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XXIV

Es ist Bußtag, aber die Glocken läuten nicht. Die von Sowirog sind im Feuer geschmolzen, und die aus den anderen Dörfern hat der Krieg genommen. Es ist ein grauer Tag, und der erste Schnee fällt in kleinen Flocken auf die feuchte Erde. Auf dem kahlen Hügel steht der tote Pfarrer und blickt über sein Dorf. Es sieht wieder so aus, wie es hundert Jahre ausgesehen hat. Es hat Krieg, Hunger und Tod überstanden. Seine spärlichen Äcker sind gepflügt und bestellt, der See ist nicht niedriger geworden, die großen, dunklen Wälder stehen schweigend im Kreise herum. Es ist ein ewiges Dorf, so klein es ist.

Der älteste Sohn von Michael Gogun, der im Moor versank, kommt mit einem Korbwagen und einem kleinen Pferd aus dem Jerominschen Tor und bringt das Gepäck zur Bahn. Eine Holzkiste und ein großes, altes Buch, in graue Leinwand genäht. Es hat ein Leben lang auf dem Holztisch am Meiler gelegen und geht nun mit Jons mit. Er weiß nicht, wie oft er darin lesen wird, aber es ist ihm, als gehe der Vater mit ihm mit.

Er hat nicht mit dem Wagen mitfahren wollen, er will zu Fuß gehen, allein und ganz für sich. Es ist ein stiller, grauer Tag, und es ist schön zu sehen, wie der Schnee weiß über den Wald fällt. Er geht noch am Stock, und von seinem Gesicht ist abzulesen, daß manche ihn verlassen haben, die er gern bei sich behalten hätte. Sein Gesicht ist noch so jung, daß es seine Schmerzen nicht ganz verbergen kann.

Sie bringen ihn bis ans Tor und sehen ihm nach. Maria, Christean, Erdmuthe, der kleine Jons und die kleine Barbara. Ein junger Mensch aus ihrem Blut, der sein Leben den Armen hingeben und den Tod besiegen will.

Und auch die Leute von Sowirog sehen ihm nach. »Mit Gott, Jons!« sagen sie. »Geh mit Gott, Jons!« Er winkt mit der Hand, und ein tiefes, brennendes Glück erfüllt ihn. Er fühlt die dünne silberne Kette bei jedem Schritt auf seiner Brust, und die Erinnerungen bedrängen ihn wie Schatten, die um ein Stückchen Brot betteln, aber das Glück ist stärker als die Schatten. Das Glück eines jungen Menschen, der gehungert, gefroren, getötet und verloren hat, und der nun an seine Arbeit gehen darf. Auf den kleinen Bezirk von drei oder dreißig Morgen, die er mit seinen Händen bewegen und heilen wird. Fernab von der »großen« Gerechtigkeit, von den Wasserbächen und dem Schatten eines großen Felsen, ein kleiner, demütiger, fleißiger Arbeiter, ein getreuer Knecht.

Die Mutter steht auf der Schwelle und reicht ihm die Hand. Sie sieht ihn nun an, nicht durch ihn hindurch wie sonst, und es ist ihm, als sehe er die ganze Stätte Golgatha in ihren Augen. »Einmal schlug ich dich, Jons«, sagte sie. »Schlage mich nun nicht wieder.« Und bevor er ihre Knie umarmen kann, ist sie in die Hütte zurückgetreten, und er hört, wie der Schlüssel sich im Schlosse dreht.

Dann ist nur noch Kiewitt zu sehen, ehe der große, menschenleere Wald ihn aufnimmt. Es schneit, aber Kiewitt pflügt noch immer. Er ist nicht fertig geworden, und es gibt keinen Feiertag für ihn, ehe der Frost kommt. Das Pferd ist noch fahler und hagerer geworden, ein unheimliches, todüberdauerndes, wissendes Pferd, aber es geht gehorsam unter des kleinen, gebeugten Kiewitt Hand. Es ist ein langer, schmaler Streifen Erde, und wenn sie am anderen Ende angelangt sind, sieht es aus, als würden sie beide im Schnee und in den Wäldern verschwinden und eine unendliche Furche bis an den Rand der Ewigkeit ziehen. Aber sie kommen immer wieder. Die Hufe dröhnen dumpf auf dem moorigen Boden, die Erde rauscht wie dunkles Wasser an der blanken Schar. Kein Vogel singt in den leeren Wäldern, keine Frau steht vor dem kleinen, schiefen, grauen Haus. Sie sind ganz allein auf dieser winterlichen Erde, der Mann und sein Pferd. Der Krieg, der Haß, der Tod sind über die Welt dahingebraust, über das Dorf und seine Menschen, aber sie haben die Erde nicht mitgenommen, die er gerodet und umgebrochen hat. Er ist ein Wiedertäufer, und es ist, als habe die neue Taufe ihn unsterblich gemacht.

Lange stand Jons und sah ihm zu. Für lange Zeit würde er so etwas nicht wiedersehen, und lange Zeit hatte er es nicht gesehen. Aber während sie draußen marschiert waren, von Land zu Land, von Schlachtfeld zu Schlachtfeld, war dieses ohne ihr Wissen immer still vor sich hingegangen, das Erhaltende, Bewahrende und Ewige dieser dunklen Erde. Der Pflug, der durch den Acker ging, das Pferd, das ihn zog, der Mann, der die Erde umbrach, um das Korn zu säen. Sie selbst mochten den Sieg gewonnen haben oder die Niederlage, aber für diesen Mann und unzählige seinesgleichen war das von geringer Bedeutung. Sie trachteten nicht nach Siegen, sondern nach Brot, und die Einfachsten unter ihnen vielleicht nicht einmal nach Brot, sondern nur nach dem Werk ihrer Hände. Der Schweiß der Stirn war ihnen Segen genug.

»Leb wohl, Kiewitt!« rief er über das Feld.

Der Pflügende erschrak und verneigte sich in den Schultern, aber dann erkannte er Jons und winkte mit der Hand.

»Er wird sie wieder einrenken«, rief er mit seiner hellen Knabenstimme zurück. »Er wird sie wieder einrenken, Jons. Verlaß dich nur darauf!«

Dann verbarg ein neuer Schauer treibenden Schnees ihn hinter einer weißen, wehenden Wand.


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