Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Buch

I.

Die kleine Judica stand am offenen Fenster und sah nachdenklich, das heißt nach Kinderart, mit glotzenden Augen, in den hellen Himmel hinaus. »Woran denkst du, Kind?« fragte Fräulein Ottilie, die am anderen Fenster saß, ein Buch in der Hand, in dem sie mit großer Unaufmerksamkeit las. »Komm her und sag mir einmal alles, was du denkst.«

Das Kind sprang herbei, kniete vor Ottilien nieder und stützte ihre beiden spitzen Ellbogen auf deren Schoß. »Was ich denke?« sagte sie. »Erstens denk' ich –«

»Erstens huschele nicht und muschele nicht, sondern sprich deutlich, so daß man jedes Wort, jede Silbe hört. Was hatte dir die arme Silbe ›stens‹ getan, daß du sie verschlucktest? Und dann krähe nicht; sondern steig ein wenig tiefer in deine kleine Kehle hinab. Und nun fang' wieder an!«

»Erstens also denk' ich – oder dacht' ich eben – daß mir alles so komisch vorkommt, weil alles so anders ist. Daß wir hier in Italien an einem ganz himmelblauen See wohnen, wo alles schon grün wird, und wo an furchtbar hohen Felsen natürliche Ölbäume wachsen – – Du!« unterbrach sie sich selbst; »weißt du, was ich weiß? Hier werden die Ruten für die Kinder von den Ölbäumen genommen; es zieht gut an; ich hab' es selber probiert.«

»Das ist allerdings interessant; aber sag mir, was dir sonst noch ›komisch‹ vorkommt.«

»Sonst noch? – Daß mein Papa gar nicht so mißmürrisch herumgeht, wie in Berlin, sondern ein sehr netter Papa ist –«

»›Mißmürrisch‹ ist ein Wort, mein Kind, das es bis jetzt noch nicht gibt; die kleine Judica wollte ›mißmutig‹ sagen.«

»Ja, das wollt' ich sagen! – Und dann, daß der Papa und der Onkel Fridolin nicht mehr so zanken wie früher, seit du bei uns bist und seit wir hier sind. Und dann, daß ich dich nicht mehr Sie nenne, sondern du. Und dann, daß ich mich nicht mehr vor dir fürchte, wie zu allererst, sondern dich gräßlich lieb habe – ja, gräßlich lieb hab' ich dich!« wiederholte sie, sprang auf und drückte Ottilie so heftig an sich, daß das Fräulein beinahe aufgeschrien hätte.

»Unart, du tust mir weh! – Übrigens hast du mir deine Liebe vorgebellt wie ein junger Hund. Komm, sag noch einmal, ganz lieblich, ganz schön: ›daß ich dich gräßlich lieb habe.‹«

»Daß ich dich gräßlich lieb habe!« wiederholte das Kind mit treuherziger Sanftmut und Deutlichkeit. »Du, die jungen Hunde!« fuhr sie dann plötzlich fort. »Der Wirt von unserem Herbergo hat eine Hundefamilie; der Papa heißt Corbo, sie heißt Spiega; sie haben drei Kinder, zwei sind schon verschenkt. Tante Ottilie, – Onkel Fridolin kann die Hunde nicht leiden! gar keine Hunde! Aber dich hat er sehr gern.«

»Wirklich?« sagte Ottilie, lächelte und ward rot.

»Nu! warum wirst du rot?« fragte das kleine aufmerksame Geschöpf. »Weißt du, was er gesagt hat? Du wärst auch die beste Erzieherin, die es geben könnte; und zu mir hat er gesagt: Seit Tante Ottilie da ist, wirst du kleiner Unband schon eine Art von Mensch; und befolge nur immer alle ihre Gebote. – – Haha! Tante Ottilie, ich weiß auch schon das sechste Gebot. Du sollst dich nicht erbrechen.«

Das Fräulein lachte, notgedrungen, einen Augenblick auf. Wohl auch noch eins von den Unkräutern aus der Leibschwabenzeit! dachte sie. Da ist viel zu jäten! – Sie nahm das Kind, das so unschuldig mitlachte, in einer unwillkürlichen Regung in die Arme, hob es auf ihren Schoß und küßte es auf den Mund.

Judica erwiderte ihre Zärtlichkeit; dann sagte sie: »Du! haben alle Männer alle Erzieherinnen so gern, wie der Papa und Onkel Fridolin dich?« (Das Fräulein war nahe daran, wieder zu erröten.) »Und ist es eigentlich nett, Erzieherin zu sein? Soll ich auch einmal eine werden – glaubst du?«

»Jedenfalls sollst du gescheit werden,« sagte Ottilie; »und nicht mehr solche Fratzen schneiden, wie eben jetzt.«

Auf diese Anmerkung ward das Gesicht des Kindes eine Weile ganz ruhig; Ottilie fuhr sanft mit der Hand darüber hin, wie um die letzte Fratze wegzuwischen; Judica hielt dazu still. Endlich sagte sie, wie aus einem tiefen Nachdenken erwachend: »Tante Ottilie!«

»Was?«

»Weiß der liebe Gott nun schon, was ich werden werde?«

Ottilie lächelte. »Wenn er allwissend ist, mein kleiner Fragetot, so muß er's wohl wissen.«

»Ja, aber –!« sagte Judica mit einem sehr schlauen Gesicht, »wenn er sich nur nicht irrt! Er denkt gewiß, ich werd' eine Mutter; aber wenn alle Leute die Erzieherinnen so gern haben, dann werd' ich doch wohl auch noch eine Erzieherin.«

»Meinst du!« erwiderte Ottilie mit möglichst ernsthaftem Gesicht. »Was hast du da für ein Stück Papier?« fragte sie dann, da Judica ein mit sehr kleiner Schrift beschriebenes Blatt aus der Tasche zog und entfaltete. »Verse! – Wie kommst du dazu?«

»Das sag' ich dir nachher,« antwortete das kluge Ding; »wenn du mir's vorgelesen hast. Bitte, lies mir's vor! Der Onkel schreibt so schauderhaft klein und so fix, ich kann's eigentlich gar nicht lesen.«

Ottilie sah hinein; statt vorzulesen, las sie für sich, – folgendes Gedicht:

Oft schon floh ich in Wälder tief,
Tief im Herzen die Liebe.
Träg' am Felsen das Echo schlief,
In mir, weckend das Echo, rief
Laut und leise die Liebe.
Immer nach Liebe die Liebe rief,
Echo antwortete: »Liebe!«
O du, holder als alle zumal,
Tränenquelle der Liebe!
Tausend Boten der Lust und Qual,
Innige Blicke, ach ohne Zahl,
Leise dir sagen: »Ich liebe!«
Ich, ich liebe! Wann sagst du einmal,
Echo des Herzens: – – ?

»Nun? Willst du mir's denn nicht endlich vorlesen?« fragte das Kind.

»Nein!« sagte Ottilie.

»Oho! Warum nicht?«

»Weil es für so ein kleines dummes Mädchen nicht geschrieben ist; weil du's nicht verstehst. Sieh mir ins Gesicht! Du hast mir versprochen, immer die Wahrheit zu sagen.«

»Ja. Ich will ja auch.«

»Wie kommst du zu diesem Papier? Wo hast du es weggenommen?«

»Ach Gott – – es lag so da.«

»Wo lag es?«

»Wo es lag? – Du mußt aber nicht böse werden.«

»Danach fragt man nicht, sondern man sagt die Wahrheit.«

»Wo es lag? Auf Onkel Fridolins Schreibtisch; auf der großen Mappe.«

Es ist seine Hand! dachte Ottilie. Ein sehr verliebtes Gedicht!

»Nun? Bist du böse?«

»Kind, was würdst du tun, wenn man dir deine Puppe, dein Butterbrot, dein Bilderbuch wegnähme – wenn auch nur zum Scherz – und du suchtest und suchtest und fändest sie nicht? Du würdst weinen und heulen wie ein Schloßhund. Onkel Fridolin weint nicht, aber es kränkt ihn doch.«

»Ich will's schnell wieder hintragen,« sagte Judica zerknirscht und sprang auf. »Tante Ottilie, gib her!«

»Da hast du's,« sagte Ottilie, – hielt es aber doch noch eine Weile fest. Ihre Augen flogen noch einmal über die Verse hin. »Oft schon floh ich in Wälder tief« – »O du, holder als alle zumal« – – Sie wußte nicht, wie es zuging, aber ihr fiel auf, daß in beiden Strophen die Anfangsbuchstaben der Zeilen die gleichen waren. Zuerst O – dann T – dann nochmals T – – Hier erschrak sie. O–T–T–I–L–I–E. Ottilie. Die ersten Buchstaben in beiden Strophen: Ottilie. Ihr Name.

In diesem Augenblick zog die Kleine, ungeduldig, ihr Verbrechen wieder gutzumachen, Ottilien das Blatt aus der Hand und sprang damit hinaus.

Zu ihrer Erleichterung sah Ottilie sich allein. Sie hätte den Wechsel der Farben auf ihrem verräterisch lebhaften Gesicht nicht verbergen können; sie war überrascht, bewegt. Dieses Gedicht an sie! Von ihm. Ganz Liebe; ganz Begehren nach Liebe. »Ich, ich liebe! Wann sagst du einmal, Echo des Herzens: – –?« Sie wiederholte sich diesen Schluß. Sie bemerkte plötzlich, Selbstbeobachterin wie sie war, daß etwas ganz Ungewohntes, Sonderbares mit ihr geschehe. Es ward ihr angenehm weh ums Herz; weil ihr alles Blut nach dem Herzen strömte. Es lief ihr ein süßer Schauder über die Haut. Es schoß ihr auf einmal eine Flut von Kraft, Lust, Entzücken, Übermut in den Kopf, in die Glieder. Es kam ihr der Gedanke, zu singen. Sie fühlte deutlich, daß eine Art von Verrücktheit sie erfaßte. Gott im Himmel! dachte sie, was ist mir geschehn?

Eine Bewegung an der Tür schreckte sie aus diesem Taumel auf. Ihr heißes, glückstrahlendes Gesicht zu verbergen, trat sie näher ans Fenster und starrte hinaus.

Der Morgensonnenschein lag auf dem nackten, bräunlichen Felsengebirg, stieg an den schroffen Abstürzen hinunter und schwamm unten zitternd auf der blauen Flut des Sees, der bis an den Garten des Hotels heranplätscherte und mit seinen kühlen, feuchten Atemzügen Ottiliens Stirn und Wangen zu erfrischen schien. Rechts, wo der See in einer von Vorstadthäusern umbauten Bucht endete, lief eine blendend helle Fahrstraße in vielen Windungen vom Felsen herab. Wenn man so scharfe Augen hatte wie Ottilie, so sah man auf dieser Fahrstraße einen Mann in grünem Rock und schwarzem Schlapphut herunterschlendern; so erkannte man seinen Vollbart, seinen etwas zu zierlichen, kurzschrittigen Gang, sein schottisches Plaid auf der hohen Schulter, und so sagte man sich, daß es der Professor Fridolin sei. Ottilie sagte es sich. »Oft schon floh ich in Wälder tief,« dachte sie plötzlich, und vor unaussprechlichem Vergnügen mußte sie lachen.

»Worüber lachen Sie?« fragte eine bekannte klanglose Stimme hinter ihr, in der Tür.

Selbstbeherrschung! dachte sie auf der Stelle, obwohl sie zusammenfuhr. Erzieherin seiner Tochter! – Weiterlachen! – Sie lachte weiter und drehte sich herum. Die lange Gestalt des Pastors Philipp war auf die Schwelle getreten; in etwas ungeschickter Haltung, wie immer, aber mit zutraulichem, vergnügtem Ausdruck auf dem blaßgrauen Gesicht. »Darf man eintreten?« setzte er mit fast schalkhafter Feierlichkeit hinzu. »Sie stellen sich ganz allein ans Fenster und lachen sich etwas vor. Großer Gott, wer das auch so könnte! Darf man fragen, mein Fräulein, wie Sie das machen, und worüber Sie lachten?«

Angenehme Leute, dachte Ottilie, die so langsam sprechen, daß man alle Zeit hat, sich zu fassen! – »Ich will's Ihnen verraten, Herr Pastor,« sagte sie darauf laut. »Es fiel mir eine Dummheit ein; darüber lachte ich.«

»Wenn ich über jede Dummheit lachen wollte oder könnte, die mir in den Sinn kommt, so würde man mich wohl vom Morgen bis zum Abend lachen hören!« sagte der Pastor mit seinem langsamen, melancholischen Humor. »Doch es sollte ja nicht von mir die Rede sein; sondern von diesen Blumen, – diesen Blumen und Gräsern. Wollen Sie gefälligst – –« Er unterbrach sich und trat ihr näher, seinen Hut in der Hand; als er nun vor ihr stand, sah sie, daß sich in dem Hut ein Blumenstrauß versteckt hatte. »Wollen Sie gefälligst bedenken, verehrtes Fräulein, daß es nur Feldblumen und Aprilblumen sind; und daß es die ersten sind« – die Unterlippe des guten Pastors begann ein wenig zu zittern – »die ersten, die ich seit langen Jahren gepflückt habe. Ich glaubte vernunftgemäß zu handeln, mein Fräulein, indem ich sie nicht in der warmen Hand trug, sondern im Hut; indem ich also unbedeckten Hauptes nach Hause ging, und die Blumen im Hut mit diesem Taschentuch – diesem noch ungebrauchten Taschentuch – gegen die Sonne verdeckte. Wenn ich mir nun erlaube, Fräulein Ottilie –«

Das Fräulein fiel ihm gerührt ins Wort: »Wie! Mit bloßem Kopf sind Sie in der Sonne gegangen – den Blumen zuliebe –«

Sie bedachte nicht, daß man den Pastor nicht in einer unvollendeten Rede unterbrechen konnte; daß dies vielleicht noch nie einem Menschen gelungen war. Der Pastor winkte ihr mit dem Taschentuch, wie wenn ein Parlamentär die weiße Fahne schwenkt, um Waffenstillstand zu erwirken; und als sie darauf unwillkürlich verstummte, fing er wieder an: »Wenn ich mir nun erlaube, Fräulein Ottilie, Ihnen diesen unbedeutenden Blumenstrauß vom Ufer des Gardasees zu überreichen, so soll damit ein Wort durch die Blumensprache gesprochen sein: eine letzte Bitte nämlich um Verzeihung –«

»Um Gottes willen! ich habe Ihnen nichts zu verzeihen,« fiel sie ihm wieder ins Wort.

»Eine letzte Bitte nämlich um Verzeihung – wenn anders so ein unglückseliges Gebaren ohne Sinn und Verstand ganz und völlig verziehen werden kann: ich meine – und ich brauche nicht zu sagen, was ich meine –«

»Nein!« sagte sie lächelnd. »Wir haben's beide gewußt und haben's beide vergessen!«

Diese Antwort, oder vielmehr diese Unterbrechung, schien dem Pastor ausnehmend zu gefallen; einige Augenblicke verstummte er, und war drauf und dran, den Schluß seiner Rede zu opfern. Mit einer letzten Anstrengung fuhr er aber fort: »Ich meine jenen ersten Abend, an dem ich Sie auf so – ungeschickte und beleidigende Weise begrüßte, – ohne zu ahnen, mein Fräulein, was für einen Segen ich armer, kurzsichtiger Mensch aus meinem Hause gleichsam hinwegzufluchen im Begriffe war. Was für einen Segen, mein Fräulein« (er ergriff ihre Hand und ließ sie nicht wieder los) – »was für einen Segen.«

Ottilie konnte nicht umhin, ihm gerührt ins Gesicht zu sehn; obwohl sie bei sich dachte: Seine Hand hat vierzig Grad Reaumur! – »Ich hab' Sie damals nicht fluchen hören,« sagte sie freundlich; »und ich kann auch nicht einsehn, was für ein absonderlicher Segen ich Ihnen bin.«

»Was für ein Segen? – Da ist erstens meine Judica; es war ein unglückseliges, verwildertes, moralisch schiefgewachsenes Kind; in ein paar Wochen haben Sie es grade gezogen; ich sehe Ihnen zu und begreife es nicht. Da ist zweitens der Vater dieser Judica« (er lächelte); »eine morsche, traurige Ruine; aber Sie kommen mit Ihren kleinen, kunstfertigen Händen, tragen die frischen Bausteine der Heiterkeit, des Gottvertrauens, der Menschenliebe,« (er stockte) »der weiblichen – weiblichen Liebenswürdigkeit und Anmut herzu, und flicken diese elende Ruine so kunstgerecht aus, daß sie wirklich schon anfängt, sich wie eine menschliche Behausung auszunehmen; daß man sich sagt: lassen wir sie denn in Gottes Namen noch ein paar Jahre stehn, 's ist ein alter Kasten, aber er hält doch zusammen! – Da ist dann drittens mein Bruder –«

Ich geb' es auf, ihn zu unterbrechen! dachte Ottilie.

»Da ist dann drittens mein Bruder; er fing an, einsam und ältlich zu werden; er fing an, sich zu einem rechthaberischen alten Junggesellen auszubilden; – aber die frische Luft, die Sie in unser stockiges Dasein gebracht haben, macht ihn wieder jung. Obwohl sich damit leider auch seine Lebhaftigkeit, sein Ungestüm verjüngt, womit er seine kirchenfeindlichen Gesinnungen an mir ausläßt und sich gegen meine heiligsten Überzeugungen erbittert –«

»Kirchenfeindliche Gesinnungen? Die, mein' ich, findet man im Herrn Professor nicht –«

»Ich weiß, Sie nehmen sich seiner allemal an!« fiel ihr der Pastor, indem er etwas aufgeregt lächelte, ins Wort. »Ich weiß, mein Fräulein, Sie verteidigen ihn, wenn er die Selbstüberhebung der weltlichen Gewalt, wenn er ihre brutalen Angriffe auf die Kirche als einen Segen für die Menschheit verherrlicht –«

»Nun,« sagte Ottilie lächelnd, »vielleicht geht der Herr Professor im Feuer des Streits gelegentlich zu weit –«

»Sie sagen: vielleicht? Sie sagen: gelegentlich? Erlauben Sie mir, mein Fräulein, Ihnen zu bemerken, daß mein Bruder noch nie mit mir gestritten hat, ohne zu weit zu gehn; und daß ich erstaunen muß, Sie gegen seine maßlosen Angriffe auf alles, was uns heilig sein soll, so tolerant zu finden. Wenn Sie – –« Er unterbrach sich selbst: »Ich wünschte durchaus nicht, an diesem Morgen und mit Ihnen zu streiten; aber wenn Sie alle die grenzenlosen Übertreibungen meines Bruders, alle seine Ketzereien verteidigen –«

»Die Übertreibungen nicht!« warf Ottilie ein.

»Die Übertreibungen nicht! also seine Ketzereien! Das also wollten Sie sagen« (sie schüttelte den Kopf) – »das also geben Sie zu! Nun, mein Fräulein, so sagen Sie diesem begeisterten Lobredner des gewalttätigen Staats, diesem Kirchenfeind, für den Sie so warm eintreten, daß er sich leider nie die Zeit genommen hat, die Geschichte der Kirche zu studieren; sonst wüßte er aus tausend Blättern dieser Geschichte, daß die rohen Faustschläge des weltlichen Arms nie etwas anderes bewirkt haben, als das Gewissen der Menschheit zu wecken und den Glauben zu stärken. Sagen Sie diesem Fanatiker des Polizeistaats, mein Fräulein, daß an einer Stelle eines heiligen Buchs geschrieben steht: ›Ihr seid ausgegangen, als zu einem Mörder, mit Schwertern und Stangen, mich zu fangen ... Aber das ist alles geschehen, daß erfüllet würden die Schriften der Propheten!‹ Sagen Sie diesem Mann, der nach Ihrer Meinung nur ›vielleicht und gelegentlich zu weit geht‹, daß ich jetzt, Gott sei Dank, die Fassung gewonnen habe, seine Maßlosigkeiten mit christlicher Geduld, oder, wenn er lieber will, mit Philosophie zu ertragen; und daß ich nur an dem einen festhalten, und dieses eine nie und nimmer verleugnen, und dieses eine ihm immer und immer wieder in die Ohren und ins Gewissen rufen und verkündigen werde: Ihr seid und bleibt ohne Religion eine höhere Affenart!«

Damit trat er zurück, vergaß seinen Hut (in dem sich noch immer der Blumenstrauß befand) und ging, das Taschentuch statt des Hutes in der Hand, mit großen Schritten hinaus.

Da geht er, wie immer, durch die falsche Tür, dachte Ottilie, während sie ihm nachsah. Es war die Tür, die in ihr Schlafzimmer, und erst von da auf den Gang führte. – Übrigens scheint es, ich bilde mich hier zum Blitzableiter aus; dies war, glaub' ich, schon das vierte theologische Wetter, das, statt am Professor Fridolin, an mir heruntergefahren ist! – »Nur zu, nur zu,« sagte sie und lachte. »So bleibt es beim kalten Schlag!«


 << zurück weiter >>