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II.

Ein heiteres, taktmäßiges Klopfen, im anapästischen Kurz, kurz, lang, kurz, kurz, lang, pochte an die Tür.

»Herein!« sagte sie.

Der Professor Fridolin erschien. Er hatte die ritterliche Gewohnheit angenommen, zu klopfen, wiewohl dieses Zimmer nicht für Ottilie allein, auch für gemeinschaftliche Geselligkeit bestimmt war. Sein festlich strahlendes, lebensfrohes Gesicht war, obgleich ihn dieser Morgengang erhitzt hatte, nicht mehr als gewöhnlich gerötet; wie denn seine Freunde ihm nachsagten, infolge eines Naturfehlers könne er gar nicht erröten. Desto purpurner, ganz mit Rot übergossen, stand Ottilie da. Sie vermied es, so gut es ging, ihn anzusehn; wie wenn auf seinem Gesicht das Gedicht an sie, mit den sieben ersten Buchstaben, geschrieben stünde, und das Zartgefühl ihr verböte, es daselbst zu lesen. »Guten Morgen!« erwiderte sie etwas beklommen auf seine heitere Begrüßung.

»Es verlängert offenbar das Leben, nach Italien zu reisen,« sagte Fridolin: »dies ist nun schon der achte Sonntag, den ich in acht Tagen erlebe! – Ist es wahr, Fräulein Ottilie, was mir Judica vorhin sagte, daß Sie Ihren jungen Herrn Bruder morgen hier erwarten?«

»Ja,« erwiderte sie; »auf der Durchreise nach Rom. Mit einem Reisestipendium –«

»Der Glückliche! – – Aber ich beneide jetzt niemand auf der Welt. Hier in Riva ist Rom! – – War nicht mein Bruder bei Ihnen? Oder irrte ich, wenn ich ihn die Fliesen des Korridors eben abwetzen hörte?«

»Sie irrten nicht,« sagte sie mit gezwungenem Lächeln; »er war eben hier.«

»Und hat sich vermutlich bei Ihnen, unserem italienischen Lexikon, unserer lebendigen Grammatik, wieder Rats erholt? oder mich wieder bei Ihnen verklagt? wieder den Kreuzzug gegen mich gepredigt?«

»Ich glaube, dazu wäre Ihr Herr Bruder wohl der letzte Mann!« antwortete sie sanft.

»Nach Ihrer Vorstellung, ja! Sie halten ihn offenbar für einen milden, sanften Nazarener. Sie nehmen ihn unter Ihre Engelsflügel, so oft man ein Wort über ihn spricht; Sie bemuttern ihn. Als ich neulich behauptete, im sechzehnten Jahrhundert hätte er mich, seinen Bruder, lebendig rösten lassen, versicherten Sie mir, ich sei ein zweiter Franz Moor, und er ein Engel. Ich weiß, Sie beide haben sich gegen mich verschworen; Sie beide werden eine neue Sekte bilden, deren Lebenszweck ist, mit allen Andersgläubigen die Affenkäfige der zoologischen Gärten zu bevölkern; und für mich werden Sie einen besonders bauen lassen, mit der schwarzen Inschrift: ›Fridolin, der gottlose Staatsaffe oder Vernunftgorilla. Von einigen auch der Kunst-Pavian genannt. Er spuckt und beißt.‹«

»Nun?« sagte Ottilie lachend. »Hat der Herr Pastor unrecht, wenn er behauptet, daß Sie gern übertreiben?«

»Sehn Sie: wie allemal nehmen Sie sich seiner an! Ich sage kaum drei Worte, so ruft mir die ganze Sekte zu: du übertreibst! Ob ich in der Hauptsache recht habe, ob meiner sogenannten Übertreibung die Wahrheit, die absolute, ewige Wahrheit zu Grunde liegt, darauf geht man nicht ein! – Sehen Sie, Sie lächeln schon wieder –«

»Weil mir scheint. Sie wollen mich schon wieder, wie gestern, mit dem Herrn Pastor verwechseln –«

»Verwechseln? Ich will seine Angriffe abwehren, Sie, meine Beste, treten vor und schlagen mir die Waffe aus der Hand; was soll ich tun? Ich raffe mein Schwert wieder auf und wende mich nun gegen Sie! – Glauben Sie etwa, Fräulein Ottilie, daß die Liebe zum Schönen, zur Weisheit, zur Vernunft – diese friedliche, ideale Liebe – nicht auch ihre kriegerische Kehrseite hat, den ebenso idealen Haß gegen die Feinde des Schönen und der Vernunft? Glauben Sie, daß wir Männer der Kunst und Wissenschaft nicht auch in eine große Armeeliste eingetragen und mobil gemacht sind, daß wir nicht die Soldaten des Weltgeistes und dazu berufen sind, seine Schlachten zu schlagen? Glauben Sie, Fräulein Ottilie –«

»Aber wirklich, ich widerspreche Ihnen nicht; gar nicht; ich erlaubte mir nur, zu sagen, daß Ihr Herr Bruder –«

»Der durch meine Übertreibungen Gereizte, der ungerecht Angegriffene, der von einem zweiten Franz Moor grausam Verleumdete ist! – Sehn Sie gefälligst in dieses Zeitungsblatt, Fräulein Ottilie: hier, auf dieser Seite, können Sie lesen –«

»Ich danke; wirklich, ich glaube es unbesehn – alles, was da steht –«

»Sie glauben es? Sie glauben, daß dieser pfäffische Maulwurf, dieses Nachteulengehirn recht hat, dieser Kerl, der da in seiner deutschen Muttersprache schreibt, zur Ehre Gottes müsse das Deutsche Reich wieder zerstört, die deutsche Wissenschaft wie altes Papier verbrannt, die deutsche Poesie als neues Heidentum ausgerottet werden? Dieser Weltanschauung stimmen Sie zu, Fräulein Ottilie? Aus Parteinahme für meinen geistlichen Bruder stimmen Sie ihr zu –«

»Um Gottes willen, nein! Ich stimme ihr nicht zu; ich finde, daß sie verrückt ist; – und ich bin überzeugt, auch der Herr Pastor findet sie verrückt –«

»Sie sind überzeugt – natürlich, denn Sie breiten ja stets Ihre beiden Arme schützend über ihm aus! – Nun, Fräulein Ottilie, fragen Sie ihn selbst! Geben Sie ihm dieses Blatt; dieses Zeitungsblatt! Lassen Sie ihn diese Leichenpredigt auf Deutschland lesen und fragen Sie ihn, ob er wirklich den Mut der Konsequenz hat, bis zu diesen letzten Folgerungen mitzumarschieren! Fragen Sie ihn, ob er es vorzieht, mit diesem Rabengesindel ein kanonischer Gläubiger, oder gleich uns andern ein ›höherer Affe‹ mit Idealen, mit Bildung, Vaterland, Kunst und freier Vernunft zu sein!«

Er legte das Zeitungsblatt neben ihr auf den Tisch; seine blauen Augen strahlten sie mit einer solchen Kraft der Überzeugung an, daß ihr in dem Augenblick wirklich nichts einfiel, das sie erwidern könnte. Judicas Stimme ließ sich im Nebenzimmer hören. Der Professor brach ab. Er machte eine Bewegung, mit der er sich empfahl. »Fragen Sie ihn! fragen Sie ihn!« wiederholte er noch einmal. »Hören Sie, was die Sekte darauf erwidert! Und dann sagen Sie ihm, verehrte Gegnerin, was ich, der Vernunftgorilla, Ihnen gesagt habe!«

Ottilie sah ihm nach; denn mit diesen Worten ging er (übrigens durch die rechte Tür) hinaus. Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, warf sie sich auf einen Stuhl; es war ihr auf wirklich lächerliche Weise zwischen Lachen und Weinen zu Mut. Sie nahm das Zeitungsblatt in die eine, des Pastors Hut mit dem Blumenstrauß in die andere Hand. Plötzlich mußte sie lachen; – obwohl ihr etwas weh tat, sie wußte nicht was. Ja, es ist begreiflich, dachte sie, daß ich ihnen allmählich unentbehrlich werde: denn seit ich da bin, können sie aufs schönste miteinander streiten, ohne daß sie die Unannehmlichkeiten des Wortwechsels haben. Ich bin ihre Rednerbühne. Ich bin die Zeitung, in der sie ihre polemischen Leitartikel niederlegen. Sie drucken sich an mir ab. Dann gehen sie erleichtert von dannen und kehren zu den Freuden des Lebens und der Bruderliebe zurück. Wirklich, ich fange an, mich für ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu halten! – Sie stand auf. Ihr alter Galgenhumor lachte ihr aus den Augen. Auf einmal fuhren ihr wieder Verse durch den Sinn:

»O du, holder als alle zumal« –
»O du« – –

Weiter wußte sie's nicht.

»Guter Gott!« sagte sie, »für einen Liebenden, der Verse auf mich macht, hat er mir eben eine schöne Predigt gehalten!« –

»Bist du wieder da, mein Kind?« fragte sie die eintretende Kleine, indem sie sich sehr zusammennahm. »Wo hast du so lange gesteckt?«

»Ich hab' das Blatt Papier wieder auf Onkel Fridolins Schreibtisch gelegt; und dann hab' ich aus dem Fenster geguckt und – und –«

»Nun?«

Das Kind dachte nach. »Und aus dem Fenster geguckt,« sagte sie endlich; »weiter weiß ich's nicht.«

»Träumerin! Ich werd' dir Arbeit geben! – Du hast das Blatt auch genau wieder auf seine Stelle gelegt?«

»O ja! – – Ich glaube. – – Ich weiß es nicht mehr gewiß.«

»So wird es besser sein,« sagte Ottilie mit halber, etwas unterdrückter Stimme, »ich seh' selber nach!« Sie führte die Kleine an der Hand in Professor Fridolins Zimmer, das auch auf den Garten hinausging; durch das offene Fenster sah sie Fridolin unten, am See, in einer Laube sitzen. »Nun, wo liegt dieses unglückliche Blatt?« fragte sie das Kind.

Wozu fragte sie noch; sie hatte es schon gesehn.

»Hier!« antwortete Judica. »Und hier lag es auch, Tante Ottilie.«

»Gewiß?«

»Ganz gewiß.«

Ottilie nahm es nochmals in die Hand. Die kleine zierliche Schrift schien's ihr anzutun. Ihre Augen lasen, und ihre Lippen lasen, sich leise bewegend, mit. Hat er's hier liegen lassen, dachte sie, damit ich es finden soll? Als ich ihm neulich scherzend sagte, man müsse alles Schriftliche vor mir hüten, weil ich mit meinen Luchsaugen drei Schritte weit lese, auch die kleinste Schrift – hat er sich das gemerkt? – – Sie war wieder bei den letzten Versen:

Ich, ich liebe! Wann sagst du einmal,
Echo des Herzens: – – ?

Diese drei Silben, die da fehlen, dachte sie, – hat er gar gehofft, das Echo werde sie hinschreiben? – »Ich liebe« – wie das klingt! – – Plötzlich fühlte sie, daß sie ihn liebte.


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