Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Buch

I.

Der beste aller Leser folgt mir abermals in das Haus in Berlin, in der Königgrätzer Straße; über den Hof, in den dritten Stock. Er folgt mir in das kunstgeweihte Arbeitszimmer, in dem er sich – da er nicht allzu wohlbeleibt ist – noch eben umdrehen kann; lehnt sich gegen den großen Bücherschrank und stellt sich dem Apollo von Belvedere gegenüber; und da er dem Apollo von Belvedere gegenübersteht, sieht er auch zu dessen Füßen, in der »zierlichen Bettstatt«, »mit feiner Wolle bedecket«, den schlafenden Fridolin. Es ist früher Morgen. Er schläft. Er scheint kummervoll zu träumen; denn sonst wäre die Falte zwischen seinen Brauen – diese Falte, der er ein wehmütiges Gedicht gewidmet hat – nicht so tief. Er seufzt. Über diesem Seufzer wird er vermutlich erwachen. Ganz? Noch nicht. Er öffnet die Augen, sie sehen aber noch nicht. Erst sein Geruchssinn, der stärkste, feinste seiner Sinne, erwacht; die schöne Nase, die »Lerche« unter seinen Organen, wie er sie nennt, die jeden Morgen das Leben zuerst begrüßt. Sie schwellt ein wenig die Flügel. Sie erinnert sich der Veilchen, die zwei Schritte entfernt auf einem der »Stockwerkel« stehn (Sprachverderber nennen es Etagere). Über diesem Genuß erwachen auch die Augen, gehn der Nase nach und erblicken das tiefe Blau, das aus den kleinen duftenden Blumen herüberschwimmt. Sie saugen es ein. Ihr eigenes blasseres Blau scheint sich an diesem tieferen zu wärmen. Die Falte zwischen ihnen wird weicher; es regt sich etwas wie Heiterkeit um den schönbärtigen Mund. Aber wie lange? Nur einen Augenblick. Der Professor richtet sich auf; er schlägt die türkische Decke zurück, die ihn verhüllt, läßt die Augen in dieser gefüllten Öde, dieser kunstvollen Einsamkeit umhergehn, und eine traurige Schwermut schleiert sich über sein Gesicht ... Wieder regt sich die »Lerche«, die schöne Nase. Sie zieht sich hinauf. Will sie den Morgen ansingen? – Nein. Aber sie niest.

Der Professor wirft sich auf sein Lager zurück, zieht wieder die Decke über seine Schultern, und blickt mißmutig, beinahe kläglich aus ihr hervor. »Warum hab' ich geniest?« sagt er. »Weil ich mich erkälte. Warum erkält' ich mich? Weil man mich nicht mehr abreibt; weil man mich nicht mehr mit kaltem Wasser behandelt. Warum reibt man mich nicht mehr ab?« – Er zieht an der Klingelschnur, die rechts neben ihm hängt. Wird man nun gleich kommen oder nicht? Wird man ihn wieder vernachlässigen oder nicht? – Nein; man kommt. Frau Therese Ritter – ebenso reinlich, ebenso angenehm, ebenso phlegmatisch wie vordem – tritt ein.

»Herr Professor haben geklingelt,« sagt sie, unter der schneeweißen Haube hervor, und blickt sanft und still zu ihm hinüber.

»Ja, ich erlaubte mir zu klingeln,« antwortet er. »Wollen Sie zunächst die Gnade haben, mir zu sagen, was Onkel Reaumur heute meldet?«

»Draußen zwölf plus; drinnen« (sie blickte auf ein Thermometer neben der Tür) »vierzehn Grad, Herr Professor.«

»Dieser nordische April fängt an, Mai zu werden! – Wie kann ich bei vierzehn Grad im Zimmer niesen? Das ist unnatürlich. Das ist ein Aufschrei der verweichlichenden Kultur. Seit zwei Tagen erst aus dem Land, wo die wirkliche Sonne scheint, zurück, und schon Morgens um sechs geniest! – Ich wünsche Doktor Strehlau zu sehn. Meine Beste, warum stellen Sie Doktor Strehlau in der Küche bei Ihren Wassereimern an, statt ihn hereinzuschicken? Warum lassen Sie mich auf ihn warten?«

»Ich lasse Ihnen nicht warten, Herr Professor; aber er war noch nicht da.«

»Noch nicht da! – Alle Welt verläßt mich! – Also wenn dieses Ungeheuer kommt, so schicken Sie es herein.«

»Er soll Ihnen wohl abreiben, Herr Professor.«

»Das kann er nicht; denn die Natur hat das Abreiben nur in Verbindung mit dem Akkusativ gestattet, meine Liebe. Wen soll er abreiben? Mich. Tante Ritter, haben Sie die Güte, sagen Sie: mich.«

»Mich,« sagte sie mit dem angenehmsten Lächeln. »Aber es geht ja nicht. Sehn Sie Ihnen doch um, Herr Professor; wo soll er« (sie verschluckte den Dativ, da Fridolin sie erwartungsvoll ansah) – »wo soll er Sie hier abreiben; es ist ja kein Platz nicht.«

»Wenn kein Platz nicht ist, so werde ich in des Herrn Pastors Schlafzimmer gehn; da finden wir Platz.«

»Und der Herr Pastor« – fragte Tante Ritter scheinbar ganz unschuldig, und ohne sich zu rühren – »kommt er denn noch nicht wieder, Herr Professor?«

»Tante Ritter,« erwiderte Fridolin, »die Neugier sieht Ihnen schon aus hundert grauen Augen heraus; wie wenn Sie mich durch ein Prisma anguckten mit – mit fünfzig Ecken. Ich kann Ihnen auch heute nicht sagen, wann der Herr Pastor wiederkommt, weil ich es auch heute nicht weiß.«

»Und meine Nichte –«

»Und ebenso steht es mit der Nichte,« setzte er, einen Seufzer unterdrückend, mit leidlicher Fassung hinzu.

»Das geht mir dann ja auch weiter nichts nicht an,« erwiderte sie resigniert. »Wenn ich man bloß wüßte, Herr Professor – aber ich frage Ihnen« (ein vorwurfsvoller Blick; sie verbesserte sich) »ich frage Sie nicht mehr danach – warum Sie denn eigentlich so plötzlich wiedergekommen sind; Sie ganz allein.«

»Wollen Sie mir gütigst gestatten, Tante Ritter, Ihnen über diesen Gegenstand unserer Unterhaltung eine letzte Bemerkung zu machen?«

»Bitte!« sagte sie.

»So versichere ich Ihnen hiermit, daß Sie eine ausgezeichnete Frau, aber eine neugierige alte Gans sind; und daß ich mich augenblicklich von Ihnen scheiden lasse, wenn Sie noch ein einzig Mal – ein einzig Mal! – auf diesen Gegenstand der Unterhaltung zurückkommen. Und jetzt erlauben Sie, daß ich mich mit meinen Strümpfen bekleide.«

Diesem Wink, sich zu entfernen, folgte Frau Ritter ohne Widerstreben, und in Betracht der Mitteilung, die ihr geworden war, mit untadelhafter Fassung. Sie ging auf ihren weichen Schuhen stumm und geräuschlos hinaus. Erst in der Tür fiel ihr ein, daß sie es diesmal wohl ihrer Würde schuldig sei, das letzte Wort zu behalten. »Na ja, ich gehe ja schon,« sagte sie zurück.

»Doktor Strehlau ist da!« rief sie dann aus dem andern Zimmer, nachdem sie verschwunden war. Die Tür öffnete sich wieder, und der Mann, den Fridolin »Doktor Strehlau« benannt hatte, trat mit schwerem Schritt in seinen mächtigen rindsledernen Soldatenstiefeln herein. Ein breitschulteriger Pommer, der Offiziersbursche des Majors, der im Vorderhaus wohnte; das jüngste Exemplar einer niederen Gattung von »Leibschwaben«: »Leibschwaben aus dem Volke«, wie Leopold sie getauft hatte. In seinen frühesten Morgenstunden, ehe der Dienst bei seinem Major begann, bediente er den Professor, wie alle seine Vorgänger im Majorsdienst denselben Professor in denselben Stunden bedient hatten. Er hatte das alleinige und ausschließliche Recht, Fridolins Stiefel zu wichsen; er genoß den Vorzug, sämtliche Röcke und Hosen des Professors ausklopfen zu dürfen; er ward unter Umständen »zur Disposition gestellt«, nämlich zur Disposition der Frau Ritter; endlich avancierte er zum »Doktor der Wasserkunst«, und seine roten Hände lernten ein nasses Laken um Fridolins Glieder schlagen und sie so lange auf und nieder kneten und reiben, bis der Professor schrie, er halte es nicht mehr aus. Dieses Amt hatte ihm den Ehrennamen »Doktor Strehlau« verschafft. Er war ein gewissenhafter Mann in allem, was er betrieb. Er kam mit großer Regelmäßigkeit auch nach Tische und trank die Bierreste aus; er machte es durch sein aufmerksames Wesen unmöglich, daß in Fridolins Haushaltung etwas »umkam«; auch verließ er nach der Abreibung nicht gerne das Zimmer, eh' ihm die gewohnte Morgenzigarre von Fridolins milder Hand überreicht worden war.

»Guten Morgen, Herr Professor!« sagte er eintretend, mit einem wohlwollenden Lächeln über sein breites, rotbackiges Gesicht.

»Sehn Sie her, mein Sohn!« antwortete Fridolin. »Sehn Sie diesen Strumpf, an meinem rechten Bein. Nennen Sie das Pünktlichkeit? Dieser Strumpf an meinem rechten Bein sagt Ihnen, mein Sohn, daß Sie heut zu spät kommen.«

»Je, das ist wol leider nicht anders,« erwiderte Musketier Strehlau in aller Treuherzigkeit. »Ich hab' wol gestern abend etwas lange gekneipt, Herr Professor.«

»Etwas lange gekneipt! Wer sagt mir das? Ein Greis im Feldmarschallsalter oder ein zweiundzwanzigjähriger Kriegsknecht? Als ich Ihre paar Jahre auf dem Buckel hatte, Doktor Strehlau, kneipte ich, wenn es sein mußte, bis vier, und stand um fünf wieder da. Wollen Sie mich gefälligst heut abreiben oder nicht?«

»Fangen wir wieder an?«

»Ich hab' heut morgen völlig unmotiviert geniest; darum fangen wir wieder an. Im braunen Zimmer. Erwarten Sie mich mit Ihrem niederträchtigen nassen Laken, und mit meinen Kleidern, im braunen Zimmer. Gehn Sie in Ihrem Kriegerrock voran, ich in meinem Zivilhemd folge Ihnen nach.«

»Je, das muß dann wol,« sagte Doktor Strehlau und ging.

Fridolin sah sich allein. »Großer Gott!« seufzte er auf, indem er sich den Strumpf wieder herunterstreifte; »Ottilie! – Ottilie! – – Aber Morgens und Abends an sie zu denken, ist mir ja verboten. Warum verboten? Weil mein höheres Ich es nicht will. Weil der kategorische Imperativ in mir sagt: es soll nicht sein. Also darf es nicht sein! – Ne unquam immemor sis te philosophum esse. Sie wird dich vergessen, wie dich schon manche vergaß; sie wird mit einem andern glücklich werden; – mein Lieber, vergiß du sie auch; versuch, was du kannst! – Zur Abreibung!« – Er stand ohne Hemde da, fühlte, daß er sogleich wieder niesen werde, hüllte sich in seine türkische Decke und eilte hinaus.

»Beachten Sie, Doktor Strehlau,« sagte er, als das nasse Laken ihn umschlungen hielt und die beiden roten Fäuste des Musketiers an seinem Rücken auf und nieder fuhren, »beachten Sie, daß ich keinen Laut von mir gegeben habe, als dieses infam eisige nasse Tuch über mich herfiel.«

»Je, das ist auch keine Kleinigkeit, Herr Professor,« erwiderte Strehlau.

»Reiben Sie stärker; – ich sage mir einfach, daß ich es nicht fühle, dann fühle ich's nicht. Reiben Sie auch weiter unten; kein Teil des menschlichen Körpers soll verachtet werden; jeder tut seine Pflicht und verdient sein Recht. Haben auch Sie Ihre Pflicht getan, mein Sohn, und Ihre Lektion in dem kleinen Geographiebuch gelernt? – Warum schweigen Sie, Doktor Strehlau?«

»Na, einiges hab' ich wol gelernt; wenn Sie mir's gütigst überhören wollen –«

 

»Sagen Sie mir die großen französischen – (Au! – Der Kerl reibt wie ein Wahnsinniger – Aber laß ihn; nur zu) die großen französischen Festungen her, wie ich's Ihnen aufgegeben habe.«

»Also erstens Paris.« (Pause.)

»Verweilen Sie nicht zu lange bei Paris; gehn Sie weiter.«

»Lilie.«

»Nicht Lilie! sondern Lille. (Lilie!! Ach Lilie – Ottilie – – Bruch des Verbots. – O Philipp! O Leopold!) Reiben Sie nicht zu stark.«

»Je, also Lille.«

»Weiter, weiter, mein Sohn!«

»Lyon.«

»Lyon ist gut. – Aber Sie verschnaufen jedesmal so lange, wie wenn Sie die Festung eben erobert hätten. Doktor, fahren Sie fort.«

»Je – –«

»Es gibt keine französische Festung Namens ›Je‹. Rücken Sie vor! Rücken Sie vor!«

»Bordeaux – ist das auch 'ne Festung?«

»Mein lieber Sohn – – Nur drauf auf die Schulterblätter – – Sie bestehen ja schlecht. Ich hab' es übernommen, Ihre Bildung zu erweitern; ein deutscher Soldat muß ein gebildeter Mann sein; er muß gebildeter sein als alle Soldaten der Welt. Hören Sie, was ich sage, aber hören Sie darum nicht auf, zu reiben, Doktor Strehlau. Ihre Vorgänger waren fleißiger als Sie! Selbst meine kleine faule Nichte ist jetzt fleißiger als Sie – (O Judica! – O Ottilie!) Trinken Sie weniger Bier, mein Sohn, und essen Sie mehr Nahrung des Geistes.«

»O, ich will ja auch, Herr Professor. Sagen Sie mir's man tüchtig. Je, die kleine Judica –! Die hat's in sich. Die gefällt mir besser als ihr Vater, Herr Professor, – wenn ich auch meine Meinung sagen soll.«

»Es ist aber nicht gewünscht worden, daß Sie Ihre Meinung sagen sollen; niemand hat es gewünscht. Bleiben Sie bei Ihren Festungen, mein Sohn; und erobern Sie sie bis morgen alle! Haben Sie gehört? (Jetzt reibt er mir die Haut vom Leibe herunter. Ich halt's nicht mehr aus! – Doch; ich halt's noch aus.)«

»Bis morgen alle; da geb' ich Ihnen mein Wort.«

»Beachten Sie, Doktor Strehlau, daß wir so, während wir der Pflege und Mißhandlung des Leibes obliegen, zugleich den Geist beschäftigen, als ging' ihn diese Mißhandlung nichts an; als existierte sie nicht. Beachten Sie, daß das die Art gebildeter Männer ist; daß der Geist, mein Sohn – weil er das Höhere ist – – Halt! Hören Sie auf! Sind Sie toll? Hören Sie auf!«

»Je, 's tut wol weh, Herr Professor –«

»Abtrocknen! Sanft! – – Mein Hemd! – Für was für einen Heiligen halten Sie mich, daß Sie mir die ganze Haut herunterschinden? – Meine Hose! – Ich hasse Sie. Sie sind mir ein Gegenstand des – –«

Doch er brach ab; er murmelte vor sich hin: » Te philosophum esse. Te philosophum esse. – – Meine Strümpfe. Die reinen. Nummer elf. Jetzt verlassen Sie mich, Doktor Strehlau, Sie haben Ihre Schuldigkeit getan; hier ist Ihre Zigarre. Mein Sohn, rauche sie mit Verstand! – – Und die französischen Festungen!« rief er ihm nach.

»O, ich werde ja wol,« sagte Doktor Strehlau mit seinem vertrauensvollsten Lächeln und ging aus der Tür.


 << zurück weiter >>