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V.

Fridolin und Leopold waren bis an das Haus in der Königgrätzer Straße gelangt, als Fridolin noch einmal stehen blieb und fragte: »Nun, und deine Liebe, mein Sohn, deine Liebe zu jener Dame – wie heißt sie doch noch?«

»Nichts!« antwortete Leopold.

»Nichts?«

»Nein. Es ging nicht. Sie hielt sich nicht.«

»Sie hielt sich nicht?«

»Nein. Als ich sie naturwissenschaftlich analysierte, erkannte ich sie als Katze; felis communis, Linné

»Wie altklug der Junge spricht! – Bedauernswerte Geschöpfe, die ihr doch seid, ihr Naturforscher. Ein Mädchen sitzt neben euch bei Tisch; schlank, frisch wie eine Knospe, blond – sagen wir, blond –, strahlende Augen, liebliches, helles Lachen, reizende Einfälle, rosige Fingerspitzen, zum Einbeißen. Uns wuppert und puppert das Herz vor Freude, uns, den alten Männern. Der junge Naturforscher, der große Gelehrte, hat keine Zeit, sich zu freuen: er analysiert. Er zergliedert sie. Er zieht ihr eine ihrer Eigenschaften nach der andern, wie die Häute von einer Zwiebel, herunter. Dann legt er das Resultat auf den Tisch: ›Hier!‹ sagt er, ›bestimmen wir nun, zu welcher Spezies sie gehört. Ah! das ist eine Katze. Ah! das ist ein Blaustrumpf. Ah! das ist ein Pfau. Man hätte sich in sie verlieben können, wenn sie kein Pfau wäre; aber hier sehen wir's ja: sie ist ein Pfau. Gute Nacht! War auch wieder eine von diesen langweiligen Gesellschaften ...‹ Darauf gähnt er. Darauf geht er nach Hause. Darauf legt er sich in seinem wollenen Unterhemd – denn die Wissenschaft empfiehlt Wolle – zu Bett, und träumt von einer Kritik in der Zeitschrift für vergleichende Anatomie, die ihn den größten Naturforscher der Gegenwart nennt. Darauf wacht er auf – und ist noch ganz derselbe altkluge, trockene, naseweise Bengel wie am Abend vorher.«

»Ich danke dir!« sagte Leopold und drückte ihm die Hand.

»Ist die Schilderung falsch?«

Leopolds Antwort war nur ein liebenswürdiges Lächeln. Endlich sagte er: »Vielleicht.«

»Und worin?«

»In dem letzten Abschnitt: zu Hause. Darauf legt er sich – doch ohne Wolle – zu Bett, ärgert sich über den verlorenen Abend – über die niedlichen jungen Mädchen mit den rosigen Fingerspitzen, der vortrefflichen Erziehung und der langweiligen Seele – über die zerstörenden Wirkungen der naturwissenschaftlichen Kritik – über sich selbst. Darauf versucht er einzuschlafen; aber er kann nicht. Eine junge Dame steht hinter seinem Kopfkissen und flüstert ihm etwas zu; – ›ah!‹ sagt er, ›das bist du!‹ Darauf setzt sie sich auf einen Stuhl neben seinem Bett, lächelt ihn an, – und nun wird ihm wohl.«

»Eine Dame? – Wer?«

»Meine zukünftige Braut. Die, welche es sein wird.«

 

Fridolin riß die Augen auf und zog die Brauen nach oben. »Wie? Dieser junge Naturforscher da hätte ein heimliches Ideal? – Oder – – kein Ideal, sondern Fleisch und Bein?«

»Einstweilen, mein Alter,« erwiderte Leopold lächelnd, »weiß ich weder, ›wer und von wannen sie ist, noch die Heimat und die Erzeuger‹. Sie kommt vermutlich durchs Schlüsselloch, und geht – mir durch den Kopf.«

»Dieser Mensch ein Idealist! – – Du liebst sie.«

»Ja. Denn sie hält sich. Ein wirklich liebenswürdiges Mädchen, Fridolin; geistvoll, nachdenklich; auch zuweilen übermütig; auch angenehm anzusehn. Sie sitzt dann da und wir führen Gespräche – Gespräche, Fridolin, die sich dem Schönsten an die Seite stellen, was seit Adam und Eva vorgefallen ist. Aber wir sind in der Regel beide ebenso verständig wie liebenswürdig; als Kinder unserer rationellen Zeit. Zuweilen kommt sie auch, wenn ich arbeite; lehnt sich mir plötzlich auf die Schulter, mit ihrer leisen, beruhigenden Art, und sieht mir aufs Papier – mit einem Blick des Verständnisses – – diesen Blick hat sie oft. Und dann – dann werde ich ganz zufrieden, ganz still, und analysiere nicht mehr.«

»Natürlich liebt sie dich –«

»Ja. Und diese Liebe eines so vorzüglichen Geschöpfes, dessen Namen ich nicht einmal kenne – die tut mir sehr wohl.«

»Hm! – Und wenn du dieses vorzügliche Geschöpf nie auf Erden findest –«

»Ich werd' sie finden, Fridolin; daran zweifle ich nicht. Und wenn ich sie finde, sagen wir uns sicherlich am ersten Tag, daß wir zusammengehören.«

Fridolin antwortete hierauf nichts, sondern trat ins Haus. Erst als er den Hof überschritten hatte und am Eingang zu seinem dreistöckigen »Turm« stand, blickte er auf Leopold zurück, der ihm stumm gefolgt war. »Mein Sohn,« sagte er mit einem Gesicht voll Zufriedenheit und Wohlgefallen: »ich nehme alles zurück, was ich gegen dich sagte. Gott sei Dank, du bist doch auch noch ein Narr!«

Leopold lächelte behaglich. Sie stiegen die Treppen hinauf. Als sie den Vorplatz in Fridolins Wohnung erreicht hatten, hörten sie eine wohlklingende, aber lebhafte, etwas erregte Frauenstimme; sogleich öffnete Leopold leise die Tür. Die Stimme an sich schien ihn zu interessieren: denn statt einzutreten, blieb er stehn. Fridolin desgleichen. Endlich sagte die weibliche Stimme: »Aber ganz im allgemeinen wünsche ich, daß man mich über diesen Zustand ein wenig aufklärt – und daß man mich ungefähr wie einen Menschen behandelt –«

»Jetzt wird es Zeit!« sagte der Professor vor sich hin und trat voran in die Tür. Hier konnte er nun nicht umhin, zu lächeln, als er die furchtbare Niedergeschlagenheit seines Bruders Philipp, die in sich zusammengesunkene Gestalt, die nach vorn gefallenen langen Haare sah, an denen hier und da, wie Tautropfen an »Frauenhaar«, ein verlegener Schweißtropfen hing. Die junge Dame dagegen schien sofort ihre Seelenruhe wieder zu gewinnen; die reizende Röte in ihrem Gesicht verschwand, sie murmelte etwas, und der Professor glaubte die schmeichelhaften Worte zu verstehen: »endlich kommt ein Mensch!«

Augenblicklich trat er in der ritterlichen Haltung des Grafen Egmont auf sie zu, machte ihr eine seiner stilvollsten Verbeugungen und sagte: »Mein Fräulein! erlauben Sie mir zunächst Ihnen mitzuteilen, daß ich hier zu Hause, und daß ich ein Jahr nach diesem meinem Bruder auf besonderen Wunsch meiner Eltern zur Welt gekommen bin, um alles, was er schlecht machen würde, wieder gut zu machen. So gewiß Sie Fräulein Ottilie Ritter sind –«

Sie verneigte sich bejahend.

»So gewiß hat mein geistlicher Bruder etwas angerichtet, das indessen unsere weltliche Einsicht noch wieder gutmachen wird. Ich bitte dich, mein teurer Philipp, schweig einen Augenblick still! – Er hat Ihnen offenbar gesagt, daß er morgen abreisen wird. Dies sagt er jeden Sonnabend, seit er hier ist; denn der Sonnabend ist sein schlimmster Tag. An diesem Tag pflegte er sonst seine Predigten zu machen – – mein teurer Philipp, schweig noch einen Augenblick still! – Er wird morgen nicht abreisen. Wir alle werden beisammen bleiben, Ihre Tante wird kochen und backen, mein Bruder wird damit genährt werden, Sie werden seine Tochter zu einem Engel erziehen, und ein blühender Gatte wird sie einst aus Ihren Händen empfangen. Bitte, legen Sie ab! Sie haben die Handschuhe noch an. Dänische! – Ich auch. Man erwirbt sich nach und nach ein kleines Vermögen, wenn man nur noch die billigen dänischen trägt. Haben Sie schon zu Abend gegessen? – Nein. Ihr Lächeln sagt nein. (Ein allerliebstes, geistreiches Lächeln! setzte er stillschweigend hinzu.) Ich hatte ohnehin schon diesen fürchterlichen Verdacht! Mein teurer Leopold – ich stelle Ihnen hiermit Leopold Rheinau vor; ein sehr merkwürdiger Mensch; Naturforscher; nach meinem Tode mein Biograph – mein teurer Leopold, analysiere nicht beständig diese junge Dame, sondern sorge dafür, daß wir ein Abendessen bekommen! Tante Ritter – – Ha! Wo steckt Tante Ritter?«

Das Fräulein, mit einem Seitenblick auf den Pastor, antwortete: »Wir erwarten sie noch.«

»Wir erwarten sie?«

»Ja. Sie ist – noch nicht zurück. Erlauben Sie, daß ich sie in ihrer Abwesenheit ein wenig vertrete; daß ich für das Abendessen sorgen helfe!«

Indem sie das sagte, schwebte ihre anmutige Gestalt schon zur Tür hinaus, hinter Leopold her.

Fridolin sah ihr nach. »Tante Ritter,« sagte er, »in der Wahl dieser Nichte, scheint mir, waren Sie glücklich! – Aber ein niederträchtiger Zigarrengeruch. Diese Jungen paffen! – Da fällt mir erst ein: alle meine Leibschwaben sind fort. Wo sind sie hin?« – Er ging ans Fenster, riß es auf, um reine Luft einzulassen, und wiederholte: »Philippus! wo sind sie hin?«

»Wohl mir, daß ich nicht deiner Leibschwaben Hüter bin!« erwiderte der unglückliche Pastor, der nun endlich zu Worte kam. »Ich kann dir nicht sagen, wo sie sind; denn ich weiß es nicht. Ich weiß nur – – Fridolin!«

»Was?«

»Du sagst, daß ich nicht abreisen werde, daß ich bleiben werde; aber du hast meinen Brief noch nicht gelesen – meinen Brief an dich, der in deinem Arbeitszimmer auf deinem Tisch liegt.«

»Nein; ich verspreche dir, ich werde ihn lesen; und dann werd' ich mir einen Fidibus daraus machen, und wir werden uns nach dem Abendessen die Friedenszigarre dran anzünden.«

»Du bestehst darauf, daß ich bleibe – auch nach dem, was heute zwischen uns vorgefallen ist?«

»Ja, ich bestehe darauf; weil – –«

Er brach ab und sah durch das Fenster in die Nacht hinaus.

»Weil –?« fragte der Pastor.

Fridolin drehte sich um. Es war ihm plötzlich etwas Feuchtes in die Augen gekommen. »Weil – weil du bei mir in der Kur bist und deine Kur noch nicht aus ist; und weil ich deiner und meiner Mutter auf ihrem Sterbebett versprochen habe, dich nie zu verlassen; und weil – und weil wir zu alt sind, um dumme Jungen zu sein.«

Damit wandte er sich wieder ab, und ging nach der Küche zu.

 

»Es scheint Ihnen irgend etwas Unheimliches an mir aufzufallen,« sagte in diesem Augenblick Fräulein Ottilie, die sich mit Tellern und Bestecken zu schaffen machte, lächelnd zu Leopold, der mit der großen Bratenschüssel in beiden Händen vor ihr stand: »denn statt diesen Braten weiterzubefördern, sehen Sie mich die ganze Zeit furchtbar nachdenklich an.«

Der junge Mann fuhr auf wie aus einem Traum. »Verzeihen Sie! – Den Braten weiterbefördern; ja!« – Er tat es, indem er ihn kurzweg dem Küchenmädchen auf die beiden roten Hände legte; dann blieb er wieder stehn. »Es scheint wirklich, ich benehme mich wie ein Narr!«

»Der Ausdruck wäre zu hart,« entgegnete das Fräulein mit ihrem stillen, feinen, humoristischen Lächeln.

»Bei Gott, Sie sind es!« sagte er plötzlich.

»Wer bin ich?«

»Und sind's doch auch wieder nicht,« murmelte er halblaut; nachdem er ihr so fest ins Gesicht gesehen hatte, daß sie errötete.

»Ich verstehe Sie nicht – – vier Personen, vier Bestecke – – diese niedlichen kleinen Dessertmesser! – Und nun, mein Herr, nachdem Sie sich so unendlich nützlich gemacht haben, sollten Sie wohl zu den Männern zurückkehren und das ›ewig Weibliche‹, die Küche, verlassen.«

»Sie sind es!« rief Leopold wieder aus.

»Wirklich, mein Herr – –« Das Fräulein sah ihn ernsthaft und mit einem Ausdruck des Mißvergnügens an. »Ich verstehe Sie nicht.«

»Bitte, verzeihen Sie mir! – Ich muß Ihnen albern vorkommen, wie ein Gymnasiast. – Und doch schwebt mir – schwebt mir eine Frage auf der Zunge – eine höchst alberne Frage.«

Das Fräulein sah ihn ungewiß an.

»Darf ich fragen –?«

»Ich bitte –«

»Nicht wahr, ich bin es nicht?«

Das Fräulein sah ihn nicht mehr ungewiß, sondern erschrocken an. Trotz seines gescheiten, ruhigen Gesichts glaubte sie einen Augenblick, ein verwirrter Mensch stehe vor ihr. Sie antwortete nichts.

»Ah, mein Fräulein,« fing er mit einem liebenswürdigen, elegischen Lächeln wieder an: »ich sehe wohl, was Sie von mir denken! – Nicht wahr – es fällt Ihnen bei meinem Anblick nichts, gar nichts ein? Ich erinnere Sie an nichts? Sie haben mir gar nichts, ganz und gar nichts zu sagen?«

»Ich müßte lügen,« erwiderte sie langsam, ihn noch immer anstarrend; – »nein.«

»Ich danke Ihnen – das heißt, verzeihen Sie – oder vielmehr – – Ich komme Ihnen verrückt vor, natürlich. Weder wie ein Naturforscher – noch wie ein erwachsener Mensch. Wenn ich Ihnen sagen könnte – – ich kann's nicht. Aber diese Ähnlichkeit – – und dann wieder nicht. Dann wieder nicht!«

»Was spricht der junge Mann für Zeug?« rief Fridolin, der schon eine Weile in der Nähe der Tür stand und in die Küche hereinsah. »Ich verstehe kein Wort!«

»Ich auch nicht!« sagte Fräulein Ottilie, die ihren Humor wiedergewonnen hatte, und lachte.

»Fräulein Ottilie, das Essen wartet!« rief der Professor. »Lassen wir diesen Jüngling noch unverstanden, und nähren wir uns! – Und dann beim Nachtisch – Sprachverderber nennen es Dessert – sag' ich Ihnen eine Idee, die ich soeben, bei Ihrem Anblick, gehabt habe.«

Wie, hat denn hier jeder Mensch bei meinem Anblick Ideen? dachte das Fräulein; ging in das Speisezimmer und legte die Bestecke auf den Tisch.

»Was für eine Idee?« fragte der Pastor, der dem Professor mit seinen langen Schritten nachgekommen war.

»Was für eine Idee? – Daß ich in acht Tagen ein freier Mann bin; daß ich Judica versprochen habe, mit ihr eine Reise zu machen, sobald wir den nötigen weiblichen Schutzengel für sie hätten; daß wir ihn nun haben; und daß so eine Reise dich, geistlicher Bruder, wieder gesund machen wird –«

»Eine Reise im April?«

»Über die Alpen – an den Gardasee – ins gelobte Land Italien!«

»Nach Italien!« krähte Judicas Stimme; das Kind, das sich aus des Professors Arbeitszimmer herbeigeschlichen hatte, klatschte vor Vergnügen in die Hände. »Hurra, nach Italien, und – – Tante Ritter kommt! Tante Ritter kommt!« krähte sie plötzlich aus einer anderen Tonart.

»Bei Gott, Tante Ritter kommt!« rief der Professor aus, ging würdevoll an die Tür zum Vorplatz und öffnete sie.

Das Fräulein legte die letzte Serviette und das letzte Besteck auf den Tisch und eilte hinaus.

Leopold sah ihr noch von der Küche aus nach. Er schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist es nicht,« sagte er vor sich hin. »Ich dachte wirklich, sie wär' es. Wenn auch mein Anblick ihr etwas gesagt hätte – – Er hat ihr gar nichts gesagt. Wir sind's beide nicht! – – Übrigens hat Fridolin recht: ich bin doch auch noch ein Narr.«


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