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V.

Pastor Philipps Brief war vielleicht noch nicht ganz geschrieben, als Fräulein Ottilie die letzte Hand an ihre Toilette legte, in der sie beim Familiendiner erscheinen wollte. Diese Toilette war, in Ermangelung von Versen (sie machte keine), gleichsam eine Antwort auf Fridolins Gedicht: die Frisur, der Kopfputz, das Krägelchen, die Farbe ihres Kleides, alles nach Professor Fridolins Geschmack und gelegentlich ausgesprochenen Wünschen gewählt, konnten auch für eine Art von Akrostichon gelten; jedes Stück des Anzugs ein Buchstabe, das Ganze: »Fridolin«. Es war dadurch etwas Veilchenhaftes über sie gekommen, das ihr eigentlich nicht natürlich war; sie stand vor dem Spiegel und konnte nicht umhin, es leise zu empfinden; doch mit der Entschlossenheit, die jedes lebhafte Gefühl des Herzens hat, warf sie diese leise Empfindung unter den Tisch. Konnte es denn wohl noch eine Täuschung sein, daß sie Fridolin liebte? Warum hatte sie denn wieder (schon zum dritten Mal!) dieses Blatt mit dem verräterischen Gedicht in der Hand? Warum hatte sie es heimlich aus seinem Zimmer geholt und sich in ihrem eigenen damit eingeschlossen? Und warum setzte sie sich nun, als Veilchen geschmückt wie sie war, mit rot blühenden und glühenden Wangen an ihren Schreibtisch, zog ein zierliches Bleistiftetui hervor, das ihr der Professor gestern abend geschenkt hatte, legte das Gedicht vor sich hin, und sah auf die letzte Zeile mit einem herzlichen, tiefen Seufzer herab?

»Ich kann diese Lücke nicht mehr sehn,« sagte sie halblaut. Dieses Gedicht behalt' ich, dachte sie dann leise. Warum legte er's auch so offen auf den Tisch? – – Wenn ich's behalte, so kann ich die Lücke ja ausfüllen: die drei letzten Silben.

Ich, ich liebe! Wann sagst du einmal,
Echo des Herzens: – –?

Nun? Echo des Herzens? – Sie dachte nicht länger, sie nahm den Bleistift und schrieb. Nach »Echo des Herzens« setzte sie an und schrieb (und es machte ihr Mühe, in die kleine Schrift des Professors ihre großen, kühnen Buchstaben hineinzuzwängen): »Ich lie –«

»Nein!« sagte sie, sprang errötend auf und warf den Bleistift hin. »Wie komm' ich dazu? Was mache ich? Gott im Himmel, was ist mit mir geschehn, daß ich so lyrische Narrheiten treibe? Und ich, ich will andere Kinder erziehn?«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihre Gedanken; es war ihr recht. Sie warf das Gedicht in eines der Bücher, die auf ihrem Tisch lagen, packte die andern darauf, so daß es zuunterst lag, und ging dann an die Tür, sie aufzuschließen. Sie hatte gedacht, es sei Judica. Zu ihrer Verwunderung stand Leopold vor ihr – jetzt ohne Reisetasche, Schirm und Stock – und begrüßte sie mit einer fast zu höflichen Verbeugung.

»Darf man wagen, Sie einen Augenblick zu stören?« fragte er. »Haben Sie für mich eine Minute Zeit?«

»Einen Augenblick« – »eine Minute« – für einen Mann nicht sehr logisch! dachte sie. – »O ja,« sagte sie lächelnd, »ich hab' für Sie die gewünschte Zeit.«

 

»Ich sehe, daß Sie schon lächeln, mein Fräulein,« erwiderte Leopold etwas mühsam und sichtlich verlegen; »das ist kein hoffnungsvoller Anfang für mich. Ich weiß sehr gut, wie es mit mir steht. Ich bin – beklommen, verlegen; daher ungeschickt. Sehn Sie, ich sage Ihnen das lieber selbst, damit Sie es nicht hinter meinem Rücken denken, mein Fräulein. Wenn ich es selber sage, so erscheint es weniger absurd, weniger lächerlich. Darum sag' ich es selbst.«

»Eine gute Maxime, und gewiß sehr praktisch,« entgegnete Ottilie heiter und leichthin. Sie betrachtete ihn mit beginnendem Interesse.

»Es liegt in der Sache,« fuhr er fort; »die Beklommenheit, mein' ich. Erstens hab' ich Ihnen gegenüber, damals in Berlin, eine auffallende Dummheit gemacht; das liegt nun auf meinem Selbstbewußtsein, das drückt mich. Zweitens bin ich, wie ich glaube, im Begriff, eine zweite Dummheit zu begehen; das richtet mich auch nicht auf. – Bitte, lächeln Sie lieber, wertes Fräulein, als daß Sie mit diesem furchtbaren Ernst zuhören, was ich Ihnen sage.«

Sie lächelte.

»Sehen Sie, mein Fräulein, – ich hab' damals, in Berlin, behauptet, ›Sie seien es‹; und ich hab' Sie gefragt, ›ob ich es sei, oder nicht‹. Nicht wahr, ich würd' Ihnen nun ebenso unverständlich und ebenso lächerlich sein, wenn ich Sie jetzt fragen wollte: ob Sie es wenigstens werden könnten, und ob ich – – ob ich es wenigstens werden könnte.«

O weh, sie wird rot, dachte er; ich fange meine Sache sehr plump an; ich bin ja wohl ein Esel.

»Wirklich, mein Herr –«

»Bestes Fräulein,« fiel er ihr ins Wort, »ich bitte, haben Sie noch einen Augenblick mit mir Geduld; einen Augenblick! Es handelt sich da um einen Traum – nein, eine Vision – einen Aberglauben – – Man sucht in so einem Fall die Worte und man findet sie nicht. Könnt' ich dichten, so hätt' ich sie wahrscheinlich schon gefunden. Ich hab' es auch versucht. Ich hab' versucht, ein Gedicht darüber zu machen; in diesem Versmaß: ›Stilles Rätsel, Seele meiner Träume‹; – es ging nicht. Ich kann's nicht. Ich bin kein Poet, mein Fräulein; ich bin ein Naturfex; ein trockener Mensch; homo formica, Linné. Das einzige Gedicht, das ich in meinem Leben gemacht habe, hat sechs Zeilen und nur drei Reime; und das hab' ich noch dazu nicht allein gemacht, sondern mit meinem Freund, dem ›dicken Rudolf‹, zusammen; – übrigens, wenn ich gerecht sein will, das ist wirklich bedeutend.«

»So werden Sie es auswendig wissen,« sagte Ottilie in ihrer alten Heiterkeit; »und so bitt' ich sehr, tragen Sie es vor.«

»Es ist nur durch seine antike Einfachheit und durch die Wahrheit seiner Behauptungen bedeutend, mein Fräulein.«

»Ich liebe die Einfachheit und die Wahrheit; also bitte, tragen Sie es vor!«

Leopold ließ sich nicht länger nötigen, er rezitierte seine Verse, – dieselben Verse, die der dicke Rudolf an jenem Abend in Berlin den Leibschwaben vorgesungen hatte:

Trinket den Wein
So lang' er noch rot ist!
Werfet das Geld weg
So lang' es noch Kot ist!
Lebt doch der Mensch nur
So lang' er nicht tot ist!

»Ein nicht sehr rührendes, aber ein erbauendes Gedicht,« sagte Ottilie und lachte.

Leopold verneigte sich. »Ich hab' seitdem noch dreimal den Versuch gemacht,« sagte er, »mich ebenso aufzuschwingen; aber die Natur hatte sich erschöpft, wie es scheint; ich hab' nur diesen einen Löwen zur Welt gebracht.«

»So müssen Sie mir dieses Ihr Einziges in mein Album schreiben; – wollen Sie? Ich hab', wie so viele Gräfinnen, Pfarrerstöchter und Gymnasiasten, mir auch ein Album angelegt, für lyrische und didaktische Ergüsse. Wollen Sie so gut sein – ?«

»Mein Fräulein, diese Ehre –«

»Hier ist das Album, hier ist Feder und Tinte!« – Sie suchte unter den Büchern auf ihrem Schreibtisch, holte eines in schwarzem Leder mit Goldschnitt hervor und legte es vor ihn hin. »Und hier ist ein Stuhl!«

»Meine Schriftstellereitelkeit verbietet mir, mich dagegen zu sträuben; denn es könnte Sie plötzlich wieder gereuen,« sagte Leopold mit immer gemütlicherem Humor. »Also ich setze mich!« – Er schlug ein leeres Blatt in dem Album auf (es waren noch viele weiße Blätter darin) und fing augenblicklich an:

»Trinket den Wein
So lang' –«

Halt! dachte er und hielt inne.

»Nun? Warum schreiben Sie nicht?«

»Ich – ich feile noch!« gab er etwas zögernd zur Antwort. Oho, dachte er, vielleicht brächte ich eine Anspielung hinein auf das, was ich eigentlich will; irgend so ein Wort – – Es kommt schon; es kommt. Warum sollen wir denn immer Rotwein trinken? – Er setzte wieder an und schrieb den ersten Satz kühn zu Ende:

»Trinket den Wein
So lang' er noch weiß ist!«

»Feilen Sie noch immer?« fragte Ottilie nach einer Weile.

»Nein,« sagte er und schrieb nun, ohne wieder abzusetzen, zu Ende. Dann überreichte er ihr das Buch, mit etwas verlegenem und sehr ernsthaftem Gesicht.

»Also lassen Sie sehn, ob Sie es zu Tode gefeilt haben oder nicht!« – Sie las:

Trinket den Wein
So lang' er noch weiß ist!
Gebet das Herz weg
So lang's noch im Preis ist!
Lebt doch der Mensch nur
So lang' er kein Greis ist!

»Was soll das?« fragte Ottilie und ward rot. »Das ist – ein anderes Gedicht. Wie kommen Sie dazu, das hierher zu schreiben?«

Leopold fühlte, daß er gleichfalls errötete, und verlor auf einmal wieder all seinen Humor. »Verzeihen Sie!« stammelte er.

»Was beabsichtigen Sie mit dieser Art, zu ›feilen‹?«

Werd' es los, dachte Leopold; werd' es los! – Er nahm sich zusammen und murmelte: »Was ich –? – Eine – eine Anfrage.«

»Verzeihen Sie!« setzte er hinzu, da er sah, daß es ihr um die Lippen zuckte. »Es kam mir so in den Mund – in die Feder – – Seien Sie nicht böse, mein Fräulein – – Mein alter Aberglaube – denn ich glaube wirklich, Sie sind es – Und es ist so ein verrückter Zustand, nicht zu wissen, – nicht zu wissen, ob man es ist oder nicht.«

Das Fräulein schien diese letzten Worte nicht mehr zu hören; es ging ihr ein ganz eigenes, rätselhaftes Spiel über das glühende Gesicht. Indem sie die Lippen ein wenig öffnete, suchte sie mit den Augen auf dem Tisch. Aus dem Album war, als Leopold es vorhin aufgehoben hatte, um es ihr zu überreichen, ein loses Blatt herausgeglitten und lag neben den andern Büchern da; ein auf der sichtbaren Seite unbeschriebenes Blatt. In sich vertieft, wie sie war, setzte sie sich auf den Stuhl, nahm ihren Bleistift und fing an, auf diesem Blatt zu schreiben.

»Was, mein Fräulein –?« fragte er, brach aber, sowie er sich laut sprechen hörte, wieder ab.

Sie murmelte etwas, das er nicht verstand. Ihr Bleistift ging geschwind über das Papier; blieb dann stehn, wie ein gehemmschuhtes Rad; und lief dann wieder fort. Kurze Zeilen entstanden unter ihren zierlichen Fingern. Sowie sie fertig war, machte sie einen langen Haken über das Blatt herunter, stand auf und trat zurück.

»Ich soll lesen –?« fragte er verwirrt.

Sie nickte, ohne ihn anzusehn. So trat er denn neben den Stuhl, beugte sich etwas vor und las. Sie hat auch »gefeilt«! dachte er. Mit einem Gefühl, das ihm den Atem versetzte, las er still für sich:

Schenket den Wein ein
So lang' er noch rein ist!
Suchet kein Herz mehr auf,
Das nicht mehr sein ist.
Lebt doch der Mensch nur
Dieweil er zu zwei'n ist!

Er las es einmal, dann wieder, dann zum dritten Mal; doch zuletzt nur noch mit den Augen, ohne Sinn und Verstand. Es war ihm elend zu Mut. Hätt' ich's nicht denken können? dachte er. Wer viel fragt, kriegt viel Antwort! – Endlich entstand ihm eine Art von Nebel vor den Augen, und er glaubte nur noch durch diesen Nebel die beiden Zeilen zu sehn: »Suchet kein Herz mehr auf, das nicht mehr sein ist!« Er fühlte sich tief beschämt, – und noch tiefer betrübt. Eine wahre Furcht befiel ihn plötzlich, Ottilie wieder zu sehn, oder ihr Kleid hinter sich rauschen zu hören. Er horchte, ohne sich zu rühren. Jetzt wird es rauschen! dachte er. Doch es rauschte nicht. Das Zimmer war totenstill. Er hörte nur die Fliegen, die durch die offenen Fenster wieder hereinzogen; und die Fliegenjagd, das Gespräch mit Fridolin, sein schwerer Gang hierher, alles fiel ihm wie durch einen Zug an tausend Gehirnfäden wieder ein, so daß er zusammenzuckte. Unwillkürlich wandte er sich um, als hätte Ottilie ihn von hinten berührt. Es hatte ihn aber niemand berührt. Sie war fort. Geräuschlos war sie verschwunden.

Und was tut man nun? fragte er sich in Gedanken. Etwas muß man tun! Er nahm das verhängnisvolle Blatt wieder in die Hand und drehte es hin und her, wie wenn er den Pfeil in seiner Wunde herumdrehte. »Übrigens war es schon beschrieben!« sagte er, in seinem Elend, halblaut vor sich hin. »Auch auf der andern Seite ein Gedicht!« Mechanisch begann er die Verse auf dieser Rückseite zu lesen. Allmählich wurden seine Augen größer, und so groß wie nie. Er sah Fridolins kleine Schrift, sah die Anfangsbuchstaben (Ottilie hatte sie mit ihrem Bleistift, vor einer Stunde, einen nach dem andern unterstrichen), und sah endlich, was das »Echo« am Schluß hinzugetan hatte. »Ich lie –« stand da, – in Ottiliens Schrift. Er erkannte sie. Er hatte sie erst heute, an diesem Morgen, in Judicas Schreibheften studiert. Fridolin und Ottilie! dachte er. Großer Gott! Ja, nun weiß ich genug.

»Findet man dich hier?« fragte Fridolins Stimme. Der Professor, in seiner schönsten Samtweste, die Krawatte in der großen, kunstvollen Verschlingung, die er selber erfunden hatte (seine Leibschwaben nannten sie den »gordischen Knoten«), Bart und Haar künstlerisch gepflegt, stand hinter ihm in der Tür. Er hatte den Jüngling gesucht, um ihm zu zeigen, daß dieser »Kampf« um Sie die Freundschaft zwischen ihnen nicht beirren solle. »Findet man dich hier?« wiederholte er, doch ohne in Ton oder Miene Eifersucht zu verraten. »Ich hoffe, du weißt, mein Sohn, daß man in einer Viertelstunde zur Tafel gehn wird; Sprachverfälscher nennen es ›Diner‹.«

»Ich weiß, daß ihr zur Tafel gehen werdet,« antwortete Leopold; – »übrigens, alles ist bereits – in Ordnung. Lies dieses Gedicht. Von dir, an sie. Hier lag es, – in ihrem Album. Und ihre Antwort steht schon darunter; lies. Wünschest du sie noch deutlicher? Ich nicht!«

Fridolin hatte gesehen, begriffen, und war nahe daran, das Blatt vor Überraschung fallen zu lassen; aber mit der flachen Hand fing er es noch auf. »Ottilie –!« rief er aus. Leopold beobachtete das freudige Erschrecken auf Fridolins Gesicht, beobachtete jede Veränderung, die es darauf hervorbrachte, und rührte sich nicht.

»Mein lieber Freund,« sagte der Professor endlich, mit dem weichsten Ton, den er in der Kehle hatte, – »ich bin ganz bestürzt. Das ist eine Katastrophe.«

»Das ist wenigstens eine Enthüllung, die alle weiteren Forschungen überflüssig macht,« erwiderte Leopold mit künstlicher Kaltblütigkeit. »Also sie war es nicht. Sie sah nur so aus. Ich ›analysiere‹ nun weiter!«

»Was war sie nicht?« fragte Fridolin und starrte ihn an.

»Nicht so ein Kindskopf wie ich! – – Machen wir keine Redensarten, Fridolin, mit Glückwünschen und Bedauern; jeder fühlt ja doch nur, was er fühlen kann. Ich kehre nun zur – Wissenschaft zurück. Beitrag zum Seelenleben: Abteilung ›jugendliche Mystik‹, ›Aberglauben des Herzens‹! Adieu. Auf Wiedersehn – irgendwo.«

»Irgendwo? – Was willst du? Wohin?«

»Fort,« antwortete Leopold und ging aus der Tür.


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