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VII.

Leopold stand auf. Er ging durchs Zimmer, von Ottilien abgewandt; dann trat er ans Fenster. Ottilie blieb still. Sie saß und rührte sich nicht.

Endlich verließ er das Fenster und trat wieder ins andere Zimmer, zur schlafenden Judica. Als er zurückkam, saß Ottilie noch immer auf demselben Fleck. »Sie schläft mit viel Talent,« sagte er ruhig. »Wir haben aber noch Geschäfte, Fräulein. Soll ich nicht an den – Professor telegraphieren, wo Sie und Judica sind?«

»Wohin?« antwortete sie. »Ich weiß nicht, wo er ist.«

»Also aufs Geratewohl nach Berlin, in seine Wohnung. Nicht wahr?«

»Gewiß. Alles, wie Sie wollen. Alles, was Sie wollen, ist gut.«

»Dann wollte ich wohl noch eins! – Daß Sie ausgehn, Fräulein. In die Luft. Sie sehn übel aus; – ich rede schon wieder als Arzt,« setzte er mit einem leicht gemeinten, doch aus Mißgriff ernsthaften, innigen Lächeln hinzu.

»Ich danke Ihnen,« sagte sie herzlich. »Ruhe wär' mir besser, glaub' ich. All diese Nächte hab' ich – schlecht geschlafen ... Lassen Sie mich hier!«

»Dann sollten Sie versuchen, ob Ihnen die horizontale Lage nicht gut täte, und das Schließen der Augen. Auf dem Diwan hier.«

»Und Judica –?«

»Haben wir denn nicht mich? – Ich werd' mich teilen, Fräulein, und abwechselnd die Rose im anderen Zimmer und die blasse Lilie in diesem Zimmer bewachen. Verzeihen Sie; ein schlechter Witz unter aller Würde! Ich schäme mich. Es scheint, der Kopf wird immer schwach, wenn – –«

»Das Herz,« wollte er fortfahren; er brach aber ab. Er stand wieder in verschwiegener, ruhiger Haltung da. – »Noch ein Geschäft, wollt' ich sagen!«

»Was für eins?«

»Dieser – Frivolin hat in Riva, und also natürlich auch später, Geld für Sie ausgelegt. Ich habe bei mir; genug. Wär' es Ihnen nicht lieber, Fräulein, mein Schuldner zu sein? Sagen Sie mir nur, was, wieviel er für Sie ausgelegt hat; ich schreib' ihm ein Billet und schick' ihm das Geld – und diesen Hut, den er hier hat stehen lassen – durch den Kellner auf sein Zimmer.«

»Sie sind sehr gütig,« sagte sie, halb erfreut, halb erschrocken. »Was für eine Last wär' mir von der Seele; – aber die Berechnung!«

»Sie haben keine Notizen –?«

»Doch; alles notiert. – Aber es zusammenzurechnen – –« Sie lächelte hilflos. »Ich hätte jetzt nicht den Kopf dazu; ich bin zu müde, zu dumm.«

»Wollen Sie mir Ihre Notizen anvertrauen? Zu Bruchrechnungen, glaub' ich, wär' ich heut auch nicht fähig; aber einfach addieren und multiplizieren kann ich wohl noch. Legen Sie sich schlafen. Ich bitte, denken Sie, ich sei heute Ihr Arzt. Wollen Sie das denken, Fräulein Ottilie?«

»Ja,« flüsterte sie. Nachdem sie ihm ihr kleines Taschenbuch gegeben, streckte sie sich aus. Nur noch einen stillen, dankbaren Blick warf sie ihm zu; dann schloß sie die Augen.

Verlangte sie mehr nach Schlaf, oder danach, mit sich allein zu sein? – Wer weiß es. Nach einigen Versuchen, die beste Lage zu finden, lag sie still, als schliefe sie nun fest. Leopold betrachtete sie eine Weile; dann ging er leise zu Judica hinein, legte ihr wieder Bleiwasser aufs Gesicht, und zog sich die Stiefel von den Füßen. Dann nahm er aus seiner Reisetasche ein Paar Morgenschuhe, trat hinein und freute sich, wie leise er nun ging. Er rechnete, schrieb das Billet an Frivolin und das Telegramm, trug beides geräuschlos hinaus; auch Frivolins Hut. Dann saß er wieder da; horchte, pflegte und schwieg.

Was dachte er? – Wer weiß es. Von zehn zu zehn Minuten ging er – man kann sagen, unhörbar – zu Judica hinein; sonderbarerweise kam er aber immer wieder ins andre Zimmer zurück. Endlich war ihm, als habe er dies nun schon mindestens zwanzig- bis dreißigmal getan; und zu der tiefen Stille um ihn her hatte sich in ihm ein tiefer Hunger gesellt. Doch in heroischer Ruhe saß er da. Er beobachtete die verschiedenen Gefühle, die der Hunger in ihm erregte; die Rückwirkungen des öden Magens auf das vernachlässigte Gehirn; die interessanten Fortschritte der Abspannung, die törichte Empfindlichkeit der Kopfhautnerven, die sich durch Wehtun beschwerten. Niemand wird satt von des andern Schlaf, dachte er; das war ja schon längst eine ausgemachte Sache! – Wie dieser Wurm, der Magen, sich krümmt. Wie still, wie reizend sie daliegt. Wie ähnlich. Sie ist es. Wozu leugn' ich mir's weg. Ganz umsonst! Sie ist es!

»Leopold!« rief plötzlich Judicas Stimme – jetzt wieder krähend wie ein junger Hahn – aus dem andern Zimmer. Darüber wachte Ottilie auf und fuhr in die Höhe. »Was gibt's? Was ist geschehn?« fragte sie, noch schlaftrunken.

»Nichts, als daß die Kleine sich rührt,« antwortete Leopold und trat durch die offene Tür. Ottilie stand auf und folgte ihm. Das Kind lag noch ruhig auf seinem Sofa, und hielt den Umschlag fest, damit er ihm nicht vom Gesicht herunterfalle; aber die Augen waren groß aufgeschlagen und ein heiteres, rasches Nicken begrüßte Leopold. »Du, Leopold,« sagte sie, »ich glaub', ich hab' geschlafen.«

»Und ich weiß es sogar,« sagte er und strich ihr sanft über das Köpfchen.

»Tu das noch einmal; o, das tut gut. Ganz zuletzt hab' ich geträumt! Da kam ein Mann auf mich zu, mit so einem kleinen rötlichen Schnurrbart wie Frivolin, sah mich sehr bös an und sagte, ich hätte achtunddreißig Grad und eine heimliche Ehre; und davon wachte ich auf.«

 

Ottilie lachte. Leopold nickte nur, als hätte das Kind etwas sehr Ernsthaftes und Verständiges gesagt, nahm ihr den warm gewordenen Umschlag ab und wechselte ihn. »Die Rose fängt schon an zu welken,« sagte er. »Wir werden bald wieder eine gesunde Judica haben; nur noch ein wenig Geduld.«

Die Kleine sah ihn an; auf einmal faßte sie seine niederhängende rechte Hand und küßte sie.

»Was machst du?« sagte er.

»O, du bist so gut!«

Ottilie, die hinter Leopold stand, murmelte etwas; aber so leise, daß er nicht hörte, was.

»Auch Tante Ottilie ist gut,« setzte Judica hinzu.

»Darauf will ich schwören!« erwiderte Leopold.

»Schwören mußt du nicht; das soll man ja nicht. Du, Leopold –«

»Was, mein Kind?«

»Mein Kind, sagst du. Aber das bin ich auch. Ich bin nun euer Kind!« – Sie lächelte sehr zufrieden, sehr vergnügt. – »Du und Tante Ottilie, ihr seid nun mein Papa und meine Mama.«

»Meinst du?«

»Gewiß! – – Leopold! Warum habt ihr beide eigentlich keine rechten Kinder?«

»Weil wir nicht verheiratet sind.«

»Warum heiratet ihr euch denn nicht?«

Judica verwunderte sich, daß Leopold ihr keine Antwort gab; daß er nur stumm mit seiner Hand über die ihre strich. Auch Ottilie sagte nichts. Sie rührte sich nicht. Das einzige, was sie tat, war, daß sie in den neben ihr hängenden Spiegel sah; doch nicht um sich, sondern um Leopold zu betrachten ... Eine Glocke unterbrach das Schweigen. Es war die Glocke des Hotels, die zur Tafel rief.

»Aha!« sagte Judica und richtete sich auf.

»Wollen wir nicht essen?« bemerkte nun Leopold, nachdem er einen tiefen Atemzug getan hatte.

Ottilie nickte. »Wir essen hier, nicht wahr?« erwiderte sie. »Das heißt – ich nahm ohne weiteres an, daß Sie noch bei uns bleiben.«

»Könnt' ich Sie denn verlassen, eh' Sie zu Hause sind?« antwortete er kurz.

»Zu Hause!« murmelte sie. – Ich zu Hause? Wo? setzte sie in Gedanken hinzu. – Sie faßte sich aber und ging zur Tür. »Ich werde klingeln, ich werde bestellen,« sagte sie, ohne zurückzusehn. »Bitte, nehmen Sie Platz!«

»Du –!« sagte das Kind auf einmal, als Ottilie hinaus war, und blickte Leopold in das bleiche Gesicht. »Tante Ottilie« (flüsterte sie) »gibt dir keinen Kuß; willst du von mir einen haben?« – Und in aller Unschuld hielt sie ihm ihre Lippen hin.

Er lächelte gerührt; hob sie empor, hielt sie in seinen Armen und küßte sie auf den Mund.


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