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III

1. Rama mit dem Beil

Der Löwenmann schließt die Reihe der Tiergestalten Vischnus; aber das Tierische an ihm ist schon nicht mehr, wie bei Fisch, Schildkröte und Eber, urweltliche Natur, es ist eine genial improvisierte Maske, die sich der Welten-Urmann überwirft, den Dämon zu zerfleischen: eine jähe Gebärde stärkster Maya. Der Mythos vom Zwergriesen Vischnu ist der letzte der Herabstiege Vischnus, der mit dem dämonischen Gegenspieler in übermenschlicher Sphäre spielt. Mit seinen weiteren Gestalten steigt das Göttliche unter vertrauteren Masken in die von ihm geschaffene Welt. Als Knirps, der sich zum Riesen auswächst, geht er schon in einen Mutterschoß ein und wird leibhaftig geboren wie alle Kreatur; seine Maya schmiegt sich der Ordnung, die er selbst für das Wandelspiel fließenden Lebens im Gestaltentausch der Generationen gegeben hat. Freilich, seine Mutter ist noch keine Erdenfrau, es ist die Göttermutter selbst, und er hat noch kein Erdenschicksal nach den Gesetzen menschlichen Lebensganges; der kleine Mann bleibt eine für die weltordnende Tat angenommene Maske, das Göttliche an ihm bricht auf jedem Schritte, den er tut, durch sie hindurch: die Erde senkt sich unter seinem Fuß, wohin er tritt. Die weiteren Herabstiege Vischnus in die Welt sind menschliche Gestalten, mit ihnen verschiebt sich die Bühne mythischen Geschehens aus kosmischen Weiten in die Enge menschlichen Daseins.

Wenn das Dämonische in Triumph und Erliegen sich selbst als ein Teil der allgöttlichen Maya erkennt, wie es Bali geschah, als ein Element ihres hohen Spiels, dann begreift es, daß dieses Spiel nur möglich war, solange es den Spielern, die seinen dämonischen Wirbel entfesselten, tödlicher Ernst, ganze Wirklichkeit bedeutete. Durchschauen die Spieler das Spiel als solches, kann es auf seiner alten Bühne nicht weitergehen. Die mythischen Berichte von Kämpfen der Götter und Dämonen sind in den »Alten Überlieferungen« Legion, denn der ewige Familienzwist dieser Halbgeschwister ist der Lauf der Welt, aber die mythische Biographie der Welt, deren Lebensstadien die Reihe der Verleibungen Vischnus darstellt, bietet keinen Raum für diese Varianten der ungebrochenen Geste dämonischer Selbstbesessenheit in kosmischen Räumen, nachdem das Dämonische sich einmal in Erkenntnis seiner eigenen Mayahaftigkeit großartig selbst gebrochen hat, in sehender Anerkennung des göttlich Ganzen, dessen blinderes Teil es selbst verkörpert. Darum sinkt der Mythos aus der Frühzeit der Welt, die den Menschen nicht nennt oder wichtig nimmt, in die spätere Phase ab, für die Menschenwesen und -geschichte bedeutsam werden; in menschlichen Maßen hebt noch einmal mit dem unbedingten Ernst des Anfanges das Schauspiel an, das im Mythos vom Knirps und Weltriesen auf kosmischer Ebene durch die Einsicht in sein Wesen, daß es Maya-Schauspiel sei, zur Erleuchtung und Aufhebung seiner selbst gediehen war.

Drei »Rama« benannte Gestalten Vischnus und seine Erscheinung als Krischna bilden die Reihe seiner großen Herabstiege in die Menschenwelt. Von »Rama mit dem Beil« wird berichtet:

Der Heilige Markandeya sprach: »Weiter will ich dir die glückbringende Erscheinung Vischnus als Sohn des Jamadagni berichten, durch die vorzeiten der Kriegeradel vernichtet worden ist. Vorzeiten ward Vischnu, im Milchmeer von den Scharen der Götter und Seher gepriesen, zum Sohne des Brahmanen Jamadagni. Als ›Rama mit dem Beil‹ ward der Herr in allen Welten berühmt, er war auf die Erdfläche herniedergestiegen, um die Bösen zu bezwingen.

Vorzeiten lebte König Kartavirya, der herrliche Sohn des Kritavirya, das ist: ›der Heldentaten vollbracht hat‹. Er verehrte den göttlichen Dattatreya und erlangte davon die Herrschaft über die ganze Erde. Dieser Gewaltige kam einmal in die Einsiedelei Jamadagnis. Als Jamadagni ihn nahen sah, gefolgt von einem großen Heer – Fußvolk, Reiter, Streitwagen und Elefanten –, sprach er in freundlicher Rede zum größten Könige Kartavirya: ›Entlaß dein Heer, du bist als Gast hierhergekommen. Verzehre an Kost der Wildnis, was ich dir biete, und ziehe wieder von dannen, Hochgemuter!‹

In Ehrfurcht vor dem Worte des Heiligen schickte der König sein Heer fort, der Großmächtige selber blieb da. Der Heilige, des Ruhm nicht zu spotten war, hieß den König willkommen und machte sich daran, seine Wunderkuh, die aus ihrem Euter alles hergab, was er sich wünschen mochte, zu melken. Vielerlei Ställe für die Pferde und Elefanten molk er aus ihr, Häuser für die Männer des Gefolges und bunte Tore, Häuser, die den begleitenden Vasallen angemessen waren, mit schönen Lusthainen, schließlich brachte er einen herrlichen Palast mit vielen Stockwerken, in dem verklärte Wesen ihm aufwarteten, für den König hervor. All das molk der Heilige aus seiner Kuh, schuf es und sprach zum Könige: ›Ein Haus ist dir bereit, tritt ein, o König, und deine Minister und dein Gefolge mögen geschwind in diese himmlischen Häuser einziehen, deine Elefanten und Pferde mögen in ihre Ställe gehen, und so deine Diener in ihre Häuser.‹

Als der Heilige so zu ihm sprach, begab sich der König alsbald in seinen herrlichen Palast, der Heilige geleitete ihn durch immer weitere Räume und Bauten und sagte zu ihm: ›Um dir das Bad des Willkommens zu bereiten, hab' ich dir hier hundert herrliche Frauen geschaffen, nimm nun hier dein Bad, wie es dir gefällt, ganz wie der Götterkönig im Himmel bei Tanz und Gesang seines Hofstaats von Himmelsfrauen.‹ Da badete sich der König wie der Herrscher der Götter, und lieblicher Gesang und Saitenspiel erfreuten ihn. Als er sein Bad genommen hatte, reichte ihm der Heilige sogleich frischstrahlende, schöngeschmückte Gewänder. Der König legte Unter- und Obergewand an, vollzog die schicklichen Bräuche und brachte Vischnu seine Verehrung dar. Der Heilige aber molk aus seiner Kuh einen großen Berg, der ganz aus Reisspeise bestand, und gab ihn dem Könige und seinen Leuten. Während der König und sein Gefolge aßen, ging die Sonne zur Rüste, und die Nacht über ruhte der König in dem Hause, das der Heilige geschaffen hatte, Gesang und anderer schicklicher Zeitvertreib erfüllten seine Räume.

Als dann die lautere Frühe tagte, war das Haus wie ein Traumbild weggerafft, an seiner Stelle sah der König einen leeren Fleck und verfiel in Nachdenken: ›Ist das die Gewalt der Askese dieses Heiligen voll großen Wesens oder ist es die Wunderkraft seiner Kuh, die ›Wohlriechende‹ genannt? Sag' mir das, mein Hauspriester!‹ – Als Kartavirya so zu seinem Hauspriester sprach, sagte dieser: ›König, das ist sowohl die Macht des Heiligen wie die Wunderkraft seiner Kuh. Trotzdem darfst du sie nicht rauben aus Gier, wer sie zu rauben versuchte, dem wäre wohl der Untergang gewiß.‹ – Da sagte der Erste Minister des Königs: ›Der Brahmane hält es mit dem Brahmanen; er vermag nicht zu sehen, was Sache des Königs ist, weil er nur auf die eigene Sache bedacht ist. König, du hast selbst viele Häuser bei dir daheim, goldene Gefäße und Betten und Geräte in Fülle – nimm dir die Kuh, die anderen Dinge haben wir in einem Augenblicke hinschmelzen sehen, entführe du die unvergleichliche Kuh! Dir gebührt sie, König der Könige, wenn dich nach ihr gelüstet, du Hochgemuter! Ich will gehen und sie dir zuführen, gib mir dazu Auftrag, o König!‹

Als der Minister so zu ihm sprach, sagte der König: ›Ja!‹ – Da ging der Minister hin und versuchte die Kuh wegzunehmen. Aber Jamadagni wehrte ihm, da sagte er: ›Diese Kuh gebührt dem Könige, Brahmane, gib sie ihm, Hochgemuter! Du selbst lebst doch von Wurzeln und Früchten, was brauchst du eine Kuh?‹ – so sprach er, nahm sie sich mit Gewalt und machte sich auf den Weg. Abermals stellte der Heilige sich mit seiner Gattin ihm in den Weg und hielt ihn auf. Da erschlug der verbrecherische Minister den Heiligen, aber als der Brahmanenmörder die Kuh wegführen wollte, da erhob sie sich in die Lüfte und entschwand auf dem Pfade des Windes. Da erzitterte das Herz des Königs, und er begab sich heim nach seiner Stadt Mahischmati.

Die Frau des Heiligen aber weinte gewaltig in furchtbarem Weh und schlug sich dreimal siebenmal ihren Leib. Das hörte Rama, ihr Sohn, ein Beil in der Hand. Er trug eine Tracht Brennholz und wilde Waldblumen, er kam gerade aus dem Walde zurück, wo er jeden Morgen Holz für das Opferfeuer des Vaters schlug und Blumen, die Götter zu ehren, sammelte. Er sprach: ›Hör auf, Mutter, dich zu schlagen; an Zeichen, die ich gewahrte, habe ich alles erkannt. Ich werde den schlimmen König, der einen so schlimmen Ratgeber hat, erschlagen. Weil du einundzwanzigmal deinen Leib geschlagen hast, werde ich die Könige auf Erden dreimal siebenmal erschlagen!‹ Er legte dieses feierliche Gelübde ab, nahm sein Beil und zog davon.

Er kam zur Stadt Mahischmati und forderte Kartavirya zum Kampfe heraus. Der trat zur Schlacht an mit einundzwanzig Heerhaufen, da erhob sich ein grausiger haarsträubender Kampf zwischen beiden, eine Lust für das Volk jener Dämonen, die sich an rohem Menschenfleische gütlich tun auf Schlachtfeldern und Leichenplätzen. Schwerter und Pfeile zu Hunderten erfüllten die Luft; da ward Rama mit dem Beil groß an Kraft und Mut, ward höchstes Licht, unbeugsamen Wesens, er war Vischnu in Gestalt eines Werkzeuges, das die gestörte Rangordnung der Menschen wieder herstellen sollte. Er erschlug die ganze Streitmacht Kartaviryas samt zahllosen Fürsten, er streckte sie zu Boden mit höchster wunderbarer Heldenkraft. In seinem Zorne hieb er Kartavirya seinen Wald von tausend Armen ab, und als er ihm diesen wunderbaren Wald von Armen abgehauen hatte, hieb er ihm den Kopf ab. Als der weltbeherrschende König von Vischnus Hand den Tod erlangt hatte, stieg er, durch die Berührung des Gottes begnadet und verwandelt, in göttlicher Gestalt, strahlend in himmlischen Wohlgerüchen und Salben, auf einem Götterwagen zu Vischnus Welt der Seligen empor.

In seinem Zorne aber erschlug Rama mit dem Beil, groß an Kraft und Mut, einundzwanzigmal die Fürsten auf Erden. Indem er den Kriegeradel erschlug, befreite er die Erde von ihrer Last. Dies ist die Selbstoffenbarung Vischnus als Sohn des Jamadagni, leibhaft stieg er zur Erde hernieder und erschlug dreimal siebenmal die Kriegerfürsten und, nachdem er die strahlende Kraft des Kriegeradels rings verteilt hatte, lebte er als Einsiedler auf dem Mahendraberg.«

Dieser Mythos spiegelt Frühzeit der Menschheit: jenes Altertum, in dem das Bild des Menschen noch übermenschliche Züge trägt. Wie Brahma vier Gesichter hat und Ravana, der Fürst der Unholde, zehn Köpfe auf zehn Hälsen trägt, greift König Kartavirya, um seine Herrschaft über die ganze Erde auszuüben, mit hundert Armen um sich, mit einem »Wald von Armen«, wie ihn die Götterbilder zeigen, die das indische Pantheon vor anderen voraus hat. Und der einsiedlerische Brahmane verfügt über eine Wunderkuh, wie sie das bezeichnende Eigentum Indras ist. Der gedeihenschenkende Regengott, der freigebige König der Götter, nennt eine solche »alle Wünsche milchende Kuh« sein eigen; sie ist wie ein Wunschbild des rinderzüchtenden Ariers, für den seine Kühe die vornehmste Quelle der Nahrung sind, der in der Sprache der Veden Krieg und Fehde »Verlangen nach Rindern« und Familie im Vaterstamm »Kuhstall« nennt und seinen Wohlstand nach Kühen zählt. Auch der Heilige Vasischtha, der übermenschliche Seher in mythischer Frühzeit, besaß solch eine Wunderkuh, und König Vischvamitra kam auf der Jagd zu seiner Einsiedelei, wie Kartavirya zu Jamadagni, er wurde wie jener wunderbar bewirtet und wollte die Kuh rauben. Der Heilige konnte seiner Gewalt nicht mit Gewalt begegnen, sowenig wie Jamadagni dem Minister, der ihn ohne Gegenwehr erschlug, denn gewaltlose Hoheit ist Richtschnur und Waffe der Heiligen und Brahmanen. Aber auch Vischvamitra gelang es nicht, die Kuh zu entführen: die Sanfte wehrte sich rasend, in ihrem Zorne sprühte sie Krieger aus ihrem Leibe, ganze Heere fremder Völker, die das Gefolge des Königs überwältigten. Da wich Vischvamitra, er sah die Ohnmacht seiner Herrlichkeit als Fürst und Krieger, gemessen an der magischen Gewalt des Heiligen; da ging er in die Wildnis und ergab sich glühender Askese, um das Unerreichbare zu erzwingen. Darauf geht Heines Vers:

»O König Vischvamitra,
Was für ein Ochs bist du,
Daß du tust singen und beten,
Und alles für eine Kuh.«

Aber es war – trotz Heine – eine Kuh, um die zu ringen sich lohnte; im Besitz der Heiligen, schließlich auch bei Indra selbst, erscheint sie als riesiges »Tischlein-deck-dich« oder »Wunschsäckel«, aber ursprünglich war sie, als alter Besitz des Regen und Blitze sendenden Gottes die göttliche Himmelskuh selbst: der Himmel als Lebensmilch triefende Kuh, wie Alt-Ägypten sie gemalt hat und wie die Veden sie als »Scheckige« erinnern, die den Wind- und Sturmgöttern das Leben gab. Sie hat sich sacht vom Firmament gelöst, ist zum freischwebenden mythischen Requisit geworden, aber sie entschwebt gen Himmel und scheint damit zu sich selber heimzukehren, zu ihrem angestammten Wesen. Als Gabenquell des schenkenden Indra ist die Wunderkuh mit ihrer Milch, die wahlweis alle erwünschte Gestalt annimmt, leibhafte Erscheinung seiner Mayakraft, Phantasmagorien hervorzuzaubern, die den davon Bezauberten als Wirklichkeit befangen. So verkörpert auch die Wunderkuh beim Asketen Jamadagni die Zauberkraft seiner Glutgewalt: eine ganze Palaststadt entsteht im Nu – am anderen Morgen ist es ein leerer Fleck im Dschungel.

Der Heilige im Besitze göttlicher Kraft ist über all das hinaus, was andere blendet: die prunkende Maya eines Götterhimmels oder was sie sonst an Genüssen schenken kann. Wie unwillkürlich oder in vollkommen verhohlener Absicht gibt er den Großen und Prunkenden der Welt, die ihre Pracht und Ansprüche in die asketische Waldeinsamkeit tragen, eine Lehre. Dem Könige ist alle Fülle seiner Weltherrschaft eben durch die unüberbietbare Ehrung seiner anspruchsvollen Hoheit vergällt, da der Heilige, bedürfnislos seiner Andacht lebend, aus seiner Fabelkuh mit ein paar Griffen hervorzaubert, woran all seine Herrlichkeit verblaßt. Diese Kuh bedeutet wirklich Macht ohne Grenzen, wie seine hundert Hände sie greifen möchten, alles andere ist daneben Tand; wer wahrhaft Weltherrscher sein will, muß diese Kuh haben, oder er ist es nicht.

Aber die wahre Macht über die Welt ist nicht bei den erobernden waffenprangenden Kriegern, beim Herrscherglanz der Fürsten, sie ist bei den Einsamen und Verborgenen, die es verschmähen, sie prahlend zu entfalten, die sich an ihrer gesammelten Möglichkeit genügen lassen, sie ist bei den Asketen, die mit ihrer Glut den Weg zu den Göttern gefunden haben und soweit ihresgleichen sind, daß sie an ihrem Wunderwesen Anteil haben. Wenn sie die Mächtigen der Erde beschenken mit dem, was ihre glanzgewohnten Augen blendet, scheint ihre gastfreie Beflissenheit die Staunenden zu verspotten mit der Feerie ihrer Bewirtung; ist diese blendende Ehrung des Gastes nicht eine ungemeine Herausforderung seines Selbstgefühls, eine Verspottung des Herrschers an der Spitze seines funkelnden Heeres?

Kartavirya findet wie Madhu und Kaitabha den Untergang, den er sich selbst heraufbeschwor. Es ist ein Zug aus einem anderen Ideenkreis, daß ihn sein schlimmes Ende in Vischnus Himmelswelt hinaufträgt, daß es ihn begnadet, indem es ihn strafend trifft; es ist die Idee: Wen der Gott anrührt, durchtränkt er schon mit seiner göttlichen Wesenheit. Auf dieser Wahrheit ruht die Kraft aller Wallfahrtsorte: weil der Gott sich an ihrer Stätte einmal leibhaft gezeigt hat, ist ihr Bezirk mit seiner Wunderwesenheit durchtränkt, und wer ihn betritt, erfährt seine Gnade; sie erlöst ihn, sie rafft auch erkenntnislose Tiere, die den magischen Kreis seines Heiligtumes berühren, in die überweltliche Sphäre des Gottes verwandelnd hinauf. Das grausame Wüten Ramas mit dem Beil, daß er nach Kartaviryas Ende den Kriegeradel wieder und wieder hinschlachtet, weist auf den wahren Sinn, in dem des Weltherrschers Ende verstanden sein will: daß er die heilige Ordnung unter Menschen frevelnd zerstörte, wird an ihm bestraft. Er büßt, daß er das Gastrecht verletzte, das ihm im wilden Dschungel einen Empfang wie in Indras Götterhimmel bot, daß er fremdes Eigentum nicht achtete und das geheiligte Leben eines Brahmanen auslöschte. Willkür und Begierde, die keine Ordnung – Besitzrecht, Kastenrang und Heiligkeit – achtet, tobt sich schrankenlos aus, und eben in der Person, die auf genaue Erfüllung aller gottgesetzten Ordnung schauen und in ihrer Beachtung das weithin sichtbare Beispiel geben müßte: in der Gestalt des allesbeherrschenden Königs, er sollte das höchste Maß an Bändigung besitzen, um seinem hohen Amte zu genügen: die Welt zu bändigen in heiliger Ordnung und zur Erfüllung gottgesetzter Pflichten zu leiten.

Indem das Göttliche sich zum ersten Male wahrhaft ins Sterbliche verleibt, ergreift es Rama mit dämonischer Gewalt; indem es von ihm Besitz nimmt, wird er völlig besessen von trunkener Wut maßloser Rache. Immer wieder zieht er aus – einundzwanzigmal –, nur mit dem Beil in der Hand, wie er friedlich vom Holzhauen kam, weniger um den Vater zu rächen, dessen blutiges Ende längst im Blute des Mörders gesühnt ist, als dem Leiden der Mutter Genüge zu tun und den Stolz des Kriegeradels insgesamt zu zerschmettern: für jeden Schlag, mit dem sie klagend ihre Brust traf, richtet er in ritualer Zählung ein Blutbad an. Es ist das göttlich Unbändige, das Grauenhafte an ihm, daß er den langarmigen Bogenhelden des Kriegeradels, die mit fernhintreffenden Pfeilen von Streitwagen und Elefanten herab zu siegen gewohnt sind, mit dem Holzhauerbeil unerbittlich zu Leibe geht und ihre Herrlichkeit zu Kleinholz zerhackt.

In ihm erscheint das Göttliche als reiner und reinigender Zorn. Priester- und Kriegeradel ringen um die Vorherrschaft; gegen die übermütige Gewalt der Wehrhaften ersteht aus einem Geschlecht der Heiligen ein Gewaltigerer, der nicht mit Zauber und Wissen der bedrohten Brahmanen, den ihm angestammten Kräften, aber mit der Gewalt des Armes, an die der Krieger glaubt, ihm den Garaus macht und die heilige Rangordnung der Kasten wieder herstellt. Mit seinen Schlägen »befreite er die Erde von ihrer Last« – so heißt es. Die prahlende Gewalttätigkeit des Kriegeradels war nicht bloß den Brahmanen ein Dorn im Fleische, sie lastete auch nach unten: auf der »Erde«, das heißt auf den Bauern, dem breiten armen Volk, das an ihr klebt und aus ihr schafft. Durch diesen Mythos weht mit wunschtraumhafter Gewalt eine maßlose Rachsucht des Brahmanentums, das sich in seinem Anspruch auf heilige Unantastbarkeit vom kraftprahlenden Kriegerstande gekränkt sieht, aber dieses Ressentiment des magisch-unbewehrten Priesters gegen den räuberischen Gewaltmenschen begegnet einem Notschrei aus der Tiefe: Rama rettet nicht nur die Würde der Brahmanen, er befreit auch das Volk von einer Geißel. Der magische Priester und die unteren Schichten finden sich in gemeinsamem Haß auf den Kriegeradel, der sich kraftprahlend auslebt in Fehden, Raub und Blutvergießen ohne Ziel und Ende. So fanden sich der Papst und die lombardischen Städte – der magische Klerus und das Bürgertum – zusammen gegen den deutschen Kriegeradel mit seinem Haupte, dem Kaiser und König, der immer neu mit kriegerischer Wucht, Gewaltherrschaft und Unruhe stiftend über die Alpen brach, sie nahmen ihn in die Zange und befreiten wirklich im Untergange der Staufer die italische Erde von der Last seiner Herrschaft. Was bei uns mittelalterliche Chronik und Archivakten von Kaiser und Papst mit Briefen und Bannstrahlen aus Palermo und Rom vermelden, ist in Indien Mythos geworden. Indem der Mythos aus dem Kosmischen in die Menschenwelt steigt, bemächtigt er sich ihrer Gegenständlichkeit und bildet daraus neue Zeichen seiner Hieroglyphenschrift, zugleich schreibt er die menschlichen Verhältnisse und Lebensspannungen – ihr Geschichtliches – in seiner Sinnbilderschrift. Er wird soziologisch, religions-, recht- und kultgeschichtlich; aus den Wassern des Unbewußten, in denen er, Leibliches und Seelisches enträtselnd, kosmisch schwamm, kommt er mehr und mehr aufs Trockene der Menschenerde und ihres Bewußtseins.

Eine große symbolische Figur, dem Kosmos unbekannt, im Menschenwesen waltend, ist die Gestalt des Richters. Das christliche Weltbild lebt aus ihr, Gericht ist das große Ende der Welt, die Vision Christi als Weltrichter stand bis ins 18. Jahrhundert am Ende des Weges, den der Gläubige durch das Erdental der Prüfungen zog. Das Vorbild zur Gebärde Christi ist das Endgericht in Zarathustras Religionsgebäude. Der Richter ist eine menschliche Erfindung, unmenschlich in seiner Unparteilichkeit, in seiner Bindung ans Gesetz, nach dessen Buchstaben er den Fall beurteilen muß. Er ist ein Erzeugnis späterer Menschenstunde, die das Urteil an Stelle der Rache gesetzt hat und für Abwehr und Sühne von Gewalt auf den Rechtsweg verweist. Indien kennt zwar den unterirdischen Totenrichter Yama, den »Bändiger«, der schuldigen Seelen ihr Los der Qual bestimmt: eine mythische Gestalt aus dem Seelenbereich, Verkörperung ahndenden Gewissens, aber nicht die Erhöhung des sozialen Funktionärs Richter in den Zenit des Weltgebäudes – die Vermenschlichung des Mythischen ist in Indien nie so weit gediehen, daß eine soziale menschliche Figur beherrschende Gestalt im Kosmos, sinngebende Hieroglyphe des Weltlaufs geworden wäre. Recht ist ein Teil der Maya, es kann nicht das ordnende Prinzip des großen Traumspiels sein, sowenig es ihm gegeben ist, den jeweiligen Stand menschlicher Dinge befriedigend zu durchdringen, allem Unrecht zu wehren und wirklich Gerechtigkeit zu schaffen. Der Geist will Recht und Ordnung allerwegen, das kosmische Endgericht als Dogma ist seine Wunschtraumutopie, auf die er blickt, wenn er die Welt im argen liegen sieht; das Leben, das sich selbst befühlt, wenn es in Mythen, nicht in Dogmen spricht, weiß es anders: schonungslos wahrer. Darum kommt Rama mit dem Beil nicht als Richter, aber als rächender Wiederhersteller gestörter Ordnung. Da ist kein Kläger und Verteidiger, Rechtsfindung und Urteilsspruch; das Richten und Schlichten zerrissenen Weltzustandes geschieht mit heldischer Gebärde, im Einzelkampf, es ist Niederwerfung, Ausrottung der Frevler in summarischem Verfahren, wie es an Räubern, Rebellen, Grenzvölkern geübt wird. Das elementare Gefühl, das Rache heischt, zu Blutrache drängt, ist noch nicht humanisiert, gebrochen und abgelenkt durch den Blick auf das Ideal einer vertrauenerweckenden Rechtsordnung.

In seiner gnadenlosen Wut ist Rama mit dem Beil ganz Werkzeug des Göttlichen; eine andere Geschichte von ihm deutet auf die Quelle seiner unwiderstehlichen Kraft, auf seine Eignung zum Gefäß des Übermenschlichen, das in ihm hinabstieg: es ist sein blinder unmenschlicher Gehorsam. Er ist der unerbittlich gehorsame Sohn, der seiner Mutter auf Geheiß des Vaters das Haupt abschlägt, jener Sohn in der indischen »Legende«, deren Hieroglyphe sich Goethe zugeeignet hat:

»Wasserholen geht die reine,
Schöne Frau des hohen Brahmen,
Des verehrten, fehlerlosen,
Ernstester Gerechtigkeit.«

Der hohe Brahmane ist der Heilige Jamadagni, seine schöne Frau ist Renuka, die Mutter seiner fünf Söhne, deren jüngster Rama mit dem Beil ist Die Söhne sind herangewachsen, da ist Jamadagni mit Frau und Kindern aus der Welt in den Wald gegangen und hat sich und die Seinen asketischem Leben geweiht Aber Renukas »Wandel in Keuschheit« wird durch eine Gedankensünde getrübt: als sie am Flusse steht, Wasser zu schöpfen, erblickt sie in seinem Spiegel ein liebendes Paar von Seligen – Himmelsfrau und Gandharve –, die zärtlich verschlungen am Himmel dahinschweben; sie schaut den Gandharvenfürsten Citraratha in seinem himmlischen Reiz und

»Solchen schauend fühlt ergriffen
Von verwirrenden Gefühlen
Sie das innere tiefste Leben«.

Der Heilige bemerkt die Verwirrung der Heimgekehrten, sein Seherblick durchdringt ihre Seele, und er heißt seinen ältesten Sohn die Mutter erschlagen. Der verweigert's, auch die drei jüngeren weigern ihm den Gehorsam, aber der jüngste, Rama, vollbringt in blindem Gehorsam die schauerliche Tat. Der Vater segnet ihn dafür, indes er seine Brüder verflucht, sie sollen blöd und dumpf wie Tiere sein, und gibt ihm einen Wunsch frei. Da wünscht Rama, seiner Mutter das Leben wiederzugeben, seine Brüder sollen vom Fluche befreit, er selbst aber unüberwindlich im Kampfe sein.

Goethe entnahm den Stoff seiner Legende Sonnerats »Reise nach Ostindien und China« (Zürich 1783); Sonnerat zeichnete ihn in Südindien auf, dort ist Renuka eine Schutzgöttin der Pariakaste, Mariatale genannt; sie nimmt die Blattern hinweg. Sonnerat sagt von ihr: »Die Inder bezeugen vor dieser Göttin viele Furcht und richten ihr in allen Flecken Tempel auf: aber man stellt bloß ihr Haupt in das innere Heiligtum, und die Indier aus den echten Stämmen verehren auch nur dieses, ihr übriger Körper wird an die Türe des Tempels gestellt und daselbst von den Parias angebetet.« Sie heißt auch Ellamen, und der Missionar Bartholomäus Ziegenbald, der an der Koromandelküste wirkte, erzählt von ihr in seiner »Genealogie der malabarischen Götter«, wie Rama auf Geheiß des Vaters ihr Haupt abschlug und, als er sie wiederbelebte, es auf den Leib einer Pariafrau gesetzt hat

Einen entscheidenden Zug der Geschichte, daß der Sohn die Mutter hinrichtet, hat Goethe unterdrückt: in seiner »Legende« richtet der Gatte selbst die Frau. Im Dienste der Idee, die seine »Legende« als tragendes Mittelstück zwischen »Gebet« und »Dank des Paria« ausdrücken soll, war dieser krasse Zug entbehrlich, ja störend. Auf solche Verwandlung des Stoffes zielt Goethes Bemerkung über das Gedicht zu Eckermann (am 10. November 1823): »Freilich, die Behandlung ist sehr knapp, und man muß gut eindringen, wenn man es recht besitzen will. Es kommt mir selber vor wie eine aus Stahldrähten geschmiedete Damaszenerklinge. Ich habe aber auch den Gegenstand vierzig Jahre mit mir herumgetragen, so daß er dann freilich Zeit hatte, sich von allem Ungehörigen zu läutern.«

Die alte Form des Mythos, in der die Mutter vom eigenen Sohne erschlagen wird, verhält sich zu seiner Gestalt bei Goethe freilich wie Ramas Holzhauerbeil zu einer Damaszenerklinge, aber eben was dem Weisen von 1800 am Ende des humansten Zeitalters Europas »ungehörig« dünken mußte, macht Ramas Heiligkeit aus, erklärt seine Erwählung zum Gefäße des indischen Gottes. Es ist dämonische Strenge der Pflichterfüllung, blinder Gehorsam gegenüber dem höheren Wesen im Vater, getragen von dem zweifelsfreien Glauben, daß unbedingte Erfüllung ewiger Satzung, dem Vater zu dienen, nicht irreleiten kann. Der wunderbare Ausgang bestätigt den Glauben.

Für einen Augenblick ungewollter Selbstverlorenheit in ein Wunschbild muß die Gattin sterben, eine Regung kreatürlicher Kindesliebe verflucht die Brüder in die Dumpfheit der Kreatur, die unterhalb der Sittenordnung brütet, aber die unmenschliche Wut des Gehorsams, die das Ich auslöscht, um die gestörte Ordnung zwischen den Gatten zu sühnen, zwingt das Wunder herbei, das alles notwendig angerichtete Grauen tilgt. Diese unmenschliche Wut gegen sich selbst, die sich als ideale sittliche Kraft des Altertums gibt, wird zur unwiderstehlich ahndenden Gewalt, wo immer die göttliche Ordnung unter den Menschen verstört ist: in Besitzrecht und Kastenordnung der Welt, wie im Verhältnis der Gatten im Hause. Die mitleidslose Wut Ramas gegen die Krieger – grenzenlos wie der Selbstgenuß von sich selber trunkener Kraft der Dämonen – entspringt dem Willen, der unerbittlich ritualen Erfüllung ewiger Ordnung zu dienen, ihre willkürliche oder unwillkürliche Verletzung entflammt seine Raserei.


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