäste wollen bewirtet und Kinder aufgebracht sein, Weiber haben keine eigene Habe, außer Schmuck und Kleidern, der Despotismus der Könige schont Geld und Gut der Untertanen nur insoweit es seinem wohlverstandenen Egoismus frommt – der Schwiegersohn aber will dafür bezahlt und beschenkt sein, daß er dem Vater die Tochter abnimmt, denn eine unverheiratete Tochter wäre für die indische Familie ein unerträglicher Schandfleck. Der Vater muß es sich etwas kosten lassen, sie rechtzeitig an den Mann zu bringen; die Opfer, die er sich dafür abringt, spiegeln sich in den mißvergnügten Gesichtern der Brüder der Braut, deren Anteil am Ganzen sich zum Vorteil des blutsfremden Kömmlings vermindert. Man fremdelt vor ihm, den man nicht von kleinauf kennt, man hat Sorgen, ihn zu beschaffen und festzumachen, Kummer, ihm nachzuwerfen, was die anderen für sich erarbeitet haben. Aber ist er nicht gegen alle Mißgunst gerechtfertigt, wenn er das Herz des Mädchens anrühren kann, das ihm in den Arm gelegt wird, verdient er nicht seinen Anteil am Ganzen, wenn er sie zum Weibe macht, für sie der Einzige und Herrliche wird, ihr Gott auf Erden, »Geber des Unermessenen«, wie Savitri sagt? wenn er mit ihr eins wird, daß sie für ihn in den Tod geht?

Schiva ist Schwiegersohn eines Ältervaters Dakscha, der, selbst eine Art »Herr der Ausgeburten« und Schöpfer wie Brahma, einer der zehn Söhne Brahmas ist, aus seinem rechten Daumen geboren. Dakscha hat eine Menge Töchter zu vergeben: siebenundzwanzig heiratet der Mond, es sind die Sternhäuser auf seiner Bahn, zu denen er reihum Nacht für Nacht eingeht; dreizehn andere verheiratet Dakscha an das Urwesen Kaschyapa, den »Schildkrötenmann«, der auch ein »Herr der Ausgeburten« ist, denn er bringt mit ihnen alle dreizehn Arten von Wesen hervor: Götter und Dämonen, Menschen und Tiere und was daneben an wunderbaren und unheimlichen Geschöpfen west. Seine jüngste Tochter aber, Sati, wird Schivas Frau. »Sati« bedeutet »die rechte, ideale«, und Sati ist das Vorbild jeder Hindufrau. Als Dakscha sein großes Opferfest ausrichtete, zu dem alle Götter und Heiligen geladen wurden – also die ganze Weltfamilie zu einem großen Familienfest –, bedachte er einzig Schiva nicht. Sati nahm sich die Kränkung ihres Mannes so zu Herzen, daß sie, um ihren Vater dafür zu strafen und mit Schuld zu beladen, in den Tod ging – mit dem Wunsche, wiedergeboren und wieder mit Schiva vereinigt zu werden. So war sie wiedergeboren als »Parvati«, die »Tochter des Berges«: als Uma, die Tochter des Himalaya, und gewann durch glühende Askese den Asketen Schiva zum Gemahl; Schiva aber rächte ihren Tod, indem er Dakschas Opferfest störte. Er rechtfertigte ihre Erkenntnis seiner Größe, die sie glühend todbereit bezeugte, indem er auf das Flehen der Götter Einsamkeit und Askese fahren ließ, um als Umas Gemahl den Kriegsgott zu zeugen, der die Götter aus tiefer Ohnmacht und von der Herrschaft der Dämonen erlösen sollte.


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