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IV.

Die Leibschwaben hatten im Papageienzimmer abgetafelt; Frau Ritter war verschwunden, niemand gab acht, wohin. Die vier jungen Männer – denn Risotto war noch nicht zurück – saßen fest auf ihren Stühlen, und da sie nicht mehr aßen, desto eifriger trinkend, setzten sie ihre Gespräche, die ihrer Natur und ihrer Behandlungsweise nach endlos waren, mit wachsenden Stimmen fort. Sie hatten sich des gemeinsamen und geordneten Disputierens bald entschlagen, da es Bedürfnis der jungen Deutschen ist, alle zugleich zu sprechen, und waren in Gruppen von je zwei zerfallen: Rudolf (zukünftiger Ingenieur) stritt mit dem einen der jungen Architekten über die beste Form und Ausrüstung der Schlittschuhe, Franz (der andere Architekt) mit Frivolin über die Berechtigung des Nackten in der Malerei. Indessen saßen sie ungünstig verteilt: sie stritten über Kreuz, die kämpfenden Paare durch den großen Tisch getrennt, und die Schwierigkeit, sich einander verständlich zu machen, wuchs um so rascher, je unausbleiblicher jeder Verstärkung einer Stimme die Verstärkung der Querstimme folgte. Man sah durch den blauen Dampf von vier Zigarren vier durch die Anstrengung gerötete Gesichter, denen in rascher Abwechslung vier Tonwellen entflossen, die sich ungefähr in der Mitte des Tisches wütend bekämpften. Pittacus, der Papagei, saß auf seiner Stange; er schien durch den Lärm der Stimmen allmählich in Aufregung zu geraten, aber er schwieg noch, zerbiß eine Visitenkarte, die ihm Frivolin in sein Gitter gesteckt hatte, und wiegte sich von Zeit zu Zeit unruhig hin und her.

– – »Riemen! Veraltet! So wenig Riemen wie möglich!« rief Rudolf seinem Architekten hinüber. »Wir haben an diesen verdammten überflüssigen Riemen lange genug zu laborieren gehabt!«

– – »Keine Leda mit dem Schwan? Und warum nicht?« (Es war Frivolins Stimme.) »Warum sollte ich keine Leda mit dem Schwan mehr malen –«

– – »Indem ich behaupte« (rief der junge Architekt gegen Rudolf), »daß jede Dame auf diese Weise zu Fall kommen wird!«

– – »Nun, dann male sie, wie du willst!« (Franz, sich gegen Frivolin vorbeugend, drang mit aller Kraft seiner Stimme auf einige Augenblicke durch.) »Male sie, wie du willst! Aber für dich! Sie öffentlich ausstellen – nein! Heutzutage nicht mehr!«

– – »Und überhaupt, was sollen diese Frauenzimmer auf dem Eise? Dahin gehört der Mann! Die wahre, echte Kunst lernt nur der Mann!«

– – »Nein! Ein schönes Weib ist schön; und das Schöne ist Kunst! Und hundertmal, mit hundert Schwänen, werde ich sie ausstellen, mein Lieber, splitterfasernackt –«

– – »Schnürstiefel, weiter nichts! Schnürstiefel das einzige! Ohne Schnürstiefel keine Haltung, keine Sicherheit!«

– – »Das heißt die Kunst herabwürdigen!« schrie Franz. »Und so eine Entweihung es wäre, der melischen Venus die Sandalen herunterzuziehen –«

– – »Schnürstiefel? Weg mit den Schnürstiefeln; wir brauchen sie nicht! Wer ein rechter Kerl ist, läuft auch ohne sie!«

– – »Die melische Venus? Und wenn ich ihr die Schnürstiefel hundertmal herunterzöge – die Sandalen, wollte ich sagen – – Man versteht sein eigenes Wort nicht mehr!« brüllte Frivolin.

Der Architekt, Rudolfs Gegner, schlug auf den Tisch: »Und wer ohne Sandalen läuft, versteht nichts von der Sache!«

»Ohne Sandalen? Was heißt das! Von Schnürstiefeln war die Rede –«

»Hundert Millionen Schnürstiefel und Sandalen!« rief Franz mit dem Humor der Verzweiflung und mit einer fürchterlichen Stimme aus, »wenn ihr alle durcheinanderschreit, so hört die Verständigung auf!«

»Verständigung? Mit dir werde ich mich nie verständigen!« rief Frivolin.

»Wer sprach von Sandalen?« schrie Rudolf dazwischen.

»Wer sprach von Schnürstiefeln?« fragte Franz zurück.

»Meine Herren!« rief Rudolf, und schlug nun auch seinerseits – doch nicht mit der Faust, sondern mit einem Lineal – auf den Tisch. »Ich werde wahnsinnig! Wechseln wir die Plätze – oder debattieren wir auf irgend eine menschenähnliche Weise!«

»Parlamentarische Debatte!« rief Franz aus. »Präsident! Einer hat das Wort!«

»Gut!« sagte Frivolin mit schon heiserer Stimme; »ich bin Präsident!«

Rudolf, der Ingenieur, schüttelte den Kopf. Sein ganzes Gesicht fing an zu lachen; zum Zeichen, daß er sogleich einen Witz machen werde. »Wir haben hier einen besseren Präsidenten, der jedenfalls bei der Stange bleiben wird. Ich schlage den außerordentlichen Professor, den weisen Pittacus, zum Präsidenten vor!«

Die Bauakademiker lachten; nachdem zuerst Rudolf selber gelacht hatte. »Ein Gedanke! – Der unparteiische, weise Pittacus präsidiere! – Akklamation!« riefen sie durcheinander.

In einigen Augenblicken hatten sie den Käfig, der auf einem beweglichen Postament ruhte, an ihre Tafel herangerollt, und forderten den Papagei nun mit possenhaften Geberden und Worten auf, den Vorsitz in ihrer Versammlung zu übernehmen. Man stellte ein gefülltes Glas vor ihn auf den Tisch, und legte vom Nachtisch Mandeln und Traubenrosinen hinzu. »Worüber stritten wir noch?« fragte Rudolf.

»Über Leda und die Schlittschuhe,« antwortete Franz.

»Ich bitte ums Wort!« sagte Frivolin, der seit der beschämenden Rede, die der Professor ihm gehalten hatte, seine persönliche Würde durch aufgeregte Heiterkeit und starke Aussprüche zu behaupten suchte. »Präsident Pittacus, ich bitte ums Wort!«

Der kluge Vogel, der in diesem Zimmer schon manche parlamentarische Debatte mit angehört hatte, antwortete zum unermeßlichen Jubel der jungen Männer, mit höchstem Ernst, völlig regelrecht: »Du hast das Wort.«

»Ein Genie! Der Kerl ist ein Genie!« rief Rudolf aus.

»Man muß ihn veröffentlichen! Er gehört der Wissenschaft an!« rief der jüngere Architekt.

»Man führe Protokoll über alles, was der weise Pittacus spricht!« setzte Franz hinzu.

Frivolin stand auf. Er blickte ungeduldig um sich her. »Angenommen also« – fing er an – »ich wollte der melischen Venus die Sandalen und so weiter herunterziehen und sie einmal mit dem Schwan malen –«

 

»Ach was! Nichts mehr von Sandalen!« warf Franz dazwischen.

»Mir ›schwant‹ Unheil!« rief der andere Architekt.

»Wenn du die melische Venus entsandalisieren wolltest, würde man sich sehr darüber skandalisieren!« rief Rudolf und lachte.

»Meine Herren!« schrie Frivolin, »wer ist am Wort? Ich appelliere an den Präsidenten! Ich habe das Wort!«

»Du hast das Wort,« wiederholte der Papagei mechanisch mit seiner schnarrenden Stimme.

»Hört! hört!« rief Frivolin aus. »Dieser Pittacus ist gescheiter als mehrere von uns! – Ich habe also das Wort. Ist die melische Venus ehrwürdiger als die Wahrheit? Das kann sie nicht sein. Also sie ist es nicht. Wie lieben wir die Wahrheit? Wir lieben die nackte Wahrheit. Wir lieben es, daß die Wahrheit enthüllt wird. Wenn mir also einer daher kommen will und sagen: mein Lieber, enthülle mir diese würdevolle melische Venus nicht – so schlage ich einfach auf den Tisch –«

Er schlug allerdings auf den Tisch; aber das ganze Gebäude seiner Logik aufzuführen, war ihm nicht vergönnt. Die Tür ihm gerade gegenüber ging auf, und ein Mädchen, ein kleines Geschöpf von sechs oder sieben Jahren, trat mit höchst neugierigem Ausdruck des kecken, altklugen Gesichts herein. Sie hatte sich einen ihrer beiden Zöpfe aufgelöst, so daß ihr das Haar sehr verwildert über die Schulter hing; auch war ihre kleine zerknitterte Halskrause in bedauernswerter Verfassung. Die weniger zierliche als drollige Gestalt hüpfte mehr, als sie ging, und kam an den Tisch, wie wenn sie hierher gehörte.

»Judica! Judica!« riefen die jungen Leute, »Kleine Judica, wo hast du so lange gesteckt?« rief Franz ihr zu. »Setz dich zu deinen alten Kameraden, hierher an den Tisch.«

»Schenkt ihr ein! Schenkt ihr ein!«

»Einen Stuhl für Judica neben Pittacus!«

Frivolin richtete sich auf. »Meine Herren!« fing er wieder an; »so sehr ich dieses kleine Fräulein schätze – wir sind hier nicht, um mit weiblichen Kindern zu tändeln, sondern um über die Berechtigung des Nackten in der Kunst parlamentarisch zu streiten. Ich hatte das Wort –«

»Ein anderes Thema!« rief Franz. »Judica ist unser Gast; ein etwas kindlicheres Thema!«

Rudolfs Gesicht begann wieder zu lachen. »Ich judiziere,« rief er aus, »daß Judica Präsident werde!«

»Bravo! Gut! – Judica Präsident!«

»Man nehme sie mitsamt ihrem Stuhl und setze sie obenan!«

»Ich bemerke,« rief Frivolin (immer heiserer) dazwischen, »daß wir den weisen Pittacus zum Präsidenten ernannt haben –«

»So ernennen wir nun die törichte Judica!« entgegnete Rudolfs volle Stentorstimme. »Judica präsidiert!«

Die Architekten wiederholten: »Judica präsidiert!«

Die Kleine saß bereits auf ihrem Ehrenplatz und blickte keck um sich her. »Ich kann sehr gut präsidieren,« sagte sie. »Aber sprecht nun nicht mehr so viel dummes Zeug; ich will mit euch singen.«

»Auch das ist gut! Singen ist gut!« rief der jüngere Architekt, und trommelte vor Behagen auf den Tisch.

Alsbald stand Rudolf auf, nahm einer männlichen Büste unter Lebensgröße, die auf einem der Bücherschränke stand, einen alten, vergilbten, bestaubten Kranz von dem kahlen Scheitel, und setzte ihn Judica auf. »Mir ist, als sollten wir den Rundgesang singen,« setzte er dann hinzu.

»Ja, euren alten dummen Rundgesang!« sagte Judica vergnügt.

»Große und kleine Kinder!« warf der um seine Rede betrogene Frivolin geringschätzig hin; lehnte sich in seinen Stuhl zurück und fing vor Ärger an, heftiger zu trinken. Die andern sangen. Das Metall ihrer Kehlen war zwar schon um mehr als die Hälfte herabgeschmolzen; aber sie nahmen, nach der Gewohnheit der Jugend, ihre Lustigkeit für Musik. Der Rundgesang ging um den Tisch. Judicas sonderbare, unmelodische Stimme krähte mit wie ein junger Hahn. Endlich sprang Rudolf auf, erhob sein Glas und sagte: »Herr Präsident, ich bitte um das Wort.«

»Der dicke Rudolf hat 's Wort!« entgegnete Judica.

»Ich habe das Wort. Es hilft alles nichts, ich muß ein Lied singen, das schönste und wahrste, das je gedichtet worden ist –«

»Wer hat es gedichtet?« fragte Franz.

»Ich. – Wer lacht? Ich, auf meiner großen Reise nach Frankreich; das heißt, ich mit Leopold zusammen – – Wo ist Leopold?«

Er sah um sich her, plötzlich verwundert, daß Leopold nicht da war.

»Leopold? Verschwunden,« antwortete Frivolin gleichgültig.

»Leopold? Er ist mit dem Professor fortgegangen,« sagte Franz.

»Er ist mit dem Professor fortgegangen,« wiederholte tiefsinnig der andere Architekt.

Rudolf nickte mit dem (schon etwas schweren) Kopf. »Gut! Er ist fort. Er sei fort. Wir haben damals dieses Lied, bei Burgunderwein, miteinander gedichtet, und es lautet:«

Er begann zu singen; doch so, daß er mehr sprach als sang, in einer komisch feierlichen Manier:

»Trinket den Wein
So lang' er noch rot ist!
Werfet das Geld weg
So lang' es noch Kot ist!
Lebt doch der Mensch nur
So lang' er nicht tot ist!«

»Das ist ein bißchen lustig!« sagte Judica, in die Hände klatschend. Wohl durch die roten Gesichter der Leibschwaben angeregt, sang sie dann selber mit possenhaftem Humor:

»Lebt doch der Mensch nur
So lang' er noch rot ist!«

»Ich bitte ums Wort,« sagte auf einmal Frivolin, der still vor sich hin fortgetrunken hatte, und stand wieder auf.

»Du hast das Wort!« erwiderten Judica und der Papagei zu gleicher Zeit.

»Wenn ich also den melischen Schwan – – ich wollte sagen: wenn ich die melische Venus –«

Franz stand gleichfalls auf und fiel ihm ins Wort. »Frivolin!« rief er aus, auf die Kleine blickend. »Bedenke, wo du bist und zu wem du sprichst!«

Indessen Frivolin, den seine Rede nun schon so lange bedrückte, ließ sich nicht mehr halten. »Wenn ich aus der melischen Venus eine Leda mache,« fing er wieder an –

»Zum Teufel mit deiner Leda!« unterbrach ihn Rudolf und schnellte in die Höhe. Auch der jüngere Architekt erhob sich, mit beiden aufgehobenen Händen protestierend. Alle vier standen; nur die kleine Judica saß noch und blickte die aufgeregten Jünglinge verwundert an.

»Wenn ich diese melische Leda,« fuhr Frivolin unerschüttert fort, »dann von einem graziösen Schwan liebkosen lasse – in edler, malerisch schöner Stellung –«

»Halt's Maul!« rief Rudolf aus, den sein Zorn übermannte.

»So ist das alles schön, schön, und weiter nichts!« schrie Frivolin mit dem Rest seiner Stimme. »Und wenn die heilige Jungfrau nackt am schönsten ist, so male ich sie, wie Michel Angelo, nackt! Und wenn es ein edles und malerisches Vergnügen ist – –«

Es stand geschrieben, daß Frivolin seine Rede nicht beenden sollte. Denn in diesem Augenblick unterbrach ihn Franz, der plötzlich heftig errötet war, mit Gewalt, indem er ihn am Arm herumdrehte und auf eine junge Dame aufmerksam machte, die mitten im Zimmer stand. Diese junge Dame, in einem dunkelgrauen Reisekleid, über das sie ein schwarzes Mäntelchen geworfen hatte, ein einfaches Hütchen auf dem braunen Haar, schien schon früher eingetreten zu sein, ohne daß die jungen Männer sie bemerkt hatten; wenigstens warf sie sehr befremdete Blicke von Judica auf die jungen Männer, von den jungen Männern auf Judica, und ließ ihre braunen Augen mit einem solchen Ausdruck auf Frivolin ruhen, daß es ihn, durch die Nebel seines Gehirns hindurch, lebhaft verwirrte. Etwas weiter zurück stand der Riese Risotto, mit Schirmen, Reisedecken, Handtäschchen bepackt. Er bemühte sich schon eine Weile, seinen Kameraden über die schlanke Dame hinweg Zeichen zu machen, daß sie diese Unterhaltung abbrechen sollten; doch da er keine Hand frei hatte, sah er sich darauf beschränkt, fürchterliche und unverständliche Gesichter zu schneiden.

»Die Nichte!« flüsterte Franz.

Rudolf nickte verlegen und wiederholte: »Die Nichte.«

»Hier wären wir nun also, Fräulein Ritter!« sagte Risotto mit seinem gutmütigsten Lächeln, um die verlegene Stille zu unterbrechen.

»Ja, hier wären wir,« entgegnete das Fräulein in einem ganz eigenen Ton (übrigens mit einer sehr angenehmen Stimme) und blickte hin und her. Die Flaschen und Gläser, die erhitzten Jünglinge, die lästerlichen Reden, die kleine Judica mitten unter diesen Jünglingen, der staubige alte Lorbeerkranz auf ihrem Kopf, der Papagei, der nun auf einmal mitzusprechen anfing, – diese Fülle von unvermuteten Erscheinungen nahm ihr etwas die Fassung. Sie sah nach allen Türen, als erwarte und wünsche sie sehr, irgend einen Menschen eintreten zu sehen, der mehr Vertrauen erwecke. Doch da niemand erschien, wandte sie sich endlich an Franz, der schon eine Weile Miene machte, sie anzureden, und nur noch an seiner Krawatte zupfte. »Entschuldigen Sie, mein Herr,« sagte sie mit reizender Überlegenheit. »Wohnt hier denn eigentlich der Herr Professor ..., oder nicht?«

»O ja, er wohnt hier,« antwortete Franz; »gewiß.«

»Freilich wohnt er hier,« bestätigte Risotto.

»Es scheint aber nicht, daß er zu Hause ist!« sagte das Fräulein, mit einem neuen kritischen Blick über die Gesellschaft.

»Ich bedaure sehr: er ist ausgegangen,« erwiderte Franz.

Rudolf trat etwas vor, um gleichfalls zu erwidern: »Ja, er ist ausgegangen.«

»Mit Leopold,« setzte der jüngere Architekt hinzu; doch hinterdrein errötete er lebhaft, indem er sich sagte, die Dame werde nicht wissen, wer Leopold sei.

»Und der Bruder des Herrn Professors?« fragte das Fräulein.

Die jungen Männer zuckten mit den Achseln.

»Man weiß nie, wo der ist,« fügte Risotto zur Erklärung hinzu.

»Und Frau Ritter, meine Tante?«

»Ist sie nicht in der Küche?« fragte Rudolf zurück.

Risotto öffnete die Tür, die durch ein kleineres Zimmer zur Küche führte, warf einen Blick hinein und schüttelte den Kopf. »In der Küche ist sie nicht,« antwortete er.

»Also ist sie verschwunden,« sagte Franz.

»Ja, sie ist verschwunden,« wiederholte der andere Architekt.

»Spurlos,« setzte Rudolf hinzu.

Das Fräulein konnte sich nicht enthalten, halblaut vor sich hin zu sagen: »Ein unglaublicher Zustand!« Ihre braunen Augen gingen aufgeregter umher; die kleinen, grau behandschuhten Hände ballten sich; ohne Zweifel vor Verdruß, vor Empörung. Sie ging nach dem Fenster zu und blickte hinaus; dann wieder ins Zimmer zurück. Plötzlich nahm ihr lebhaftes, geistreiches Gesichtchen einen Ausdruck zwischen Lachen und Weinen an, als sie bemerkte, daß die sonderbare Gesellschaft sich mittlerweile schon um die Hälfte verringert hatte. Frivolin war verschwunden, er hatte sich, ohne einen Laut von sich zu geben, entfernt; Risotto war ihm, unter dem unausgesprochenen Vorwand, daß er die Sachen des Fräuleins ablegen müsse, gefolgt; und der jüngere Architekt schlich gerade in diesem Augenblick hinter Risotto her. Das Lachen auf dem Gesicht der jungen Dame siegte. Mit resolutem Humor lehnte sie sich gegen die Fensterwand zurück, kreuzte die Arme, und schien nun ruhig erwarten zu wollen, wie dies enden werde.

»Wenn ich Ihnen mit irgend etwas dienen könnte –!« sagte Franz nach einer langen Pause.

»Ich danke,« erwiderte sie. »Mir fehlt nichts.«

»Aber ein Stuhl –«

»Auch nicht ein Stuhl. Ich stehe hier sehr gut.«

Unterdessen stand die kleine Judica mitten im Zimmer und starrte ihre zukünftige Erzieherin wie eine nicht uninteressante, aber etwas unheimliche Erscheinung an, ohne sich zu rühren. Schleppende Schritte vom Küchenzimmer her machten das Kind auf einmal lebendig. Sie horchte. »Gott sei Dank!« sagte sie und holte erleichtert Atem, »da haben wir meinen Papa.«

»Ah – –!« sagte Franz. »Der Herr Pastor!«

»Der Bruder des Herrn Professors,« setzte Rudolf beruhigend und tröstend hinzu.

Pastor Philipp trat ein; nicht mehr in seinem dunkelgrauen Schlafrock, sondern zum Ausgehen gerüstet, den Hut in der großen Hand; übrigens so trüben und verstörten Angesichts, wie der ehrliche Mann sich eine verlorene Seele am Tag des jüngsten Gerichtes vorstellen mochte. Es tat dieser schmerzlichen Erscheinung keinen Abbruch, daß der Kragen seines Oberrocks nur zur Hälfte niedergeschlagen war und daß der Henkel emporstand. Auch war das lange Haar ein wenig in Verwirrung geraten und zum Teil den Ohren entronnen, hinter die es gehörte; und so stand die lange schwarze Gestalt etwas verwildert da. Was ihn nun vollends verwirrte, war der Anblick der jungen Dame an der Fensterwand. Seine grauen Augen starrten mit einem verzweifelt ungewissen Ausdruck auf sie hin, und er machte eine unwillkürliche Bewegung, wieder umzukehren, die aber schon im ersten unklaren Versuch erstarb.

»Du!« flüsterte Rudolf neben Franzens Ohr: »jetzt könnten wir auch stille verduften; wie?«

»Tun wir's,« flüsterte Franz.

Das Fräulein konnte sich einbilden, geträumt zu haben: so geräuschlos war die stürmische Erscheinung der Leibschwaben wieder verschwunden. Nur die leeren Flaschen und Gläser, der Papagei, Judica, und – wie der Anfang eines neuen Traums – die unwahrscheinliche Gestalt des Pastors Philipp blieben ihr zurück.

»Fräulein – Fräulein Ritter, nicht wahr?« sagte Philipp verstört.

»Ich bin so frei,« antwortete sie mit einer leichten Verbeugung.

»Die Erzieherin – – die Erzieherin meiner Tochter, nicht wahr?«

»Ich habe die Ehre.«

 

Der unglückliche Philipp, der diesen Abend am liebsten in einer menschenleeren Wüste zugebracht hätte (und dem es aus freien Stücken nie eingefallen wäre, eine fremde junge Dame in sein Haus zu nehmen), antwortete, um etwas zu sagen: »Ja, Sie – Sie haben die Ehre. Allerdings. Das heißt –«

»Das heißt?« fragte sie höchst erstaunt.

»Ich wollte sagen,« stammelte er, seinen Hut leise hin und her schwenkend: »ich reise morgen früh ab. Ich und meine Tochter –«

Er blickte nach Judica. Das Mädchen war fort. Sie war den Leibschwaben leise nachgeschlichen.

»Sie reisen morgen früh ab?«

»Wenn Sie erlauben – ja.«

»Nun, und ich –?« fragte das Fräulein.

»Ja, und Sie –!« gab der Pastor zurück, und sah ihr hilflos fragend ins Gesicht, wie wenn er von ihr die Antwort darauf erwarte. »Es ist« – setzte er endlich hinzu – »es ist eine sonderbare, verzwickte Geschichte.«

»Ja, es scheint so, mein Herr!«

»Die Gründe, die mich bestimmen, von hier fortzugehen –« (Sein Hut fiel ihm zur Erde; doch mit einer raschen Bewegung hob er ihn wieder auf und drückte ihn gegen seinen eingefallenen Leib.) »Nämlich, wenn Sie meinen Bruder kennten – – aber Sie kennen ihn wohl noch nicht.«

»Nein,« sagte sie, und sah ihn immer verwunderter von oben bis unten an. Es begann ihr in diesem Hause unheimlich zu werden. »Wenn ich fragen darf,« fiel sie ihm in die Rede: »wo bleibt meine Tante?«

»Ihre Tante? Hat sie Sie nicht am Bahnhof empfangen?«

»O nein. Keineswegs.«

»Merkwürdig! Sonderbar! Sie wollte doch noch hinaus – und sie fragte mich doch noch, welcher Bahnhof es sei – und ich sagte ihr –«

»Sie sagten ihr –«

»Nun, der Stettiner Bahnhof, sagte ich ihr –«

»Ah!« rief das Fräulein aus. »Da wartet sie denn wohl noch jetzt!«

»Wieso –«

»Weil ich auf dem Frankfurter Bahnhof angekommen bin – wie ich dem Herrn Professor geschrieben hatte – und wie die Geographie es von mir verlangte.«

Pastor Philipp lächelte bestürzt. »Merkwürdig –! Son –«

»Sonderbar!« setzte sie mit ihrem Galgenhumor ergänzend hinzu.

Bei diesem Wort, dessen Ironie er dunkel empfand, überkam den unglücklichen Pastor ein Gefühl der Vernichtung, das ihm die letzte Kraft nahm, unter Menschen ein Mensch zu sein. Indem er seinen Hut in die andere Hand drückte, murmelte er plötzlich, halbverständlich: »Sie erlauben – – Geschäfte – – daß ich mich entferne.«

Er wollte zur Tür.

»Ich bitte um Vergebung!« rief das Fräulein ihm nach; das Blut schoß ihr ins Gesicht. »Wollen Sie mir wenigstens noch sagen, mein Herr, was dies alles bedeutet? Ich komme her, weil man mich herbestellt; ich finde keine Tante, keinen Hausherrn, dagegen eine Art von – von Bacchanal; ich finde das Kind, das ich erziehen soll, in der – merkwürdigsten und sonderbarsten Gesellschaft; ich finde endlich Sie, und Sie sagen mir, daß Sie morgen früh mit diesem Kind davonreisen –«

»Aus Gründen – leider – ja –«, stammelte Pastor Philipp.

»Und Sie geben mir dunkel zu verstehen, daß ich gleichzeitig überflüssig geworden bin; doch das Warum überlassen Sie mir zu erraten; und nachdem Sie die Güte gehabt haben, mich in diese unbeschreibliche Situation zu versetzen, teilen Sie mir mit, daß Sie sich entfernen!«

»O nein – wenn Sie wünschen, daß ich bleibe –«

»Ich wünsche nicht, daß Sie bleiben,« fuhr das Fräulein von neuem errötend fort; »aber ganz im allgemeinen wünsche ich, daß man mich über diesen Zustand ein wenig aufklärt – und daß man mich ungefähr wie einen Menschen behandelt – –«

Sie brach ab; denn sie hörte Tritte, Bewegungen, und sah eine Gestalt in der offenen Tür.

»Ah!« sagte sie aufatmend. Und unwillkürlich murmelte sie vor sich hin: »Endlich kommt ein Mensch!«


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