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IV.

»Gut, er ist fort,« sagte Fridolin, als auch der letzte der vier Leibschwaben das Zimmer verlassen hatte und er sich mit Ottiliens Bruder allein sah. »Wir haben jetzt Zeit, mein Herr, an meine Verschuldung zu denken; mich zu verurteilen, wenn ich der Schuldige bin. Hier steht Clavigo – dort sein Ankläger, Beaumarchais. Erledigen wir mich! Aber suchen wir, wenn es Ihnen gefällig ist, dabei die Forderungen der kritischen Vernunft mit denen des Leibes zu vereinigen. ›Unterdessen das Frühstück.‹«

»Ich danke Ihnen,« sagte der Jüngling mit sanfter Stimme und einem Lächeln, das er nicht zu unterdrücken vermochte. »Ich könnte jetzt nicht frühstücken. Ich danke Ihnen.«

»Also eine nüchterne Untersuchung meiner Schuld! (Er hat gelächelt. Er lächelt wie sie. O dieses Lächeln –!) Herr Ferdinand Ritter, warum zögern Sie? Warum sagen Sie nichts?«

»Verzeihen Sie mir!« sagte Ferdinand errötend. »Ich hab' Sie beleidigt. Ich sehe ja aus allem, was Sie da tun, daß Sie in dieser unbegreiflichen Sache – ganz gewiß ohne Schuld sind. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich – – Verzeihen Sie mir!«

»Daß Sie sich Ihrer Schwester so ritterlich, vielmehr so brüderlich annahmen, sollte ich Ihnen verzeihen?«

»Ich hab' Ihnen« (der Jüngling ward wieder purpurrot) »starke Dinge gesagt. In der ersten Aufregung – in dem Glauben, daß – – Nicht wahr, ich hab' Ihnen starke Dinge gesagt,« wiederholte er, indem er zaghaft lächelte.

(Er lächelt noch schöner als sie!) »Ich danke Ihnen für jedes starke Wort, Herr Ferdinand Ritter, das Sie mir gesagt haben; denn es hat mich einen der besten, der – idealsten Brüder kennen gelehrt! – Verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen das sage. Warum sollt' ich nicht? Warum sollten sich Menschen nicht das Ehrende, das Erfreuende sagen? Wenn es das Wahre ist! – Übrigens bestimmte Sie die Natur dazu, der Ritter dieser Schwester zu sein. Sie sind nur eine andere Ausgabe von ihr; eine Übersetzung. Eine Übersetzung in die festere, straffere Sprache der Männlichkeit. Verstehe ich Ihre Hand recht? Sie wollte sich mir geben? – Hier haben Sie die meine. Verständigung; Versöhnung. Es macht mich glücklich, Herr Ferdinand Ritter – Ferdinand! ein schöner Name – es macht mich glücklich, uns versöhnt zu sehn. Auf unbegreifliche, unvernünftige Weise haben wir Ihre Schwester verloren; sorgen wir uns nicht: auf dem Wege der begreifenden Vernunft werden wir diese Schwester wiederfinden.«

»Ich bin ohne Sorge!« erwiderte Ferdinand. »So, wie Sie es betreiben – und so resolut, wie meine Schwester ist – – Ganz ohne Sorge! Ich danke Ihnen. Wenn Sie mir nur verzeihn!«

»Verzeihn! Dieses Wort werde nicht mehr gehört; es finde keinen Platz mehr zwischen Ihnen und mir. Warum stehn wir noch immer? Ich hab' Sie noch nicht sitzen sehn; das ist unnatürlich. Setzen wir uns; an diesen so freundlich einladenden Tisch. Sie wollen nicht essen? So trinken wir wenigstens; aus diesen grünen Rheinweingläsern, Herr Ferdinand – – Sie erlauben, daß ich alter Professor Sie bei Ihrem Vornamen nenne. (Er nickt. Er lächelt. Dieser edle Ausdruck!) Also ich schenke ein. Wie es gluckst. Zu den schönsten Geräuschen der Natur gehört für mich dieses Glucksen der Flasche beim ersten Glas. Wie das zögernde, zärtliche Seufzen einer Schönen beim ersten Kuß –«

Er stockte. Plötzlich fiel ihm Ottilie ein; Ottilie und alles. Es fiel ihm ein, daß er sie ja liebe. Aber welche Veränderung! Es tat ihm nichts dabei weh. Er fühlte keinen Schmerz. Da saß er wieder: der Junggesell Fridolin, der nicht heiraten soll und auch nicht heiraten möchte; nicht mehr der Graf Egmont, der um ein Mädchen seufzt, sondern der Professor Sokrates, der Menschen wirbt, der sich in eine werdende Jünglingsseele vertieft. Er sah gleichsam sich selber zu, und mußte lächeln. Es war ihm, als erblickte er hinter einem Schleier das auf ihn geheftete stille, weise Auge der Natur, das ihm lautlos sagte: »Siehst du, mein Sohn, so spiele ich mit dir! Vom Mädchen weg locke ich dich zum Jüngling – und von dem führ' ich dich zu dir selbst zurück – und dich so hin und her schaukelnd halt' ich dich fest in deinem Bund zwischen dir und dir. Was wolltest du von Ottilie? Hier ist sie, – in anderer Gestalt. Sieh diesen freundlichen, unschuldigen Jüngling an; so schön, so edel wie sie; wecke seine Seele, bilde sie, fülle sie, gewinne sie dir, so ist sie ja dein. War Sokrates mit Xantippe glücklich? Nein. Gute, edle Jünglinge zu finden, denen er Lehrer, Meister, Vater, Freund war, das war sein Glück. Das ist auch das deine. Hier sitzt es dir gegenüber. Erfülle deinen Beruf!«

 

»Der Wein ist vortrefflich,« sagte Ferdinand schüchtern, die tiefe Stille unterbrechend, nach einer geraumen Weile. »Aber, Herr Professor, Sie trinken ja nicht.«

Fridolin fuhr aus seinem Sinnen auf; er nickte; dann hielt er die freundlichen, sanften Augen auf den Jüngling geheftet. »Sie sagen zum ersten Mal ›Herr Professor‹ zu mir; – es sei auch das letzte Mal, Ferdinand. Es klingt von Ihren Lippen unnatürlich; unmenschlich. ›Herr Professor!‹ Wie glücklich waren jene Alten, jene Griechen, die keine Titel kannten; nur Mensch und Mensch! – Sagen Sie ›Fridolin‹; Fridolin, weiter nichts. Alle meine jungen Freunde nennen mich so; – und ich betrachte Sie schon als meinen Freund. Sagen Sie's; ich bitte. Sagen Sie: Fridolin.«

»Fridolin!« sagte Ferdinand; mit Schüchternheit, Heiterkeit und Stolz.

»Fridolin! Wie schön dieser Name von Ihren Lippen klingt. Ihre Schwester – – Was wollte ich Ihnen noch von Ihrer Schwester sagen – – Nehmen Sie Ihr Glas! Ich wünsche Ihnen etwas zu sagen; – und ich fürchte nicht, daß es Sie eitel macht; denn Ihnen sieht Charakter aus den braunen Augen; Verstand, Idealität. Klingen Sie an, mein junger Freund. Trinken wir darauf, daß Sie so unverdorben, so gut, so – ideal bleiben, wie Sie sind. Sagen Sie mir nichts! Werden Sie rot – nur zu – aber sagen Sie nichts. Ich weiß, ich sehe, Ferdinand, daß Sie von edler Art sind. Ich glaube, ich hab' ein wenig vom Auge, vielmehr vom ›Dämon‹ des Sokrates. In einer schönen Gestalt eine schöne Seele! – – Wie jugendlich verschämt, wie gerührt er mich ansieht. Ferdinand, – Ihre Hand. Ich hab' Sie achten gelernt, als Sie mir Ihre Beleidigungen so schlank und dreist ins Gesicht warfen; jetzt, da Sie mir so unnachahmlich freundlich in die Augen schauen, lerne ich Sie lieben.«

 

»Fridolin!« rief Ferdinand und sprang auf; denn die Bewegung, in die er geraten war, trieb ihn vom Stuhl empor. »Was sind Sie für ein Mensch –!« – Er stammelte; er sah ihn voll Bewunderung an. »Wenn es möglich wäre – wenn es möglich wäre, Fridolin, daß Sie mich jemals lieb hätten!«

»Ist schon geschehn,« sagte Fridolin heiter, um seine eigene lyrische Wallung zu verbergen, und nahm die beiden Hände des Jünglings in die seinen. »Warum sollte es auch erst übers Jahr, warum erst im Herbst, warum erst morgen geschehn? Am ersten Tag, oder nie! Durch Ihre Augen, Ferdinand, sieht man klar und tief in Ihre Seele hinein. Hinter diesen Fenstern wohnt wahre, warme Jugend, reine Gefühle, Begeisterung. Begeisterung ist alles! Gib einem Menschen alle Gaben der Erde und nimm ihm die Fähigkeit der Begeisterung, und du verdammst ihn zu lebendigem Tod. Wo ich in einer jungen Menschenbrust Begeisterung fühle, da glaub' ich, hoff' ich und lieb' ich. Ja, Kind, ich liebe Sie, ›Sie!‹ Wozu sag' ich ›Sie‹? Jene glücklichen Griechen kannten kein Sie. Mein glückliches altes Herz kennt für dich kein Sie. Warum warten, bis wir noch einige tausend Worte miteinander gewechselt haben. Gib mir den Becher her; den silbernen Becher da mit der silbernen Dame. Weihen wir ihn ein! Leere die Flasche in ihn aus. Setz ihn an die Lippen. Auf Begeisterung, Freundschaft, Liebe und Du! – –

»Wie töricht wir sind,« fuhr Fridolin fort, als sie getrunken hatten und der von seinen Gefühlen ganz übermannte Ferdinand in einer Art von hilfloser Verzückung dastand – »wie töricht wir sind, wenn wir am frühen Morgen verzagen; da wir ahnungslosesten Geschöpfe, wir blinden Maulwürfe der Oberwelt nicht wissen, was der Tag uns bringt. Hätt' ich denn vor einer Stunde auch nur denken können, daß dieser mein Geburtstag, den ich verwünschte, mich so außermaßen glücklich machen würde? – Aber ich seh' dich an und bemerke, mein teurer Ferdinand, daß du, die Wahrheit zu sagen, wie ein kleiner Schmutzfinke aussiehst. Noch ganz so, wie die Berlin-Anhalter Bahn dich der Menschheit zurückgab. Führen wir dich in dieses Zimmer nebenan; dort übergeb' ich dir Seife, Kamm, Bürste, ein frisches Hemd. Und dann, wenn der gereinigte Adonis aus dem Seifenschaum emporgestiegen, führen wir dich zu deiner liebenden Tante; denn mir fällt ja eben ein, daß Frau Therese Ritter deine Tante ist, und daß du Schurke – o welch ein Wort für diesen edelsten aller Jünglinge! – daß du ihr noch nicht guten Morgen gesagt hast.«


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