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II.

Professor Fridolin – diesen Namen, den seine Freunde ihm gegeben, den die Welt sich angeeignet hatte, denke ich ihm zu lassen – Professor Fridolin hatte die Sitte bei sich eingeführt, seine Lieblingsschüler von den drei Akademien, an denen er Kunstgeschichte lehrte, an einem Abend jeder Woche einzuladen und nach den »Gesetzen des Hauses« (wie sie nach und nach durch zahlreiche ungeschriebene Kompromisse mit Frau Ritter festgestellt worden waren) zu bewirten. Doch da er sich im letzten Jahr gewöhnt hatte, mit Vorliebe Abends und in die Nacht zu arbeiten, und da er weder dieser Gewohnheit, noch jener geheiligten Sitte entsagen wollte, so hatte er zwischen beiden gleichsam ein Abkommen getroffen: seine Jünger – oder die »Leibschwaben«, wie man sie zu nennen pflegte – fanden ihre Tafel im Papageienzimmer gedeckt, während der Professor in seinem Allerheiligsten saß, studierte und schrieb. Es wäre eine Untat wie Tempelraub gewesen, ihn in diesem Asyl zu stören; aber es war ihr Recht, »mit edler Mäßigung« laut und lustig zu sein, und von Zeit zu Zeit erschien der »Meister« in der Tür, um eines seiner blühenden Scherzworte unter sie zu werfen, oder einen ins Unmögliche hinaufgekletterten ästhetischen Streit durch ein weises Wort auf den Boden der Wirklichkeit zurückzurufen.

Es waren ihrer fünf, die an diesem Abend – anderthalb Stunden, nachdem der Pastor seinen kummervollen Brief geschrieben hatte – die drei Treppen zu Fridolins »Turmwohnung« erstiegen, unterwegs alle Echos des Treppenhauses durch eine leidenschaftliche Debatte über die Vorzüge der Malerei vor der Skulptur in Aufruhr bringend. Sie klingelten; Frau Ritter selber öffnete ihnen die Tür und lächelte sie an. Es war das angenehme mütterliche Lächeln, mit dem sie jeden (ehemaligen oder gegenwärtigen) Leibschwaben ihres Professors zu begrüßen pflegte; denn wiewohl ihr eigentliches Lebensgefühl das Gefühl der Verehrung für Professor Fridolin war, den sie für den außerordentlichsten aller Menschen hielt, so hatte sie doch zu viel Macht und Würde neben ihm gewonnen, um nicht auf die Jünglinge, denen er geistiger Vater war, mit einem gewissen Mutterblick herabzusehn. Sie hatte überdies drei Säulen, an denen ihr Selbstgefühl sich emporrankte: die Zeit ihrer Mädchenschönheit (o ferne Zeit!), in der sie von Malern und Bildhauern bewundert, und auf geschenkten Parkettsitzen durch Ludwig Devrients »scheniales« Spiel begeistert worden war; und ihre mittelbare Nachkommenschaft, die Kinder ihres »studierten« Bruders: einen Neffen (die zweite Säule) und eine Nichte (die dritte); zwei Menschen, von denen sie so Großes und Hoffnungsvolles zu sagen wußte, daß der Professor sich endlich entschlossen hatte, die Nichte – obwohl noch niemand sie gesehen – als Versuchserzieherin für Judica in sein Haus zu berufen. Seitdem ihr dieser Entschluß in feierlicher Sitzung, nämlich in Gegenwart des Pastors und seiner Tochter, mitgeteilt worden war, hatte Frau Ritters Lächeln, nach der Behauptung der »Leibschwaben«, einen noch mütterlicheren Charakter angenommen; und es erreichte heute den Zenith der Mütterlichkeit, da der Abend gekommen war, an dem diese hoffnungsvolle Nichte das erwartungsvolle Haus betreten sollte.

»Guten Abend, Tante Ritter!« (niemand von ihnen nannte sie anders) sagte der vorderste der fünf, und hängte seinen Überzieher, den er in jugendlicher Ungeduld schon auf der Treppe ausgezogen hatte, an den großen Kleiderriegel, der den Vorplatz verengte. »Ist der Herr Professor schon aus der Vorlesung zurück?«

»Ich hab' ihn geräuchert,« erwiderte Frau Ritter, »und hab' ihn nachlegen lassen; er ist aber noch nicht zurück.«

»Sie werden täglich schöner, majestätischer, Tante Ritter!« sagte der zweite, der kleinste, und küßte ihr mit übermütiger Galanterie die Hand.

Es erfolgte hierauf ein leichter Klaps auf die Hand, mit der er die ihre ergriffen hatte. »Und Sie werden wohl nie was anderes werden, als was Sie sind,« erwiderte Tante Ritter; »und man wird Ihnen höchstens zum Professor der Allotria machen.«

»Geben Sie uns heute warmen oder kalten Braten, Tante Ritter?« fragte der dritte. »Es ist ja der große Tag, an dem Ihre große Nichte einziehen soll.«

»Ist sie sehr hübsch, die Nichte?« fragte der zweite wieder, der den Charakter als Don Juan unter den Leibschwaben (sie nannten ihn »Frivolin«) angenommen hatte.

»Singt sie?« fragte der vierte.

»Ist ihre Erscheinung mehr malerisch oder mehr plastisch?« fragte der fünfte, und lachte; da er die Eigenschaft vieler Menschen hatte, über seine Witze sogleich nach ihrer Geburt herzlich zu lachen.

»Wie ist ihre Architektur?« setzte der erste hinzu.

»Sie sind alle gottloses Volk, und mein kalter Braten verbrennt,« antwortete Frau Ritter; worauf sie mit ihren sanften Schritten vom Vorplatz in die Küche entschwebte.

Die jungen Männer traten lachend und singend in das Papageienzimmer ein, in dem der Tisch schon gedeckt stand. Der »außerordentliche Professor«, oder »der weise Pittacus« – wie sie diesen psittacus erythacus (rotschwänziger Papagei) umgetauft hatten – saß bewegungslos auf der oberen Stange, hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Aber aus dem Nebenzimmer, dem »Allerheiligsten« Fridolins, ertönte eine Art von Gesang; eine rauhe, kaum mehr melodische Tonfolge, die eine verunglückende Erinnerung an ein bekanntes Schubertsches Lied zu sein schien. Die Leibschwaben horchten. »Wäre das Pastor Philippus?« fragte der eine halblaut.

»Das ist nicht die hohle Grabesstimme des Pastors Philippus,« erwiderte »Frivolin«; »nie singt ein Pastor so falsch. Das ist eine Naturerscheinung, die man näher erforschen muß.«

Er öffnete die Tür.

Auf Fridolins Bett, über die türkische Decke, die es verhüllte, hatte sich mit auffallender Vertraulichkeit ein junger Mann mit langen Beinen hingestreckt, hielt eine bläulich rauchende Zigarre von sich ab, und sang jene von sich selbst verlassene Melodie vor sich hin. Der schwarze Hut, den er noch auf dem Kopfe trug, war ihm über die Stirn und über die Augen gesunken; man konnte von seinem Gesicht nur die ins Römische spielende Nase, ein Stück vom Kinn und das Profil seiner Lippen sehn. Aber um den bartlosen Mund regte sich, sobald er zu singen aufhörte, ein so besonderer, fein ironischer Zug, daß er den Eigentümer der über ihm gewölbten Nase, gleichsam wie ein steckbrieflich beschriebenes besonderes Merkmal, verriet. Der kleine »Frivolin« richtete sich hoch auf und rief aus: »Mensch, du bist Leopold!«

Der junge Mann auf dem Bett erhob sich, ohne etwas zu erwidern. Er setzte sich auf die Kante, betrachtete die fünf, die in den verengten Raum wie im Gänsemarsch hintereinander eintraten, und stand dann, als auch der letzte die Tür hinter sich hatte, lang und langsam auf. Ein nicht unliebenswürdig sarkastisches Lächeln überflog sein Gesicht. Er ließ sich Zeit, ehe er die Gesellschaft anders als mit diesem Lächeln begrüßte. Seinen Hut zurückschiebend, so daß die stark ausgearbeitete Stirn sichtbar ward, führte er den scharfen, gewohnheitsmäßig beobachtenden Blick seiner grauen Augen noch einmal von einem zum andern, und ein Ausdruck unwillkürlicher Überlegenheit blieb eine Weile in seinen Zügen stehn. Bis er endlich, vor sich hinnickend, den Mund öffnete und sagte: »Es ist merkwürdig. Ihr seht alle noch auf den Buchstaben genau so aus, wie vor einem Jahr. Guten Abend, ihr Männer!«

»Hast denn du dich verändert?« gab der kleine Frivolin, etwas empfindlich, zurück. »Doch ja, er hat sich verändert. Seht, er trägt sich nach der neuesten Mode. Er hat sich seinem Schneider untergeordnet. Er trägt einen Zylinder und Lackstiefel. Wenn ich fragen darf, Leopold, wann bekommt man denn deine Hand?«

»Hier sind alle beide,« erwiderte Leopold lächelnd; »empfindlicher junger Mann! Ich machte mir nur erst das Vergnügen, euch ein wenig zu betrachten, – als Naturforscher, der ich bin. Ihr Kunstforscher habt euch allerdings, wie man sehen kann, die Freiheit von der Mode und die souveräne Herrschaft über den Schneider erhalten. Eure gesinnungsvollen Halsbinden, eure überzeugungstreuen Westenformate – noch dieselben wie vor einem Jahr! Ihr wart standhafter als ich. Ja, ja. Diese Hemdkragen; unternehmend und doch edel. Mich hat die Welt so weit heruntergebracht, daß ich, ohne vor Scham zu erröten, aussehe wie jedermann. Der Schneider denkt, und ich ziehe seine Gedanken an; Teilung der Arbeit; das moderne Prinzip. Guten Abend, Risotto! ›Deine blauen Augen schauen immer noch zum Himmelslicht.‹ Ich sehe, du hast noch alle deine Ideale.«

Der Jüngling mit den sanften, blauen Augen, den Leopold so begrüßte, war ein Hüne von Gestalt, dem man deshalb das Beiwort »Riese« noch durch die vergrößernde italienische Endung »otto« verstärkt hatte; doch war dabei das minder ehrenvolle »Risotto« herausgekommen.

Risotto errötete nach seiner Gewohnheit; dann erwiderte er mit seiner zarten Stimme, die aus dem Munde eines solchen Riesen jedesmal überraschte: »Ich hoffe, du bist von unsern Idealen nicht abgefallen, – wenn du auch nach deinem Beruf nicht mehr zu uns gehörst.«

»Ich gehörte nie zu euch,« entgegnete Leopold. »Es war nur eine Grille von mir, ein Jahr lang Kunst zu naschen, eh' ich mich ganz darauf warf, die Natur zu verdauen.«

»Wie du das wieder ausdrückst!« sagte Risotto, der abermals – diesmal aber vor Unwillen – errötete. »Ein ideales Streben, das du hattest, so zur ›Grille‹ zu machen!«

»Ich liebe die hohen Worte nicht,« antwortete Leopold mit etwas altkluger Kälte.

»Du hast Fridolin noch nicht gesehn?« fragte der kleine Frivolin.

»Nein. Ich erwartete ihn.«

»Du willst hier mit uns zu Abend essen?«

»Ich denke.«

»Wie ich höre,« fuhr Frivolin mit wichtiger werdendem Gesichtsausdruck fort, »bist du Darwinist.«

»Ich bin Darwinist.«

»Entwicklungstheorie?«

»Entwicklungstheorie.«

Leopold schwur bei sich im stillen, daß dieses Wort »Entwicklungstheorie« ungefähr alles sei, was Frivolin davon wisse; er unterdrückte aber diesmal die Ironie seiner Mundwinkel und schwieg.

»Entwicklungstheorie,« wiederholte Risotto mit einem Ton, in dem er einen schmerzlichen Vorwurf und ein sanftes Bedauern zusammenmischte. »Du hattest früher, mit uns, ein – wie soll ich sagen – eine höhere, eine philosophische Weltanschauung.«

»Damals war ich ein Narr!«

Auf diese kurze Antwort entstand eine Pause. Die fünf Jünger der Kunst sahen einander an und schwiegen. Nur Frivolin, indem er langsam, gedankenvoll vor sich hinnickte, schien sich die Zustimmung zu dieser Ketzerei von einem höheren Standpunkt aus vorzubehalten.

Die peinliche Stille dauerte nicht lange. Die Stimme der Frau Ritter, dann die Fridolins ward vom Vorplatz vernehmbar. »Ist mein Leopold da!« rief er mit seinem herzlichen Pathos aus. Gleich darauf trat er in die Tür, und glänzende Freude in den Augen, die beiden Arme etwas feierlich ausbreitend, blieb er stehen und sagte:

»So steigst du denn, Erfüllung, schönste Tochter
Des größten Vaters, endlich zu mir nieder!«

Erst nachdem er diese Verse aus der »Iphigenie« mit schönster Betonung gesprochen, ging er auf den ihm entgegentretenden Leopold zu, schloß ihn in die Arme und küßte ihn auf den Mund.

»Und somit heiße ich dich willkommen!« setzte er dann hinzu. »Hast du Hunger oder Durst, so sage der Tante Ritter deine Wünsche. Und nun zuerst zu den Geschäften, ehe ich mich den Freuden des Wiedersehens widme!«

Er wandte sich zu den Leibschwaben, faßte zwei von ihnen ins Auge und den, der ihm zunächst stand, am Arm. »Du siehst hier diese Kommode,« sagte er.

»Ja, die sehe ich.«

»Diese Kommode ist für Fräulein Ottilie Ritter, die erwartete Nichte, auszuräumen. Ihr Inhalt besteht aus –«

»Papieren, Scharteken und Westen.«

»Ganz recht. Unterrichteter junger Mann! Es wird von euch beiden zukünftigen Architekten erwartet, daß ihr die Entleerung dieses Gebäudes in der nächsten Viertelstunde bewerkstelligt, und mit architektonischem Scharfsinn andere Räumlichkeiten für die ausgeräumten Papiere, Scharteken und Westen ausfindig macht. Dies

                                   sei der Beruf,
Wozu der Meister euch erschuf!
Denn wer sich seinen Hunger nicht verdient, verdient nicht, daß er ihn stille.«

Professor Fridolin sprach noch, als die jungen Männer schon vor der Kommode standen und knieten und ihre Schubladen leerten. Fridolin winkte nun Risotto zu sich heran (neben dem er selber klein und zierlich wurde); aber eh' er ihn anredete, warf er noch einen freudigen, zärtlichen Blick auf Leopold und sagte: »Wie ähnlich er seiner Mutter geworden ist! – Mein Sohn, seit wann bist du hier in Berlin?«

»Seit heute nachmittag.«

»Du hattest vermutlich deiner Mutter versprochen, ihr sogleich zu schreiben?«

»Ja.«

»Und hast es vermutlich noch nicht getan?«

Leopold schüttelte den Kopf.

»Aber du wünschest nicht ohne den Segen deiner Mutter durch das Leben zu gehn?«

»Eigentlich nicht!« erwiderte Leopold.

»So verdiene dir den Segen deiner Mutter, und damit dein Abendessen!« fuhr Fridolin fort; bot dem Jüngling seinen Arm und führte ihn mit heiterer Galanterie an den großen Schreibtisch. »Hier ist ein Stuhl« (er drückte ihn sanft darauf nieder), »hier eine Feder« (er gab sie ihm in die Hand) »und hier eine Korrespondenzkarte; eine große Erfindung für dieses verkommene Zeitalter! – Schreib. Wir grüßen die Fürstin Mutter,« setzte er mit der Handbewegung eines Fürsten hinzu.

Leopold lächelte und schrieb.

»Nun zu Ihnen, Risotto!« fing der Professor wieder an. »Ich hatte Ihnen den ehrenvollen Auftrag erteilt, die erwartete Nichte am Bahnhof zu empfangen und unter dem Schutz Ihrer Endlosigkeit in dieses Haus zu geleiten. Warum sind Sie hier, mein Sohn, und nicht auf dem Bahnhof?«

»Der Zug kommt erst um neun.«

»Wissen Sie das gewiß?«

»Ich glaube ganz bestimmt.«

»Was für eine wunderbare Bereicherung der Logik!« rief Fridolin aus; »ich glaube ganz bestimmt! Ich glaube, was ich nicht weiß; ›ich glaube ganz bestimmt‹ heißt also im gemeinen Deutsch: ›ich weiß ganz bestimmt‹ nicht. Mann der körperlichen Endlosigkeit und der geistigen Begrenzung« (Risotto errötete stark), »nehmen Sie Ihren Hut! Ich fürchte ganz bestimmt, Sie kommen sonst zu spät. Verdienen Sie sich Ihr Abendessen, indem Sie es erwarten; und glauben Sie ganz bestimmt, daß man es Ihnen aufheben wird.«

»Gut, ich gehe auf der Stelle,« erwiderte Risotto; »obgleich ich wirklich ganz bestimmt – –«

Leopold stand auf. »Ich habe geschrieben,« sagte er mit Genugtuung.

»Soll ich die Postkarte mitnehmen?« fragte Risotto.

»Sie dürfen sie mitnehmen,« antwortete Fridolin.

Der Riese streckte einen seiner mächtigen Arme aus und ergriff die Postkarte; Fridolin trat aber hinzu und nahm sie ihm wieder aus der Hand. »Zuerst die Frage, mein Sohn! Was tun Sie, wenn man Ihnen eine Karte, einen Brief anvertraut, mit der Aufgabe, ihn in den nächsten Briefkasten zu stecken?«

»Ich – ich nehme ihn.«

»Und dann?«

»Dann steck' ich ihn in die Tasche.«

»Beklagenswerter Irrtum! Hat die Tasche ein Gedächtnis? Nein. Erinnert sie dich an sich? Nein. Bist du sicher, daß der Brief nicht eine Woche, einen Monat, ein Vierteljahr in dieser Tasche verweilen wird? Nein. Was wirst du also tun? Antworten Sie, junger Mann! – Er versinkt in tiefes Schweigen. – Sie werden den Brief in der Hand behalten, bis Sie ihn dem zuverlässigeren Schlund des Briefkastens überantworten.«

»Sehr wahr!« entgegnete Risotto. Er nahm die Postkarte zwischen zwei Finger, lächelte wie ein großer, kluger Knabe, der etwas Neues gelernt hat, empfahl sich und ging.

»Mein teurer Rudolf!« sagte Fridolin, der sich nun an den vierten seiner Leibschwaben wandte, indem er von dem kleinen Schreibtisch, der nahe am Balkonfenster stand, einige bedruckte Blätter nahm: »du kennst diesen Korrekturbogen?«

»Ja. Ich hab' ihn gestern abend für dich gelesen –«

»Mit mir zusammen,« setzte Frivolin hinzu.

»Es kann kein Fehler mehr drin sein,« fuhr Rudolf fort (der junge Mann, der über seine Witze so herzlich lachte); »denn wir haben uns die furchtbarste Mühe gegeben –«

»Gemeinschaftlich,« setzte Frivolin hinzu.

»Dennoch hab' ich mir erlaubt,« entgegnete der Professor, »den Korrekturbogen noch selber nachzulesen; und es schmerzt mich, euch mitteilen zu müssen, daß ich, eurer furchtbaren Mühwaltung zum Trotz, zwei unentdeckt gebliebene Fehler gefunden habe. Hier, meine Freunde: dieses umgefallene u, und dieses ›Veränderung‹ statt ›Verwunderung‹. Es hatte einen Sinn, wenn ich schrieb: ›Zu seiner großen Verwunderung blieb alles genau wie es war.‹ Aber ich glaube, es wäre nicht gut, wenn ich geschrieben hätte: ›Zu seiner großen Veränderung blieb alles genau, wie es war.‹ Ich fürchte, Leser von schroffer Ausdrucksweise würden diesen Satz einen Unsinn nennen. Aus diesem Grunde hab' ich mir erlaubt, das Wort ›Verwunderung‹ wieder herzustellen.«

»Merkwürdig! Unglaublich!« sagte Rudolf, die Augen weit aufreißend, als könnten sie dadurch ihr Versehen noch nachträglich gut machen. »Wir haben doch alle beide –«

»Diese Seite, glaube ich, hab' ich nicht durchgesehn,« fiel Frivolin ihm ins Wort.

»Doch! grade diese!« erwiderte Rudolf entrüstet.

»Streitet nicht, junge Toren! Wer die Schuld von sich abwälzen will, wälzt sich damit noch eine zweite auf. Warum mute ich euch zu, so einen Korrekturbogen zu lesen? Sollt ihr eines Tages euer Brot in Leipzig oder Berlin als Korrektoren verdienen? Niemand kann das wünschen. Wozu also? Weil es eine nützliche Turnübung für eure Augen, für euer Gehirn ist. Weil es euch zwingt, mit Auge und Verstand zugleich bei einer Sache zu sein. Ihr hattet euch bereits überhoben, meine Freunde; verdient euch nun euer Abendessen dadurch, daß ihr euch ohne nutzlose Verwunderung dieser ›Veränderung‹ schämt!«

»Fridolin!« rief einer der beiden Bauakademiker von der Kommodenecke her, und kam dann mit einer dunkelgrünen Samtweste heran, die er beim Ausräumen aus einem großen Haufen von Westen ausgelesen hatte.

»Was wünschest du?« fragte Fridolin.

»Ich hab' noch nicht eine von deinen Westen geerbt,« sagte der junge Architekt. »Wenn du mir diese da vermachen wolltest!«

Fridolin betrachtete sie mit feierlichem Ernst. »Es ist eine meiner schönsten, stimmungsvollsten Westen,« sagte er dann. »Sie ist nach der Idee des Wamses gebaut.«

»Im Geiste dieser Idee würde ich sie tragen,« antwortete der Architekt.

»Wende sie herum!«

Der Architekt wendete sie herum.

»Sieh da hinten nach, ob sie schon eine Inschrift hat.«

Der Architekt untersuchte ihr Futter auf der Rückseite. »Hier steht noch nichts!« antwortete er.

»Gut! So sei es! Nimm eine Feder und schreib deinen Namen auf die Rückseite. Sobald ich diese Weste entlasse, ist sie dein.«

»Ich danke dir –«

»Still!«

Der zweite der Bauakademiker, der mittlerweile die Räumung der Kommode vollendet hatte, kam nun gleichfalls mit einer Weste angeschritten. »Herr Professor!« sagte er, und ergänzte seine Rede durch einen bittenden Blick.

Fridolin ließ sein Auge mit Wohlgefallen auf diesem Jüngling ruhen, dessen nicht schöner, aber charaktervoller Kopf für einen Menschen von Lebensernst, von tüchtiger, vielleicht auch idealer Sinnesart sprach. Er strich ihm leise über das dichte, braune Haar. »Legen Sie die Weste weg,« gab er dann zur Antwort. »Ich hab' für Sie einen andern Beweis meiner Freundschaft, Franz.«

Die Augen des jungen Mannes leuchteten. Die Leibschwaben traten alle heran, als errieten sie, was bevorstehe.

»Jene glücklichen Alten« – fuhr der Professor mit der ihm eigenen feierlichen Grazie fort – »jene glücklichen Griechen hatten vieles vor uns voraus; dieses eine haben wir vor ihnen: daß wir den Vorzug, den wir einzelnen Menschen geben, schon in der Form der Anrede seelenvoll ausdrücken können. Ich sage zu jedermann: Sie; ich sage zu Männern, die mir nähertreten, in heiteren Momenten: Ihr; ich sage zu Freunden: du. Warum beabsichtige ich nun auch zu Ihnen du zu sagen? Warum – lassen Sie mich zu Ende reden, Franz – warum will ich dir das Vorrecht erteilen, mein brüderliches Du zu erwidern? Weil durch deine Eigenschaften, deine Verdienste die Bruderschaft zwischen uns hergestellt ist, die ich keineswegs als ein allgemeines, angeborenes Menschenrecht, im Gegenteil als das letzte Resultat der Selbstveredlung, als den Lohn der wahren Menschwerdung betrachte. Gib mir deine Hand! Ich hab' dich beobachtet. Ich finde dich auf dem rechten Wege. In diesem einen laß mich dir zum Vorbild dienen: ich liebe keinen Menschen, eh' ich ihn achten gelernt habe; und ich fühle mich gezwungen, jeden zu lieben, der mir Achtung abnötigt. Umarmen wir uns! Also: Du.«

Dem guten Jungen, dem Franz, traten ein paar Tränen in die braunen Augen. Er wollte etwas sagen, stotterte dann aber nur, in seinen Tränen lachend: »Fridolin! Du!«

Fridolin küßte ihn noch einmal auf die Stirn; dann wandte er sich ab und sagte heiter: »Und so wären wir nun mit den Geschäften zu Ende.«

Sein Blick fiel indessen auf den kleinen Frivolin, der sich ihm in den Weg stellte, offenbar in einer Absicht, die er nicht in Worten auszudrücken wagte. Denn er sah nur mit ergänzenden Gebärden abwechselnd auf den Professor und auf den soeben zur Bruderschaft Berufenen, lächelte dann mit einem gewissen ungewissen Lächeln, sagte aber nichts.

Der Professor zog die Augenbrauen in die Höhe; zum Zeichen, daß er sogleich erriet, welches Verlangen sich in Frivolin regte. Er blieb stehen und sah ihn eine Weile gleichfalls schweigend an. Der Ausdruck unsicherer Keckheit und trotzigen Selbstvertrauens, der auf des Jünglings Gesicht allmählich, und mehr und mehr, gleichsam verdunstete, schien ihn zu ergötzen. Endlich sagte er: »Nehmen wir an, mein Sohn, daß ich bereits erraten hätte, was Sie so stumm von mir wünschen. Fühlen Sie sich würdig, dasselbe zu erleben« – er deutete auf Franz – »was dieser Knabe erlebt hat?«

Der kleine Frivolin warf einen unwillkürlichen, etwas geringschätzenden Blick auf Franz; ebenso unwillkürlich richtete er sich etwas höher auf. »Ich glaube, ich bin davon frei, mich zu überschätzen,« erwiderte er; »aber ich weiß nicht, warum ich mich unwürdig fühlen sollte, Ihnen so nahe zu stehn, wie der gute Franz.«

»Meinen Sie?« fragte der Professor, mit humoristischem Ernst. »Wie sagt Hamlet, mein Freund? ›Behandle jeden nach Verdienst, und wer ist vor Schlägen sicher?‹ Wie sage ich, Hamlet erweiternd? ›Behandle jeden nach seiner eigenen Schätzung, und wem ist nicht eine Million und eine Ehrenkrone gewiß?‹ – Ich werde Ihnen noch folgendes sagen, Frivolin; und sowie ich es gesagt habe, werd' ich euch auf eine Stunde verlassen, da ich mit diesem Heimgekehrten« (er meinte Leopold) »mich unter den Bäumen des Tiergartens ein wenig austauschen will. Junger Frivolin, Sie sind ein begabter Mensch. Sie sind vielleicht der Begabteste unter den zukünftigen Menschen, die von unsern drei Akademien sich unter meiner Fahne der Kunstgeschichte versammeln. Aber Sie haben einstweilen noch zu viel Glauben an sich selbst, und zu wenig Glauben an unsere Ideale. Ich beobachte auch Sie! Ich hab' in Ihnen drei Götter entdeckt, zu denen Sie beten: den Erfolg, das Frauenzimmer und das Geld. Mein Sohn, die Kunst läßt dir durch mich, deinen Professor, sagen: ›Du sollst keine andern Götter haben neben mir!‹ Wollen Sie ein großer Künstler werden, so schreiben Sie vor allem die Worte eines andern großen Künstlers an Ihre Tür« (er deutete unwillkürlich auf die philosophische Inschrift an seiner eigenen):

»Die Kunst hab' ich geliebet,
Die Kunst hab' ich geübet
Mein Leben lang.
Die Künste hab' ich verachtet,
Nach Wahrheit nur getrachtet,
Drum wird mir nicht bang.«

Professor Fridolin hatte die letzten Verse mit edel pathetischen Bewegungen des rechten Armes begleitet. Dann ergriff er seinen Hut, winkte Leopold, ihm zu folgen, und ging zur Tür. Auf der Schwelle blieb er noch einmal stehn und blickte auf Frivolin zurück, der mit einem aus verschiedenen Gefühlen gemischten Erröten kämpfte. »Und was also Franz und die Bruderschaft betrifft,« setzte er hinzu –

Fridolin horchte auf.

»So sag' ich Ihnen, mein Sohn: Ihre Stunde ist noch nicht gekommen.«


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