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IV.

Es klopfte an Fridolins Tür. Eben hatte er sich erst auf sein Sofa geworfen und suchte sich nach dieser Erregung zu fassen, sein heftig schlagendes Herz gleichsam mit den Händen zu halten, in die Zukunft zu denken, – als er es pochen hörte. Er blieb still. Neues Klopfen. Endlich trat der Pocher ungerufen ein. Es war Pastor Philipp. Seine Gestalt war noch vorgebeugter, seine Schritte noch schleifender, sein Gesicht noch blasser als sonst. So geräuschlos wie möglich ging er bis an das Sofa, auf dem der Professor lag, und setzte sich daneben auf einen Stuhl.

»Verzeih, lieber Bruder, daß ich eintrete,« sagte er mit großer Langsamkeit und mit etwas Feierlichem in der Stimme.

»Was wünschest du?« fragte Fridolin, innerlich gereizt. »Willst du wieder einmal fort?«

»Nein; das nicht. Darum komme ich nicht. Fridolin, hast du zwei Minuten für mich?«

Resigniert antwortete Fridolin: »Ich habe sie. Sprich.«

»Ich habe eben, unfreiwilligerweise, einige Worte gehört – achte nicht auf meine Stimme« (sie fing nämlich an zu zittern), »ich glaube, sie ist etwas belegt – – einige Worte gehört, über die ich mit dir reden muß. Ottilie Ritter. Du sprachst von Fräulein Ottilie Ritter. Ich wollte in mein Zimmer – und stand noch vor der Tür – und weil du leider, nach deiner Gewohnheit, sehr laut sprachst, habe ich's gehört.«

»Was hast du gehört?« fragte Fridolin, indem er auffuhr.

Der Pastor drückte ihn sanft wieder in seine Ecke zurück. »Du sollst nicht zu kurz kommen, lieber Bruder,« sagte er mit einem rührend melancholischen Lächeln: »ich werde dir auch etwas von Fräulein Ottilie Ritter sagen; so gleicht sich's aus. Es war allerdings eine Untreue gegen meine Vergangenheit – – Kurz, Fräulein Ottilie – – Es ist mir damit gegangen, wie ich niemals gedacht hätte. Ich bin wieder aufgelebt. Ich habe heute allerlei Blumen und Kräuter gepflückt wie ein junger Mensch; ich habe mit euch Fliegen gejagt; – noch vor vierzehn Tagen hätte ich ebenso gut meinen Herrn Jesum Christum verleugnet, als solche Torheiten getrieben. Ich bin noch jung, sagst du. Ja, ich bin wohl noch jung. Es ist mir nun selber so zu Mute, als wenn ich wirklich noch jung wäre. Und da sie, wie du gleichfalls sagst, die beste Erzieherin meines Kindes ist, die ich finden könnte – und da ich leider gar kein Talent habe, allein zu leben – – bitte, bleib in deiner Ecke, wie ich auf meinem Stuhl – – so hab' ich heute morgen auf meinem Spaziergang, während ich die Blumen pflückte, gedacht: ich glaube wirklich, wenn sie wollte, ich wollte wohl. – Das war es, was ich meinerseits dir zu berichten hatte.«

Während er dies sagte, lag Fridolin nicht mehr in seiner Ecke, sondern stand, gegen den Tisch gelehnt, riß die Augen weiter und weiter auf, und nickte dazu, ganz verstört, mit dem Kopf. »Auch du willst sie haben!« rief er endlich aus. »Jeder will sie haben! – Und um mir das so ins Gesicht zu sagen, kommst du herein? – Wenn du vorhin an deiner Tür gehört hast, daß ich von Ottilie Ritter sprach, weißt du dann nicht, wie es in mir aussieht?«

 

»Ich weiß, allerdings,« murmelte der Pastor; »ich bitte dich, rede nicht so laut. Du willst auf Fräulein Ottilie nicht verzichten, hast du gesagt –«

»Nein! ich will und werde nicht auf sie verzichten! Ich werde nicht! Nicht gegen alle Brüder der Welt –!«

»Aber was redest du von allen Brüdern der Welt,« fiel ihm der Pastor ins Wort; der immer leiser und hohler sprach, je mehr Fridolins Stimme sich erhöhte. »Ich war nur gekommen, um dir mit brüderlicher Offenherzigkeit zu gestehen, was ich meinerseits vor einer Stunde gedacht hatte –«

»Es ist gut! Denke, wolle, mache deine Pläne; nur zu! Tut alle miteinander, was ihr wollt, was ihr könnt! Hindernisse – – O! Hindernisse machen mich nicht irre, sie tun mir gut, sie wecken meine Energie, sie reizen mich. Gebt mir Hindernisse, ich springe darüber hinweg!«

»Aber was redest du von darüber hinwegspringen, von Hindernissen –«

»Wie!« fuhr Fridolin auf. »Wirfst du mir etwa kein Hindernis in den Weg, wenn du mir sagst: ich liebe sie auch? Reißest du nicht an meinem Herzen herum, wenn du mir sagst: ich kann nicht allein leben, sie soll bei meinem Kind bleiben, sie soll meine Frau sein? – Aber ich verzichte nicht!« rief er heftiger aus. »Nein! Sag mir nichts mehr! Ich verschließe meine Ohren, meinen Verstand, mein Herz, ich höre nicht zu. Sagt mir nichts mehr von euch; sagt mir nichts von dieser gottverdammten ›heimlichen Ehe‹! Ich will eine Ehe haben wie ihr alle, wie die ganze Welt, ich will heiraten, ich will glücklich werden, und alle eure Hindernisse sollen mich nicht hindern!«

»Um Gottes willen,« stammelte Philipp; »was für ein Ausbruch – – Fridolin –!« – Da bricht er vollends aus und ist aus der Tür. Fridolin! – – Hat man denn diesen Mann je in diesem Zustand gesehn? – Ich glaube, ich zittere. – ›Nicht gegen alle Brüder der Welt‹ – Bin ich denn so ein unbrüderlicher Bruder, daß man mir solche Kriegserklärungen ins Gesicht werfen muß? Haben wir beide so miteinander gelebt, daß er von mir hinwegstürzt wie von einem Feind, und mir – – – Ich hätte gar nicht kommen, von meinen eigenen Gedanken gar nichts sagen sollen; – ich bereue immer zu spät. ›Heimliche Ehe‹ – was wollte er mit seiner ›heimlichen Ehe‹? Ich verstehe es nicht. – Ich dir Hindernisse geben, daß du darüber hinwegspringst? Zum Dank für all deine Liebe und Güte, deine Opfer, deine brüderliche Sorge und Treue? Ich, der ich mich hinstelle und den Menschen Christi Wort und Lehre predige; ich, der ich weiß, wie viel besser und im Geiste reicher und in allem liebenswerter du bist als ich – –

»Nein!« sagte er laut nach diesen leisen Gedanken, und ging mit einer Entschlossenheit, die an ihm selten war, aus der Tür.

Er ging in sein Zimmer; niemand begegnete ihm. Er schloß die Türen zum Korridor und zum Nebenzimmer ab, holte aus einer Ecke einen Handkoffer hervor, und begann, zuweilen seufzend, zuweilen aus tiefer Zerstreuung auffahrend und nachsinnend, was er denn eben gewollt, allerlei Wäsche und Bücher einzupacken. Die kunstvolle Berechnung und Ersparung des Raumes, die er dabei nach alter Gewohnheit betrieb, kostete ihn viele Zeit; denn so oft er die Entdeckung machte, daß eine noch kunstvollere Behandlung des Raumes möglich sei, packte er seufzend sein ganzes Werk wieder aus und zwang seine Hemden, Reisebücher, Strümpfe und Kirchenzeitungen, sich noch inniger aneinander anzuschließen. Als er endlich nach Verlauf einiger Stunden alles vollbracht und mit sich und mit seinem Koffer abgeschlossen hatte, schloß er noch einmal auf, holte mit vieler Mühe Tintenfaß, Briefpapier und Feder wieder hervor, die er voreilig mit eingepackt, und schrieb in seiner kleinen, steilen Schrift folgenden Brief:

»Mein verehrtes Fräulein! Ein plötzlicher, an sich unbedeutender Anlaß zwingt mich, mit dem nächsten Omnibus, der nach Mori an die Eisenbahn geht, abzureisen und Sie mit meiner Judica im Schutze meines Bruders zurückzulassen. Ob ich Sie noch hier in Riva wiedersehe, oder später erst, und wann und wo, das alles würde ich Ihnen schon heute sagen, wenn ich's heute schon könnte. Ich kann es nicht. Nehmen Sie einstweilen meinen aus tiefstem Herzen kommenden Dank für alles, was Sie an meinem Kinde getan haben und etwa noch tun werden; und gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß, was ich auch gegen die kirchenfeindlichen Gesinnungen meines Bruders vor Ihnen geäußert haben mag (und ich hatte sowohl das Recht als die Pflicht, ihm darin entgegenzutreten!), er in allem übrigen einer der verehrungswertesten und edelsten Menschen ist. Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß ich, der ich über sein Seelenheil leider manche Sorgenstunde habe (und ich wäre ein Mensch ohne Gewissen und Glauben, hätte ich sie nicht), daß ich ihm für sein irdisches Heil allen Segen, allen Trost, alle Liebe wünsche, die ein so liebenswertes, großes Herz für sich begehren kann. Sagen Sie ihm, mein verehrtes Fräulein, daß der Gegensatz zwischen unseren religiösen und politischen Überzeugungen, oder sonst irgendein Gefühl, welches es auch sei, mich nicht hindert, seinen Wünschen jeden eigenen Wunsch zum Opfer zu bringen; und daß ich in mir den tröstlichen Glauben habe, alle die Liebe, die er verdient, werde ihm zu teil werden.

»Ich werde später von mir hören lassen, wie und wo ich bin; den nötigen Reisebedarf führe ich in meinem Handkoffer mit. Der eine meiner Hüte, mit den Blumen (deren einziger Zweck war, Sie für jene unsere erste Begegnung nochmals um Verzeihung zu bitten), blieb bei Ihnen stehn; ich brauche ihn nicht, ich reise mit dem andern. Es ist heute Sonnabend, der Wirt unseres Hotels wird Ihnen die Wochenrechnung überreichen; wollen Sie sie meinem Bruder geben, daß er sie bezahle. Und nun leben Sie wohl, – und Gott gebe Ihnen und meinem Bruder gute Gedanken.

Hochachtungsvoll
ergebenst

der durch Sie glückliche Vater Judicas.«


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