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III.

Sie sah auf – und das Blatt fiel ihr aus der Hand. Der junge Naturforscher, Leopold, stand drei Schritte von ihr, auf der andern Seite des Schreibtisches; in grauem Anzug, eine Reisetasche über die Schulter gehängt, einen Stockschirm in der Hand. »Guten Morgen, mein Fräulein!« sagte er scheinbar ruhig mit seinem bedächtigen Baß. »Ich such' hier den Professor. Schönen guten Morgen, Fräulein Judica.«

Das Kind sprang auf ihn zu. »Wo kommen Sie her? so plötzlich?« fragte Ottilie.

»Gott sei Dank, es scheint, Sie erkennen mich wenigstens noch! – Ich komme von Berlin. Ich langweilte mich in Berlin. Ich hab' Tante Ritter gefragt, ob sie etwas an Sie zu bestellen hätte, und mit ihren Grüßen und mit dieser Reisetasche hab' ich mich auf den Weg gemacht.«

Ottilie starrte ihn etwas befremdet an. Will er mich noch einmal fragen, dachte sie, ob »er es ist«? – »Der Herr Professor wird sehr erfreut sein,« stammelte sie. »Sie kommen direkt –«

»Ja. Ich hab' mich wie einen Koffer expediert, und bin nun da.«

»Meine Tante ist wohl?«

»Ihre Tante ist schön und gesund, Berlin ist eine Wüste, und ich bitte Sie, Fräulein Ritter, geben Sie mir eine Hand.«

»Welche Sie wollen – hier. – Judica! Ruf den Onkel! Sag ihm, wer hier ist.«

Judica stürzte ans Fenster; es war aber nicht mehr nötig, Fridolin zu rufen: denn durch die Tür, die Leopold beim Kommen halb offen gelassen hatte, trat der Herr Professor eben mit einem sonderbaren Gefolge ein. Im Gänsemarsch gingen Pastor Philipp und der Wirt des Hotels – ein kleiner, munterer Italiener mit gelbem Gesicht und schwarzem Kraushaar – hinter Fridolin her; alle drei mächtige grüne Büschel in der Hand, der Italiener lachend, die beiden Brüder mit komisch ernsten Gesichtern. Als Fridolin Leopold erblickte, stutzte er einen Augenblick; doch gleich darauf drückte er dem Jüngling, ohne ein Wort zu sagen, seinen Büschel in die Hand, bedeutete ihm, sich dem Zuge anzuschließen, und griff in die Ecke neben der Tür, wo ein ganzer Haufe solcher Büschel lag. Mit einem von ihnen bewaffnet setzte er den feierlichen Marsch durch das Zimmer fort; verneigte sich mit dem lächerlichsten Pathos vor Fräulein Ottilie, und ging dann in den entferntesten Winkel des Zimmers voran. Die andern folgten; auch Leopold, der mit philosophischer Ruhe erwartete, was geschehen werde. Judica hatte sich hurtig gleichfalls mit einem Büschel versehen und stapfte hinter ihm her.

Als der Professor bis in die Ecke gekommen war, wandte er sich zu Ottilien zurück und sagte: » Vossignoria (ein halb fragender, halb stolzer Blick auf den Wirt; dieser nickte) oder Eccellenza haben gestern die Klage auszustoßen geruht, daß in diesem sonst paradiesischen Aufenthalt jene kleinen geflügelten Dämonen, welche man Fliegen nennt, sich mit einer Schnelligkeit vervielfältigen, die die Naturkundigen unter uns leider nicht befremdet. Soll man wünschen, daß der Dame unseres Hauses durch diese geflügelten Dämonen das Leben verbittert werde? Nein. Was soll man also wünschen? Daß diesen Dämonen hier das Leben verbittert werde. Genehmigen Sie also den vor Ihnen stehenden, von mir organisierten ›Chor der Fliegenjäger‹, der es sich zur Aufgabe machen wird, täglich zu wiederholten Malen für die Ruhe Ihrer Seele und den Frieden Ihrer Nase zu sorgen, und der in diesem feierlichen Augenblick beginnt –«

Dieser Schlußsatz der Rede wäre so würdig vollendet worden, wie er begonnen hatte, wenn sich nicht gerade jetzt dem Redner eine große Fliege auf die schöne Nase gesetzt und ihn so unversehens gekitzelt hätte, daß er alle Haltung verlor und mit der freien Hand nach ihr schlug. »Verdammte Bestie!« schloß er seine Rede. Alle fünf Büschel schlugen dann gleichzeitig auf diese unparlamentarische Fliege los. Sie entfloh in eine andere Ecke, der Pastor verfolgte sie mit seinen längsten Schritten; Judica krähte vor Vergnügen; der Italiener jagte mit vielen Maledettas hinter seinen Landsmänninnen her; ein wildes Chaos entwickelte sich. Endlich lief Ottilie, sich die Ohren zuhaltend, hinaus. Die Fliegenjäger folgten ihr aber, von Fridolin geführt; sie ordneten sich, sie kämpften in den andern Zimmern systematisch, die Wände gleichsam mit vollen Salven bestreichend und, wie bei Treibjagden, nach den offenen Fenstern zu eine Kette schließend. Endlich glaubten sie gesiegt zu haben, warfen ihre Büschel auf einen Haufen, und Judica stieß ein Triumphgeschrei aus. Der Wirt verschwand; der Pastor, dessen sich eine unchristliche Berserkerwut bemächtigt hatte, verfolgte noch mit Judica eine letzte Fliege bis in Ottiliens Schlafzimmer; Leopold aber warf sich erschöpft in eine Sofaecke und streckte die Beine von sich.

»Ein furchtbar unpraktisches Verfahren!« sagte er mit einer Art von Erbitterung.

»Alles Bedeutende erscheint zunächst unpraktisch,« entgegnete Fridolin, der sich, nicht weniger erschöpft, in einem »Faulenzer« ausstreckte. »Übrigens, guten Morgen! Uns so zu überraschen, war eine gute Idee.«

»Weil ich in dem verwünschten Berlin keine andere Idee mehr hatte, hatte ich diese. Guten Morgen! – Übrigens« – er sah sich um – »wo sind wir hier?«

»In Philipps Zimmer.«

»Wo ist – Fräulein Ottilie geblieben?«

Ehe Fridolin antwortete, hörte man aus dem Garten herauf einen leisen Gesang. Fridolin horchte; sein Gesicht verklärte sich. Endlich deutete er mit einem Finger dahin, von wo die Stimme heraufkam.

»Sie ist offenbar vor unserm Kriegslärm entflohn!« sagte Leopold.

Fridolin blickte Leopold an, ohne etwas zu erwidern. Dann, nach einer Weile, sagte er: »Verständigen wir uns, mein Sohn. Gehen wir keine Schleichwege um einander herum. Nicht wahr, du bist hergekommen, weil du die oben genannte Dame – wiedersehen wolltest.«

»Nehmen wir an,« erwiderte Leopold nach einer Pause, »daß es so ist.«

Der Professor versank in Schweigen. Nach einer viel längeren Pause sagte er endlich: »Es war zu erwarten; denn es ließ sich denken.«

»Brauch' ich dir zu sagen, mein Freund,« setzte er nach einer neuen Pause hinzu, »daß ich bei dieser Sache, wie man zu sagen pflegt, ein – Interesse habe?«

»Ich war so frei, es bereits zu erraten,« antwortete Leopold. »Diese Fliegenjagd war eine von deinen Liebeserklärungen; nicht? – du bildest dir ein, Fräulein Ottilie zu lieben.«

»Ich bilde mir's ein? Wieso?«

»Nun, da du doch weißt, daß du mit dir selbst in der bekannten ›heimlichen Ehe‹ lebst.«

 

Fridolin schwieg hierauf wieder eine Weile. »Mein guter Leopold,« sagte er dann mit überlegenem Lächeln, »diese Phantasie hast du also ernst genommen, wie ich sehe.«

»Wie?« sagte Leopold verdutzt und richtete sich auf: »eine Phantasie?«

»Ja. Bleib sitzen. Rege dich nicht auf. Diese lange Seelengeschichte, die ich dir damals erzählte – vielleicht machte ich mir nur den Spaß, dir, dem Naturforscher, eine merkwürdige ›psychologische Naturerscheinung‹ plausibel zu machen. Vielleicht um dir zu zeigen, mein Sohn, daß ich doch noch dein Meister bin. Du hast meine wissenschaftliche Auseinandersetzung gläubig hingenommen –«

»Fridolin!« unterbrach ihn Leopold, der nun vor ihm stand und ihn mit seinen forschenden Augen zu ergründen suchte. »Hast du damals Komödie gespielt, oder spielst du sie jetzt?«

»Ich überlass' es deinem Scharfsinn, mein Teurer, darüber ins klare zu kommen. Du bist ja ein bedeutender Kopf.«

»Jedenfalls – jedenfalls glaubst du Fräulein Ottilie zu lieben?«

»Ich hätte das Recht, mein Sohn, darüber zu schweigen; aber ich find' es würdevoller, dir offen zu antworten: Ja. Ich glaube nicht zu lieben, sondern ich liebe.«

»Hm! – Und was die Gegenliebe betrifft – –« Leopold wartete auf Antwort.

»Vielleicht hältst du, junger Mensch, es für eine Torheit, daß ich mit meinen vierzig Jahren noch die Liebe eines jungen Mädchens zu gewinnen hoffe; aber ich – so wie du mich hier in diesem Lehnstuhl liegen siehst – ich hoffe es.«

Unwillkürlich atmete Leopold auf; er hofft nur! dachte er. – »Was ich dann noch sagen wollte –« fuhr er fort.

»Sage es.«

»Du denkst sie zu heiraten?«

»Was dieser junge Mann alles fragt! – Ja, ich denke sie zu heiraten. Natürlich, wenn sie will.«

»Du denkst sie jedem andern streitig zu machen?«

»Auf die Art, die meiner würdig ist: mit den Waffen des Geistes und des Herzens – ja. Das denke ich.«

Leopold ging im Zimmer auf und ab. Er zog sein Taschentuch hervor und rieb sich damit die Stirn. Der Professor folgte ihm mit den Augen, ohne sich zu rühren. Endlich blieb der Jüngling vor ihm stehn, mit einem feinen, klugen Lächeln um die bartlosen Lippen; während die grauen Augen Fridolin scharf beobachteten. »Es scheint mir, du bist im Stadium der Selbsttäuschung,« sagte er.

»Inwiefern?« fragte der Professor.

»Ich erinnere mich, daß du mir damals sagtest – ungefähr so war's –: ›Ein reizendes Frauenzimmer entzückt mich; ich verliebe mich. Weiß ich nun noch, daß ich auch eine weibliche Hälfte habe, mit der ich innerlich verheiratet bin? Nein. Ich hab' es vergessen. Ich weiß nicht, daß ich es wußte.‹«

»Das alles hätt' ich dir damals, Abends im Tiergarten, gesagt?«

»Ja. Mein Gedächtnis ist nicht übel, wie du weißt. Du sagtest mir noch mehr: ›Ich beabsichtige sie zu heiraten,‹ sagtest du; ›ich bin nur noch ein verliebter Mann; ich dichte, ich werbe‹ – – Das ungefähr waren deine Worte.«

»So! – Und daraus schließest du nun –«

»Daß dieser Zustand, in dem du deine heimliche Ehe verleugnest, auch jetzt wieder über dich gekommen ist; daß du dich jetzt nicht kennst.«

Der Professor stand auf. »Und du, der zweiundzwanzigjährige Fant, kennst mich besser als ich?«

»In diesem Augenblick, ja. Du willst Fräulein Ottilie heiraten? Du darfst sie nicht heiraten; das wäre Bigamie.«

»Das wäre Bigamie?« – Fridolin erhitzte sich. Er verlor seine lange bewahrte philosophische Fassung; er schüttelte seine große Jupiterlocke, daß sie hin und her flog. »Mein liebes Kind!« sagte er, »weil ich dir einmal eine allegorische Fabel vorgetragen habe, die ganz zu verstehn du leider noch viel zu jung bist, darum dürft' ich nicht heiraten? Und weil du dich zufällig in eben dieselbe Dame vergafft hast und ihr von Berlin an den Gardasee nachgereist bist, darum wär' es Bigamie, wenn ich Ottilie Ritter heiratete? – Ich bitte dich, laß mich ausreden; auch ich will einmal ausreden – ich, der Mann, den jeder unterbricht. Es wird offenbar Zeit, mein Sohn, daß ich dir folgendes sage! Wenn ich noch nicht entschlossen war, Ottilie Ritter zu heiraten, so bin ich es jetzt. Und ich bin entschlossen, der musterhafteste Ehemann zu werden, den es gibt! Ich bin entschlossen, euch jungen Mannsbildern von heute, euch fischblütigen Naturforschern und Verstandesknechten zu zeigen, wie so ein Idealist aus der alten Schule die wahre Liebe und die wahre Ehe versteht! Und endlich bin ich entschlossen, dir zu beweisen, mein Lieber, daß ich ein freier Mensch bin und tun kann, was ich will! – Bist du mein Nebenbuhler, – gut! Tu, was du kannst. Setz deine verständige Jugend gegen mein unverständiges Alter. Laß es uns gegenseitig für eine Ehre halten, miteinander um Ottilie Ritter zu kämpfen. Aber bilde dir nicht ein, daß ich vor deinen Einreden zurückweiche! – Ich hab' deine Schwester geliebt und dann auf ihrer Hochzeit mit einem andern getanzt; ich hab' Therese Fischer geliebt und bin dann, als mein Bruder Franz sie heiratete, sein Trauzeuge gewesen; aber bilde dir nicht ein, mein Lieber, daß ich auch auf Ottilie Ritter freiwillig und gutmütig verzichte. Kämpfe mit mir – und siege, wenn du kannst!«

»Fridolin!« rief Leopold, der nun endlich zu Worte kam, hinter ihm her. Aber Fridolin lief hinaus. In der Tür hätte er beinahe den Pastor Philipp über den Haufen gerannt, der blaß und mit sehr verstörten Gesichtszügen dastand. Doch ohne auf ihn zu achten, lief Fridolin an ihm vorbei und in sein eigenes Zimmer, und ließ den jungen Naturforscher mit der sich auflösenden Naturerscheinung der heimlichen Ehe allein.


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