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II.

Fridolin kleidete sich an. Er seufzte. Er kämmte sein schönes Gelock; aber er salbte es heute nicht; er salbte es nie, wenn sein Herz Kummer hatte; er vernachlässigte sich. Als er den Kamm wieder reinigte, legte er die Haare, die zwischen dessen Zähnen hängen geblieben, einzeln, eines nach dem andern, auf ein Blatt Papier; er zählte sie. Schwermütig sah er sie an und schüttelte den Kopf. Dreiundvierzig! – Drei und vierzig! – Ich werde ein Kahlkopf. Ich bin bereits ein Kahlkopf in der Idee. Die Natur führt diese Idee in mir aus; langsam, doch unfehlbar. Heute, an meinem Geburtstag, muß ich entdecken, daß ich an einem Morgen dreiundvierzig meiner Haupthaare verliere! – Mein Geburtstag. Wer denkt an ihn? Niemand. Kaum ich selbst. Hat Tante Ritter mir gratuliert? Nein. Warum soll sie mir auch noch gratulieren – sie oder irgend jemand? Zu was? Wer bin ich? Ein Nichts. Ein Wesen ohne Glück, ohne Stern. Diese Falte zwischen meinen Augenbrauen (er stand vor dem Spiegel) wird tiefer und tiefer; mein Leben flacher und flacher. Ich war ein sonderbares, bemerkenswertes Etwas; jetzt bin ich ein nicht mehr zu bemerkendes Nichts!

»O, die Natur in mir ist schlau!« sagte er plötzlich vor sich hin. »Sie sieht, wie ein kluger Hund, daß sie dem kategorischen Imperativ in mir gehorchen muß; sie soll an Ottilie nicht denken; was tut sie? Sie beschäftigt sich mit allem sonstigen Kummer, den ich habe, seufzt darüber, und kommt so zu ihrem Recht. O, wie schlau die Natur ist! Vielleicht – wie weise! – – Gehen wir zum Frühstück. Dreiviertel auf sieben. Kaffee; warmer Kaffee, frisches, weißes Gebäck; was für ein lieblicher Gedanke. Versuchen wir, an diesem einsamen Geburtstag, trotz der einundvierzig Jahre und der dreiundvierzig Haare, doch nicht unglücklich zu sein!«

Mit diesem philosophischen Gedanken trat er über die Schwelle und ging dem Papageienzimmer zu, in dem er zu frühstücken und zu tafeln pflegte. Als er hineintrat, mußte er wohl erstaunen. Auf dem gedeckten Tisch stand ein riesiger Topfkuchen (seine Jugendliebe), von Frühlingsblumen bekränzt; zierliche und majestätische Blumensträuße umgaben ihn; ein hoher silberner Becher, dessen Deckel eine weibliche Figur krönte (durch ihre Embleme suchte sie zu beweisen, daß sie die Kunst sei), stand hinter dem Topfkuchen, ihn edel überragend. Ihn überragten wieder drei lebendige Leibschwaben, Rudolf der Ingenieur, Franz und der andere junge Architekt; alle in Schwarz gekleidet und in den feierlichen Ernst des Augenblicks gehüllt. Dies Ganze aber überragte Risotto, der zuhinterst stand, wie ein Glockenturm; aus dessen oberstem Geschoß denn auch zuerst, wie der festliche Gruß der Morgenglocke, ertönte: »Guten Morgen, Professor Fridolin!«

»Guten Morgen, Professor Fridolin!« sprachen die andern ihm nach.

»Da sind wir,« setzte der dicke Rudolf hinzu.

Fridolin sah sie alle an und schwieg. Die Überraschung, die plötzliche Rührung machte ihn stumm.

»Rudolf, du hast das Wort,« murmelte Risotto.

Rudolf trat vor. Er hustete; dann fiel ihm offenbar ein, daß der Meister, der vor ihm stand, ihn und sie alle gelehrt hatte, ihre Rede ohne Räuspern und Husten, edel und frei zu beginnen, und er begann: »Du hast uns verschwiegen, Fridolin, daß heut dein Geburtstag ist; aber wir wußten es. Wir haben gehört, daß du wieder da bist; also sind wir gekommen,« (er lächelte) »dir durch die Blume« (er deutete auf die Sträuße) »zu sagen, wie wir dich verehren – dich verehren –«

»Und lieben,« setzte Franz mit seiner treuherzigen Stimme hinzu.

»Und lieben,« wiederholte Rudolf. »Und dir diesen Becher zu bringen; als ein kleines Andenken an deine treuen Schüler –«

»Unsere Namen stehen alle darauf,« schob Risotto ein.

»Und als ein Zeichen unsrer Dankbarkeit, Anhänglichkeit –«

»Und Bewunderung,« sagte der jüngere Architekt.

Rudolf blickte etwas unwillig nach den ihn unterbrechenden Hintermännern zurück; dann fuhr er fort: »Wir wollten auch den kleinen Frivolin auffordern, mitzukommen; aber wo steckt er? Unbekannt. Wir wissen nicht mehr von ihm, als von der Kawisprache –«

»Es liegt auch nichts daran,« warf Risotto ein.

»Wir hätten ihn auch als Dichter für diesen Festtag gebraucht,« fing Rudolf wieder an; »denn er ist leider der einzige von uns, der im Versemachen so einen –« (er suchte das passende Wort) »so einen gewissen Wupptich hat; so den eigentlichen Pli.«

»Pli ist ein Fremdwort,« unterbrach ihn Fridolin, der bis dahin ohne körperliche Regung zugehört hatte. »Ich ziehe, wenn es sein muß, sogar Wupptich vor.«

»Den wir also nicht haben,« fuhr Rudolf fort; »und so haben wir in unsrer Not an Franz appellieren müssen, der, was das Dichten betrifft, eigentlich ein hilfloser Greis ist –«

Franz lächelte resigniert.

»Und an mich, der darin gleichfalls ein hilfloser Greis ist,« setzte Rudolf gutmütig hinzu. »Wir haben uns gesagt: es muß nun daraus werden, was wird; etwas Dummes oder etwas Gescheites; lyrisch, tragisch, romantisch, equilibristisch, komisch, medizinisch – wenn's nur etwas wird.«

»Und von alledem ist es etwas geworden,« ergänzte Risotto von hinten.

 

»Jedenfalls ist es höherer Unsinn geworden,« sagte Franz – der nun gleichfalls vortrat – und lächelte treuherzig. »Und auch Risotto und der Waldknabe« (er meinte den jüngeren Architekten) »haben mitgeholfen; und nun werden wir es dir, wenn du erlaubst, mit verteilten Chorstimmen rezitieren, wie in der ›Braut von Messina‹.«

Fridolin verneigte sich auffordernd. Hierauf traten die vier Jünglinge in eine Reihe. »Hannemann, geh du voran!« murmelte Risotto, indem er Franz mit seinem Ellbogen anstieß.

Franz lächelte still in sich hinein, wie über den Unsinn, der sich nun ereignen werde; dann fing er an:

»Und einundvierzig Jahre sind nun voll!
So sprach der Klang, der mir zum Ohre goll –«

»Wir haben nämlich die unmöglichen Reime den möglichen vorgezogen,« fiel ihm Rudolf ins Wort.

»Tut, was ihr könnt,« entgegnete Fridolin;

                                    »ich habe
In England mich an viel gewöhnen lernen – –

Mein teurer Franz, ich bitte, fang noch einmal an!«

Franz lächelte wieder, dann sprach er:

»Und einundvierzig Jahre sind nun voll!
So sprach der Klang, der mir zum Ohre goll;
So sprach die Glocke der Erinnerung,
Die mir im Herzen ihren Hammer schwung;
Und Andacht senkte sich in meinen Busen,
Noch ehe ich mein Morgenbrot gespusen.«

Rudolf trat vor und fuhr fort:

»Vielleicht – so dacht' ich – fühlt er jetzt den Gruß,
Den dieses Herz zu ihm hinüber blus;
Er freut sich des, ist heiter, pfeift und singt,
Vielleicht auch hat ein Ohr ihm jetzt geklingt;
Da fühlt er es: der Tag ist angebrochen,
Den er so sorglich aller Welt verstochen.«

Der Waldknabe (trat vor):

»Ernst wird sein Geist; ein Seufzer steigt empor;
Er denkt des Tags, der ihn der Welt gebor:
›Wie sind die Jahre doch so rasch zerronnen,
Und Kindheit, Jugend – wie dahingeschwonnen!
Grau liegt der Tag und bleiern um mich her;
Was träumt' ich nicht, als ich ein Kind noch wär'!
Das Alter fühl' ich nahn, noch schleicht's auf Socken;
O Jugendblüte! wie bist du geknocken!‹«

Risotto (gerührt, mit weicher Stimme):

»Nicht also, Meister! Nicht in Gram versunken!
Dir winkt die Jugend, wie sie sonst gewunken!
Was fehlt dir? Blieb dir nicht des Geistes Schwung,
Wenn auch des Leibes Knospenzeit vergung?
Und wir sind da, die liebenden Getreu'n:
Leibschwaben sind wir, wollen's ewig seun!«

Franz:

»Und dieses also dir gedichtet habend,
Wünsch' ich dir herzlich einen guten Morgen.«

»›Habend – Morgen‹ ist gut!« sagte Fridolin heiter; die Rührung verbergend, die sein weiches Herz ergriffen hatte. »Was soll ich euch zum Dank für diesen Morgengruß sagen, meine Freunde? Diese Reime – so sans raison – und doch ist Räson darin. Ihr habt recht. Ich glaube, ihr habt recht. Noch sind wir jung!

Mut, Freunde, Mut! wir sind noch nicht zu Boden;
Fünf Regimenter Terzky sind noch unser
Nebst Buttler's wackren Scharen.«

»Das ist das Wort!« sagte Risotto, sich die Hände reibend. »Das ist das rechte Wort!«

»Ich glaube wahrhaftig, infolge dieses Unsinns steht mir jetzt eine Träne im Auge; – mag sie, ich wehre ihr nicht. – Wie soll ich euch danken? – Soll ich euch danken? Nein. Hier habt ihr meine Hand; meine Hände. Zwei – und zwei. Ihr habt mir mehr zuliebe getan, als ihr wißt; als ihr denken könnt. Ihr seid – – Ich soll euch nicht danken? Doch. Ich werde versuchen, euch zu danken. Auf meine Weise! Hier –!«

Er trat an einen Kasten und öffnete dessen unterstes Fach. Hier lagen die Papiere, Scharteken und Westen nebeneinander, die die Leibschwaben an jenem Tage, als Ottilie einzog, hierher ausgeräumt hatten. Er deutete mit dem ausgestreckten Finger auf die Westen hin. »Ihr habt da hinten eure Namen eingeschrieben,« sagte er. »Diese benamsten Westen sollten euer sein, sobald ich sie entließe. Ich entlasse sie heute. Meine lieben Söhne, nehmt, was euch gehört! Ich bin ein armer deutscher Kunstprofessor; alles, was ich für euch habe, sind Westen, – und das Herz, das darunter schlug!«

»Bei Gott, Fridolin, wir danken dir von ganzem Herzen,« sagte Rudolf gerührt.

»Mir hattest du noch keine vermacht,« seufzte Franz bescheiden. »Du gabst mir freilich statt dessen das allerbeste, was ich mir wünschen konnte: das brüderliche Du –«

»Solltest du darum zu kurz kommen?« sagte Fridolin. »Wähle dir eine unter ihnen, die noch keinen Namen trägt, und sie ist dein.«

»Was wünschen Sie, Tante Ritter?« fragte er, da plötzlich ihre Erscheinung und ein unverständliches Gemurmel ihrer Lippen ihn unterbrach.

 

»Daß ich Ihnen doch auch beglückwünschen will!« sagte sie lauter. »Ich halt's nun nicht länger mehr aus. Hab' vorhin nichts sagen dürfen, Herr Professor; hatt' den jungen Herrn versprechen müssen, mir gar nichts merken zu lassen, daß ich's wüßte, was für ein Tag heute ist. Und daß Sie immer gesund und glücklich sind, Herr Professor!« (Sie drückte ihm die dargebotene Hand.) »Und daß Sie gar nie mehr brummig sind;« – sie lächelte mütterlich. »Na, und daß wir immer beisammen bleiben, der Herr Professor und ich.«

»Tante Ritter,« erwiderte Fridolin, »sehn Sie diese Jünglinge an: sie beerben mich, jeder nimmt sich die Weste, die ich ihm vermache. Kann ich auch Ihnen eine Weste schenken? Nein. Aber es geht mir heut umgekehrt wie jenem Richard dem dritten, vor dem Sie in Ihrer holden Jugend gezittert haben, als der große Ludwig Devrient ihn spielte: ›ich bin in der Gebelaune heut‹. Sie haben sich in Ihr goldenes Medaillon eine Locke von mir gewünscht. Im braunen Zimmer finden Sie, auf einem Blatt der ›Dioskuren‹, dreiundvierzig Haare von mir. Nehmen Sie sie hin! Und in die Rückseite des Medaillons – o Großmut! – stift' ich Ihnen meine Photographie; die, welche Sie schmeichelnderweise so ähnlich finden, weil ich darauf lächle. Ich verspreche Ihnen, auch im Leben zu lächeln, so oft ich kann. Sollt' ich wieder einmal brummen, Tante Ritter, so öffnen Sie dieses Medaillon, halten Sie mir diese lächelnde Photographie vor Augen, und ich werde lächeln. Und nun gehn Sie und schicken Sie das taube Küchenmädchen an die Tür: man hat schon zweimal geklingelt. Und gehn Sie zur Küche und richten Sie ein kaltes Frühstück mit edlem Rheinwein für diese Jünglinge her; denn es ist unsre wohlerkannte Pflicht, aus jenem Becher zu trinken!«


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