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XV

Das Frühjahr ist die Zeit des Wanderns. Die Stare kommen wieder nach Sowirog, sitzen auf den kahlen Obstbäumen, flöten in der ersten, warmen Sonne und sehen den Kindern zu, die ihre kleinen Papierschiffe in den Gräben der Straße schwimmen lassen. Die Kiebitze rufen über dem Moor, die wilden Gänse ziehen nach Norden.

Der Großvater Michael steht am hohen Seeufer, auf seinen Stab gestützt, und blickt über das graue, aufgehende Eis nach den Wäldern, die sich langsam wieder aus der Öde der Nonnenjahre erheben. Es fröstelt ihn leise, obwohl die Sonne scheint, und es ist ihm, als beginne dieses Jahr anders als sonst. Er kann nicht sagen, woran es liegt, er hat es niemals sagen können, aber sein Blut ist kühler geworden, und als er sich langsam umdreht, läßt er die hellen Augen lange auf den grauen Dächern von Sowirog verweilen. Er fühlt, daß es nun Zeit wird, aber er weiß noch nicht, wie lange der Zeiger sich noch drehen wird. Es ist nichts zu tun für ihn. Kein Menschenweg läßt sich aufhalten oder wenden durch Menschenhand, weder der der Söhne noch der der Enkel. Wie das Wasser zu Tal fließt, läuft der Menschenweg seinem Schicksal zu, unaufhaltsam, und unten steht der alte Gott, milde oder zornig, und fängt die Wege auf oder verwirft sie.

Michael sieht den Rauch des Meilers hell und gerade über die Wälder steigen und die Kinder an den Gräben spielen. Zwei sind nun tot und einer ist im Zuchthaus für lange Jahre, und auch auf den Zurückgebliebenen liegt Gottes Hand. Das Blei verschwindet, das Schmelzen ist umsonst, aber noch einmal wird Gott den Tiegel füllen.

Auch die Menschen wandern im Frühjahr, und auch nach Sowirog führt eine alte Straße. Staub und Öde liegen auf ihr, aber auch durch Staub und Öde kann das Schicksal gehen, wenn es ein Ziel hat. Glumsda geht zwischen ihren Gräben dahin, die Tasche auf dem Rücken, den Stock in der Hand, und Korsanke reitet auf ihr durch die Dörfer, in denen er für Recht und Gesetz zu sorgen hat. Aber die beiden sind es diesmal nicht, die das Schicksal tragen oder die das Schicksal aussendet, um Boten zu sein. Sie haben ihre Bestimmung erfüllt. Glumsda hat neben dem Toten im »Paradies« gestanden und den Brief getragen, der Michael an den Meiler und in den frühen Tod rief. Korsanke ist im Schneesturm zur »Armen Sünde« geritten und hat die Faust gegen den jungen, voreiligen Mann mit dem Karabiner gehoben. Sie haben das Ihrige getan am Webstuhl der Zeit, das Schicksal ruft sie nicht mehr auf.

Es ruft drei andere auf, die es sich ausgewählt hat in der Welt, und schickt sie nach Sowirog. Der eine kommt in der Frühe an, eine Art von altmodischem Ranzen auf den jungen Schultern, einen Stock in der Hand, ein Lied auf den Lippen, aber er weiß nicht genau, ob er aus Fröhlichkeit oder Angst singt.

Der zweite kommt in der Nacht, und er muß manchmal stehenbleiben und sich umsehen, weil er lange nicht dagewesen ist, so lange, daß inzwischen Wälder gestorben und Schonungen aufgestanden sind. Auch fährt er zusammen, wenn der Kauz im Eichenbaum ruft, und auf seinen Lippen liegt kein Lied, sondern ein heimlicher Fluch.

Der dritte kommt um die Mittagszeit. Er singt nicht und flucht nicht. Er zieht einen Wagen mit einem Gestell hinter sich her, und seine kleinen, geröteten Augen gehen tückisch von Haus zu Haus, von Fenster zu Fenster, ob ein Feind oder ein Verfolger hinter den Scheiben steht.

Der erste ist der junge Lehrer, der an Stillings Stelle treten soll. Er kommt ganz frisch aus dem Seminar, und er ist bis zum Rande seines Herzens mit großen Vorsätzen und Liebe, mit Pestalozzi, vielen Idealen und etwas Angst gefüllt.

Der zweite kommt von fernen Ländern und Küsten, aus einem umgetriebenen, wilden Leben, aus Verfehlung und Schuld, und er hat manchen Anlaß dazu, zusammenzufahren, wenn ein trockener Ast unter den Schalen des ziehenden Wildes bricht.

Der dritte ist der »Totschläger«, wie er in der Landschaft heißt. Ein Scherenschleifer, der vor vielen Jahren seinen Nebenbuhler im Gewerbe erschlagen haben soll, aber man hat ihm nichts nachweisen können. Man hat ihn lange hinter vergitterten Fenstern gehalten und dann wieder losgelassen. Er trinkt und flucht, ein roher Geselle, der die Kinder haßt, weil sie hin und wieder den Riemen seines Rades heimlich durchschneiden und Spottlieder hinter ihm her singen.

Alle drei glauben, daß sie von selbst den Weg ins Dorf gewählt haben, daß sie auch in ein anderes Dorf und eine andere Gegend hätten gehen können, nach eigenem Ermessen und eigener Wahl. Sie waren zu jung, zu verstört oder zu stumpf, um zu erkennen, daß das Schicksal sie anstieß und ihre Schuhe lenkte. Kein Schicksal, das auf einem Stein oder an einem Kreuzweg saß, sondern das tief und unerkannt in ihrem Herzen lebte. Ein Teil ihrer selbst, aber sie erkannten es nicht.

Stilling war nun so weit, daß er nach Ruhe verlangte, auch wenn das Gesetz ihn nicht dazu aufgefordert hätte. Es waren zuviel Kinder, und sie waren zu laut für seine Ohren, die nach Stille verlangten. Schwester Elisa, die Bußpredigerin und Heidenbekehrerin, hatte keine lichthungrigen Schüler auf die hohen Schulen geschickt. Sie hatte Pfennig auf Pfennig gelegt und von diesem und dem, was die Lebensversicherung ihr an ihrem sechzigsten Geburtstag auszahlte, ein kleines Haus am Waldrand gebaut. So klein, daß es wie ein Zwergenhaus aussah, aber doch so, daß unten alle Bücher, der Globus und aller Unsinn Platz hatten, den ihr Bruder in seinem langen Leben gesammelt hatte. Sie schenkte ihm das Haus nicht etwa. Er mußte Miete und Kostgeld bezahlen, wie es in der Ordnung war, aber sie war eine milde Herrin, und er war es zufrieden unter ihrer strengen Hand. Sie sollten noch vier Wochen im alten Schulhaus bleiben, bis der junge Lehrer etwas eingewöhnt war.

Elisa nannte ihn mit milder Nachsicht »das Kind«, und Stilling nannte ihn »Benjamin«. In Wirklichkeit führte er den in der Landschaft nicht seltenen Namen Gollimbeck, und das heißt das »Täubchen«. Es war ein gefährlicher Name, und lange Zeit pflegten ein paar der Vorwitzigen unter den Sowirogkindern zu Beginn der Stunden den leisen Lockruf der Tauben nachzuahmen, um es ihrem neuen Lehrer etwas heimatlich zu machen.

Er war einer Witwe Sohn und unter Hunger und Entbehrungen durch seine Ausbildungszeit gegangen. Er war der Meinung, daß sein Beruf dicht neben dem des Kaisers stehe und daß, wenn dem Volke noch einmal ein Zeitalter der Blüte und des Lichtes bestimmt wäre, es von den Trägern dieses Berufes ausgehen werde. Er war groß und schmal, mit einer Fülle hellen, widerspenstigen Haares und sanften, blauen Augen, die die Welt nicht eigentlich aufnahmen, sondern sie bestrahlten und verwandelten, so daß Piontek mit der Ringschleuder ihm wie einer der Erzväter und der verfallene Ziehbrunnen des Dorfes ihm wie der Brunnen Rahels erschien. Er war nicht gehämmert und nicht gehärtet. Er war wie weiches Gold, nach dem die Menschen ihre Hände ausstreckten, aber es war noch nicht zu übersehen, was sie daraus machen würden.

»Er sollte zuerst drei Jahre zu den Aka-Aka gehen«, sagte Elisa und blickte ihm mit zusammengezogenen Augenbrauen nach, »und dann sollte er wiederkommen. Mit einer Weidenrute kann man kein heißes Feuer umrühren.«

»Aber anrühren kann man es, Schwester«, erwiderte Stilling. »Auch ich habe nicht mehr getan, und das Umrühren besorgt schon der liebe Gott.«

Auch ging es besser, als sie gedacht hatten. Seine Jugend machte vieles gut, und es war schwer, vor seinen sanften Augen widerspenstig oder träge zu sein. Auch gab es zu dieser Zeit noch keine Chucholleks in Sowirog.

Stilling führte ihn durch die Häuser und spann die langen Fäden ihres Schicksals vor ihm aus. »Was für ein Land ...«, sagte der junge Martin ergriffen. Sie hießen ihn lächelnd willkommen, und der Großvater Michael sagte »Sohn« zu ihm. »Auch du fängst nun an, Sohn«, sagte er, »und auch du wirst aufhören. Sieh zu, daß du dazwischen das Rechte tust!« Martin stand mit blassem Gesicht vor ihm, und als sie draußen waren, atmete er tief auf. »Ich habe nie gedacht«, sagte er leise, »daß es so schön sein würde ...«

Sie waren auch am Meiler, und dort sah der junge Lehrer Maria. Sie stand vor dem Herde, in dem sie Feuer gemacht hatte, drehte ihnen halb den Rücken zu und sang leise vor sich hin, wie sie in der Einsamkeit des Waldes zu tun pflegte. Ihr Haar leuchtete, und Martin war schon verzaubert, ehe er ihr Gesicht sehen konnte. »Die Sterne wandern, die Sterne stehen«, sang sie. »Wie wird es mir unter den Sternen ergehen?«

Als er aufseufzte wie ein Kind vor dem Geburtstagskuchen, drehte sie sich um. »Dies ist der neue Lehrer, Maria«, sagte Stilling, »und er will aus Sowirog einen Garten Eden machen.«

›Ach du lieber Gott‹, dachte sie, ›er ist ja noch ein Kind, dem man Märchen erzählen kann ... er wird sich verirren und nach seiner Mutter rufen.‹

Beide erröteten, und Martin berichtete hastig, daß der Großvater Michael ihn »Sohn« genannt habe. Ja, sagte sie, auch zum Kaiser würde er »Sohn« sagen. Er sei alt genug dazu, und alle Jeromins seien wohl ein bißchen wunderlich. Ein Schatten glitt über ihre Augen, und Stilling sah, wie ähnlich sie alle einander waren, Eltern und Kinder, und die Geschwister untereinander.

Aber als sie zu Kiewitts Hütte gingen, sagte er zu Martin, daß dies ein dunkles und mühseliges Geschlecht sei, nicht gut, um kopfüber in ihre Schatten hineinzutauchen. Aber Martin hörte nur die Worte. »Wie wird es mir unter den Sternen ergehen?« sang er vor sich hin. »Ach, Herr Stilling, ein Zauberland, ein Zauberland!«

»Ja, mein Lieber, und niemand weiß, was er eben webt.«

Auch Stilling wußte es nicht, auch nicht, als er am Abend vor der Weltkugel saß und sie langsam unter seinen Händen kreisen ließ. Die Sterne waren schon aufgezogen, und der junge Lehrer lag schon lange oben in seiner Kammer und träumte von einem großen Brunnen, um den die Herden der Erzväter sich mit glänzenden Rücken drängten.

Stilling sah die Länder und Meere vorübergleiten, die nächtlichen Kontinente und die, über denen die Sonne eben aufging. ›So viele dunkle Länder‹, dachte er, ›und immer erlischt das Licht in den Händen der Jungen ... alt und müde werden sie wie ich, und niemals steigt der Garten Eden herauf, von dem sie träumen ...‹

Er hob nicht einmal den Kopf, als es leise am Fensterladen klopfte. Den Ast vom Apfelbaum müsse er noch beschneiden, dachte er, ehe er in das Zwergenhaus ziehe. Sonst denke der junge Lehrer, daß es eine Mädchenhand sei, die klopfe, und Enttäuschung tue jungen Herzen weh.

Aber es war keine Mädchenhand, die klopfte. Ein Anker und eine aufgehende Sonne waren auf die braune Hand tätowiert, und die Hand war voller Risse, zersprungen von harter Arbeit vor dem Mast und zwischen schlagenden Segeln.

Nun stand Stilling doch auf, die Knie zitterten ihm plötzlich, und seine Augen, die noch immer auf den dunklen Ländern lagen, glaubten zu ahnen, was der Zauberer webe, von dem er gesprochen hatte. Er öffnete nicht die Laden, sondern ging durch den Flur und die Küche zur Hintertür, die er leise aufschloß.

Da stand der Wanderer, der nur bei Nacht über die Straßen ging. Er hatte keinen Mantel an, aber er hatte den Rockkragen hochgeschlagen, weil es noch reifte in den Nächten. Etwas Verwehtes und Verlorenes lag um seinen dunklen Umriß, und auch seine Stimme war dunkel und ohne Freundlichkeit, als er sagte, daß er nun wieder da sei.

Stilling sagte nichts. Er ließ ihn ein und schloß die Tür hinter ihm wieder ab. Er nahm nicht seine Hand im Dunklen, sondern nur einen Rockärmel und führte ihn leise in den hellen, warmen Raum, in dem die Lampenglocke sich in dem matten Glanz der Weltkugel spiegelte. Der Ofen war noch geheizt, und der junge Stilling lehnte sich mit dem Rücken an ihn, die Hände noch immer tief in den Taschen und den Kragen der Jacke hochgeschlagen.

›Ein Strolch‹, dachte Stilling, indem er ihn ansah. ›Nichts als ein Strolch ...‹

Ja, sagte der Wanderer noch einmal, da sei er nun.

Die Worte kamen rauh zwischen seinen schmalen Lippen hindurch, und die dunklen Augen gingen scharf und schnell im Zimmer umher.

Ob er etwas essen wolle, fragte Stilling leise.

Klar! Pflege kein Gast an der Table d'hôte zu sein. Aus diversen Gründen.

Als der Lehrer aus der Küche zurückkam, das Brett mit den kalten Speisen in den leise zitternden Händen, war der Junge auf der Ofenbank zusammengesunken, nicht viel mehr als ein unordentliches Bündel Kleider, wie ein Erhängter, den man von seinem Strick geschnitten hatte.

Er stürzte sich wie ein Verhungernder auf das kalte Fleisch und das Brot, und Stilling sah ihm zu, in seinem alten Lehnstuhl, in dem er ganz gerade saß, so wie er vor den Schranken eines Gerichts sitzen würde. Auch an der Art, wie einer aß, konnte man sehen, ob er verloren war.

Sie sprachen kein Wort. Erst als das Brett leer war, rollte der Gast sich mit geschickten Fingern eine Zigarette, wozu er den Tabak aus der Tasche nahm, und fragte, wie es mit einem »Drink« sei.

Nein, zu trinken gebe es nichts. Nur kalten Tee, wenn er den wolle.

Er lächelte verächtlich und streckte die Beine von sich. Die Schuhe waren geplatzt, und bei einem war die Sohle mit einem Bindfaden an das Oberleder gebunden.

»Ja«, sagte er dann mit seiner rauhen Stimme, »das ist nun wohl die Heimkehr des verlorenen Sohnes ... keine goldenen Berge geerntet. Ein paarmal dicht davor, aber zwischen den Händen zerronnen. Damn it!«

Gedenke auch nicht zu bleiben. Zu eng, dieser Kontinent. Zuviel Polypen und Kindermädchen. Wieder in die Staaten zurück. Nur Geld bis zum Hafen nötig. Ein bißchen eilig, weil da vor acht Tagen so eine Sache war. »Etwas ausgeräumt, was nicht ganz fest verschlossen war. Waren ein bißchen scharf hinter mir her, aber haben meine Spur verloren ... Wieviel meinst du, alter Herr, könntest du entbehren?«

»Nichts«, sagte Stilling mit klarer Stimme.

Der andere pfiff leise durch die Zähne.

»Ich will dir eine Fahrkarte kaufen und dich in den Zug setzen«, sagte Stilling.

»Danke sehr, alter Herr, aber ich brauche Geld und keine Fahrkarte.«

»Was ich erspart habe, gehört nicht mir, sondern einem der Jerominsöhne, der davon das Gymnasium besucht.«

»Jeromin? Jeromin? Aha ... Wohltäter der Menschheit, kenne das. Auch ich gehöre noch zur Menschheit.«

»Bis zum Tode gehören wir alle dazu.«

Er könne zur nächsten Gendarmeriestation gehen und sich verhaften lassen.

Ja, Korsanke sei immer noch da. Ein humaner Beamter ... es seien nun schon zwei aus Sowirog im Zuchthaus.

»Oha! Zum Beispiel?«

Einer der Czwallinnasöhne wegen Mordes, und ein Jeromin wegen Einbruch und Hehlerei.

»Sieh mal an ... eine ganz nette Gegend.«

Die Nacht über könne er dableiben, nicht länger. Ein neuer Lehrer sei da, der oben schlafe. Und in seinem Alter wolle er niemanden mehr beherbergen, der gesucht werde. Auch weiße Haare könnten schmerzen.

»Allright«, sagte der Sohn. »Immer noch unter dem eifrigen, zürnenden Gott. Erinnere mich von früher ...«

Stilling brachte zwei Decken und ein Kissen und legte sie auf dem alten Sofa zurecht. Der Junge stand daneben und fuhr mit dem Zeigefinger langsam über die weißen Knöpfe, die am Rande des schwarzen abgeschabten Leders entlang liefen. »Immer noch dieselben«, sagte er. »Komisch, wie die Zeit läuft ...«

Er band nur die Schuhe ab und streckte sich dann auf dem Lager aus.

Eine Weile blieb Stilling noch an der Weltkugel stehen und bewegte sie ohne Gedanken um ihre Achse. »Du solltest zu Korsanke gehen«, sagte er endlich. »Ich will es gern auf mich nehmen. Es ist besser als unstet und flüchtig zu sein.«

»Wer auf dem Sofa sitzt, hat gut reden.«

»Man sitzt nicht mehr auf dem Sofa, wenn der Sohn vor Gericht steht. Wir halten hier noch auf einen guten Namen.«

»War immer so, soweit ich mich erinnere. Damals schon. Aber schlage dir Korsanke aus dem Sinn. Geld ist besser als Korsanke.«

Stilling seufzte und nahm die Hand von der Weltkugel, als habe er zwischen allen Ländern und Meeren nach einer Zuflucht gesucht und sie nicht gefunden. »Es bleibt, wie ich es gesagt habe. Wo die Flügel der Morgenröte nicht hintragen, trägt auch das Geld nicht hin ...«

Er nickte dem Liegenden zu, nahm die Lampe vom Tisch und ging leise aus dem Raum.

Eine kurze Nacht für Erschöpfte oder Träumende, eine ewige Nacht für den, der Gott um Rat fragt. Aber Gott war nicht da, er hatte nur die steinernen Tafeln ausgelegt, und sie waren auch im Dunklen zu lesen. Du sollst. Du sollst nicht. »Auf daß es dir ...« Ja, auf daß es dir wohlgehe auf Erden. Es sollte gar nicht wohlgehen, es sollte nur in Ehren gehen. Wer fünfundvierzig Jahre im Dienst des Staates gewesen war, wußte, daß die Ehre eine eherne Hand hatte, eherner als die Liebe. Sie schlug zu, und die Jahre zersplitterten wie Glas. Es war nicht gut, sich gegen sie zu erheben.

Es war auch ohne Zweck, denn der dort drinnen war noch nicht am Ende. Er war weder satt noch gedemütigt. Er wollte noch mehr haben von der Welt. Er war nur ein bißchen müde im Augenblick und ein bißchen gejagt. Auch der Wolf flüchtet sich in seine Höhle, bis der Jäger die Spur verloren hat. Aber einmal würden sie ihn doch fangen. Auch auf weißen Haaren liegt Gottes schwere Hand.

Das war nun, was sie den »Lebensabend« nannten. Im reinsten und klarsten Hause konnten die Gespenster stehen. Im Staate war es so, daß man mit dreißig Jahren seine Prüfungen beendet hatte. Mehr wollte der Staat nicht wissen, er sah nur zu, ob man das Seine tat. Aber Gott prüfte länger. Er schlug die Seiten um, und plötzlich fiel ihm ein Name ein. »Geprüft und bestanden« war daneben eingetragen. Oh, das war lange her, vierzig, fünfzig, sechzig Jahre. Wollen sehen, wie es heute ist. Und er schickte Krankheit, Armut, Schuld, oder eben einen Sohn. Niemand ist reicher an Fragen als er, niemand achtet weniger auf weiße Haare als er. Weiße Haare sind ein Zoll der Natur, nicht mehr. Keine Eintrittskarte für die Säle des Friedens. Nur der Tod gibt sie aus, und er läßt sich teuer bezahlen.

Morgen, um die Mittagszeit etwa, wird er also zu Korsanke gehen. Keine Apfelbäume beschneiden, sondern den Weg der Pflicht gehen. Fünfundvierzig Jahre, dem Staate gegeben, lassen ihre Zeichen zurück. Wer etwas vor dem Staate vergräbt, macht sich schuldig. Wer Kinder lehrt, hat recht zu tun, mehr als andere. Kinder dürfen nicht irre werden. »Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen.« Auch Schweigen kann falsch Zeugnis sein.

Der erste Hahn kräht, und die ferne Stimme geht wie ein Trompetenstoß durch seine Schlafkammer. Nein, nein, er wird nicht verleugnen, er gewiß nicht. Sein Blut kann man verleugnen, aber nicht Christi Wort. »Es soll einerlei Recht sein für euch alle.« So steht es geschrieben, so ist es zu halten. Es steht nicht geschrieben, daß Väter ein anderes Recht haben als Kinderlose. Und auch davon steht nichts geschrieben, daß das weiße Haar dem Recht ausweichen dürfe.

Andere Hähne krähen, ferne und nahe, immer mehr. Genug an einem. Gott braucht ihn nicht so gering zu achten, daß er ihm so viele schickt. Eine Tür geht leise, noch eine ... in Gottes Namen also.

Die Decken waren nicht zusammengelegt, das Zimmer roch nach kaltem Rauch, die Asche war auf den Fußboden gestreut. Ein Lichtstumpf stand auf dem Tisch, und daneben lag die große Bibel aufgeschlagen. Als Stilling sich über die Blätter beugte, sah er ein großes rotes Kreuz an den Anfang eines Verses gemalt. »Ein Verleumder verrät, was er heimlich weiß; aber wer eines getreuen Herzens ist, verbirget dasselbe.«

Er blickte lange auf die Verse nieder und schüttelte den Kopf. Es war nicht gut, die Bibel über eine Sünde zu legen. Man legte auch nicht Goldstücke auf die Augen eines Toten, sondern Kupfermünzen.

Er öffnete die Fenster und machte die Läden auf. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber die Flügel der Morgenröte hingen schon über dem Dorf. Die Tür zum Flur war geöffnet, und er sah, daß sein Wintermantel fehlte. Es war ein neuer Mantel, warm und schwer. Er würde gut sein für jemanden, der eine heißere Sonne gewöhnt war.

Korsanke saß in seinem kleinen Garten an der Rückseite des Hauses und drehte einen trockenen Zweig zwischen seinen Händen. »Nein, ich will es nicht tun, Stilling«, sagte er leise. »Ich will es nicht tun. Ich habe einen Eid geleistet, so wie du auch, aber es steht nichts davon geschrieben, daß ich Schmutz auf ein weißes Haupt zu werfen habe. Ich bin es müde, weißt du, ›im Namen des Königs‹ anzuklopfen. Wenn sie ihn kriegen, wird er schweigen, und wenn er nicht schweigt, wirst du schweigen. Und wenn du redest, nun, dann will ich es auf mich nehmen. Aber ich denke mir, daß die Polizei ruhig ein paar Sachen dem lieben Gott überlassen sollte. Es wäre besser für die Polizei, denke ich mir. Es sind nicht die besten Schüler, die immerzu den Zeigefinger aufheben.«

Nein, das seien sie sicherlich nicht, erwiderte Stilling.

»Und was denkst du wohl, was sie von Jons reden werden, dort auf seiner Schule«, fuhr er fort, »wenn sie das erfahren? Meinst du nicht, daß sie schon genug zu reden haben?«

Ja, das meinte Stilling auch, und daran hatte er noch nicht gedacht.

Sie schwiegen nun und ließen sich beide von der Sonne wärmen. Über den Feldern hingen die Lerchen in der blauen Luft, und am Fluß sangen die Kinder ein Reigenlied.

»Man muß nicht gerechter sein als Gott«, sagte Korsanke endlich. »Man macht ihn sonst überflüssig ...«

»Was wollte er?« fragte seine Frau, als Stilling gegangen war.

»Er hat jetzt zuviel Bienenstöcke für seinen kleinen Garten, und er will mir ein paar abgeben ... er denkt immer mehr an andere als an sich selbst ...«

Der Dritte kommt um die Mittagszeit.

Es ist ein heißer Tag, der Sand stäubt schon auf der einsamen Straße, und die schmalen Räder des Scherenschleiferwagens gleiten immer wieder in die tiefen Geleise, aus denen der Mann sie mit einem Fluch herausreißt. Er ist böse und wild heute vom Morgen an. Von einer tückischen Wildheit, die ihn mit Steinen nach dem Buchfink werfen läßt, der in der Birke sein kurzes Lied singt. Es ist Gründonnerstag, und die Leute bringen keine Messer und Scheren vor die Türen. Sie haben große Kringel gebacken, tragen Feiertagskleider und schließen die Küchentür ab, wenn sie seine heisere Stimme draußen hören. Er ist lange nicht dagewesen, ein paar Jahre lang, aber sie haben nichts vergessen. Sie haben ein Gedächtnis wie ein halb trockener Sumpf, der jede Spur bewahrt.

Der Totschläger wollte einen Umweg um Sowirog machen, weil er das Dorf haßte, mehr als andere Dörfer. Aber da es nur eine Straße gab, so hätte er den Umweg durch die Wälder machen müssen, und der Wagen liebte keine Wälder. So wollte er auf der Bank vor dem Dorfkrug essen und eine kleine Flasche Schnaps trinken. Auch war der Krugwirt der einzige, mit dem sich reden ließ. Die Söhne waren »futsch«, aber ein kleines Geschäft ließ sich auch noch mit dem Alten machen.

Das Dorf war wie die anderen Dörfer, feiertagssatt und verschlossen. Nur die Kinder waren wacher hier als anderswo. Sie sangen keine Spottverse, aber sie standen vor den Hoftoren, die Hände in den Taschen oder auf dem Rücken, schweigend, aber mit funkelnden Augen, und ab und zu spie eines so deutlich aus, daß es nicht mißzuverstehen war. Am liebsten hätte er sich gleich auf die nächsten gestürzt, aber dann würden die anderen sich über seinen Wagen hergemacht haben. Er wußte schon, daß sie darauf warteten. So sah er sie nur von der Seite mit seinen geröteten Augen an. Sie wichen ein paar Schritte zurück, so daß die Haustür näher war, und dann folgten sie ihm auf ihren bloßen Füßen. Es war ein schweigender Einzug, und er knirschte mit den Zähnen, als er sich auf die Bank vor dem Dorfkrug setzte.

Er aß trockenes Brot mit Speck und trank aus einer kleinen weißen Flasche Schnaps dazu. Viel Schnaps. Er warf eine Brotrinde vor die Füße der Kinder, aber sie pfiffen nach ihren Hunden und sahen zu, wie sie sich um die Beute balgten. Dann jagten sie sie wieder fort.

Die Sonne schien heiß, und der Scherenschleifer wurde müde. Er nahm seinen Wagen und verschwand in der Einfahrt. Am andern Ende gab es eine Tür in den Garten, dort konnte er schlafen, bis es ihnen zu langweilig wurde. Den Wagen versteckte er hinter leeren Bierfässern und warf ein paar alte Säcke darüber. Die Kinder flüsterten miteinander und zerstreuten sich dann. Czwallinna hatte alles mit angesehen, die schweigenden Kinder, den Totschläger mit der Flasche und wie er den Wagen versteckte. Er war nun alt geworden, und sein grauer Schnurrbart hing ihm dünn und traurig an den Mundwinkeln herunter, aber in seinen schiefen Augen glühte noch immer dasselbe Licht. Er war nicht fortgezogen, aber er hatte nicht vergessen, daß sie ihm sein Geld und seine beiden Söhne gestohlen hatten. Er würde niemals vergessen.

Als die Sonne um das Haus herumgegangen war und in den Garten hinabbrannte, stieg er aus der Kellertür leise zu den leeren Fässern hinauf, durchschnitt die Riemen des Scherenschleiferwagens mit einem alten Rasiermesser und zog die Tür wieder lautlos hinter sich zu. Wenn der Gott des Alten Testamentes die Sünden der Väter an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied rächte, so stand ihm wohl frei, sie am zweiten Gliede zu rächen. Und das zweite Glied stand dem Herzen näher als das vierte.

Bevor der Scherenschleifer erwachte, hatten die Kinder ihn und seinen Wagen vergessen. Zuerst hatte sich ein Igel in den Straßengraben verirrt, und dann war der Pfarrer über den See gekommen. Der Pfarrer hatte sich in seinen Mußestunden ein neues Gespräch mit seinem Widersacher ausgedacht: er hatte in eines der schmalen Kielboote einen Mast gesetzt und zu segeln begonnen. Er hatte niemals in seinem Leben ein Segel in der Hand gehabt, und die Leute von Sowirog schüttelten den Kopf, wenn sie im Sturm das weiße Dreieck auf dem Wasser erblickten. Manchmal schien es ihnen, als tauche die dünne Mastspitze in die weißen Wellenkämme und als hinge ihr Pfarrer auf der Ruderbank wie auf dem See Genezareth die Jünger, die »verderben« sollten. Aber er zuckte nur die Achseln, wenn er ausstieg. »Ich gebe ihm eine Gelegenheit«, sagte er, »aber er will nicht. Es scheint mir, daß er Angst hat, mehr als ich, und wer Angst hat, hat ein schlechtes Gewissen.«

Auch jetzt kam der Pfarrer herüber, schräge mit seinem Boot auf dem Wasser liegend, denn der Wind wehte scharf den See herunter, und sie sahen gleich, daß er wieder getrunken hatte. Aber bei ihm war es anders, als wenn ihre Väter getrunken hatten, und sie halfen ihm still aus dem Boot. Ob sie etwas fahren dürften, fragte der Mutigste zaghaft. Aber er schüttelte den Kopf. Ohne Segel ja, erwiderte er, aber sonst nicht. Es lägen genug von ihnen dort unter den kleinen Hügeln, die er noch nicht vergessen habe. Der andere habe ein schlechtes Gedächtnis, aber er habe nichts vergessen, er nicht.

Er sah schwermütig von Gesicht zu Gesicht, mit seinen traurigen Augen, die der leise Rausch noch trauriger machte, und stieg dann zum Jerominschen Hause hinauf, wo Jons ihm schon entgegenkam.

Ja, Jons war nun Primaner, aber nicht das wollte er ihm erzählen, sondern daß er nun eingesegnet sei und daß er sich geweigert habe, das Abendmahl zu nehmen.

Sie saßen an der Hinterseite des Hauses in der Sonne, und der Pfarrer hatte den grauen Kopf gegen die alten, rissigen Balken gelegt. Er zeigte keinen Triumph in seinem Gesicht. Er sagte nur, daß es besser sei, man schütte einen Becher zu früh aus statt zu spät. Aber dann wollte er wissen, weshalb nur das Abendmahl? Weshalb nicht das Ganze? Es sei ihm so in der Erinnerung, als werde ein Glaubensbekenntnis dabei gesprochen.

Das müsse er mit sich allein abmachen, erwiderte Jons. Wenn er es nicht gesprochen hätte, so würde man ihn nicht eingesegnet haben, und lieber würde er zehn falsche Eide leisten als einen neuen Kummer auf seines Vaters Herz legen.

»Ich denke, Jons«, sagte Agricola langsam, »daß dein Vater niemals Kummer am Buchstaben gehabt hat, an der Form, am Dogma. Er hat nur Kummer am Geist. Wenn du gespottet hättest über die Handlung, wäre er traurig gewesen. Sonst nicht. Auch er sieht ihn jetzt nicht, den großen Unbekannten, er ahnt ihn nur. Ich aber, ich ahne ihn nicht einmal. Ich will ihn nicht ahnen, denn es ist mir schwer, Anklage zu erheben. Ich bin kein Staatsanwalt. Ich war nur ein Kinderanwalt, und wenn ich ihn ahnte, müßte ich auf Kindermord klagen. Und auf Kindermord steht der Tod.«

Unter der Maske seiner Worte und seines Rausches sah Jons die tiefen Falten eines hoffnungslosen Grames. Und er dachte sich, daß der Pfarrer wie ein Mann war, den man an seinen Todfeind gekettet hatte. Er hatte den Todfeind getötet, aber er war nicht frei geworden. Die Ketten hielten sie immer noch zusammen, und war ein toter Feind im Arm nun leichter als ein lebender, der hinter den Wolken stand?

»Es ist noch nicht das letzte Wort, das du gesprochen hast, Jons«, sagte der Pfarrer. »Und vielleicht gibt es in diesen Dingen gar kein letztes Wort. Es gibt immer nur ein vorletztes für uns ... kann sein, daß das letzte er hat ... die ganz Großen bleiben immer im Nebel, Jons. Schon hier auf der Erde. Wieviel mehr als zwischen Himmel und Erde ... Was haben sie nun auf der Schule gesagt, Jons?«

Jons zuckte die Achseln. »Aussatz, Herr Pfarrer«, erwiderte er dann finster.

Agricola nickte. »Alle Denker waren Aussätzige, Jons. So rächt er sich für das, was ihm bei der Schöpfung wider Willen in die Hand kam. ›Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum.‹ Das ist es, was er nie vergibt. Das Denken ist der Tod Gottes, und er hat ihn uns in die Hand gegeben, seinen eigenen Tod. Er möchte es wieder zurück haben, aber es ist zu spät, wir geben es nicht mehr zurück.«

Er hob die rechte Hand mit geöffneten Fingern und schloß sie langsam zu, so fest, daß die Haut über den Knöcheln weiß wurde. Es sah aus, als halte er den Tod in seiner Hand.

Weit aus der Ferne kam der heulende Ruf eines Dampfers von dem großen See hinter den Wäldern. Er war so fern, daß er wie der Ruf einer Rohrdommel klang, aber er drang bis in den berauschten Schlaf des Scherenschleifers. Die Sonne neigte sich schon und blendete seine schmerzenden Augen. Es dauerte eine Weile, bis er sich erinnerte, wo er war, und es war keine gute Erinnerung. Es war weit bis zum nächsten Dorf, Feiertage standen vor der Tür, ohne Verdienst, und er würde froh sein, einen Heuschober auf den Wiesen zu finden, wo er das Osterfest verschlafen konnte.

Er stand mit einem Fluch auf, um seinen Wagen zu holen, und als er die Säcke fortgezogen hatte, sah er, was geschehen war. Er bückte sich gar nicht, um den Schaden zu prüfen, eine rote Flamme stand vor seinen Augen, und das letzte, was er sah, war eine Eisenstange, mit der man Steine aus den Feldern hob. Er riß sie an sich und stolperte auf die Straße.

Die Kinder hatten ihn vergessen. Zuerst war der Igel gewesen, dann der Pfarrer mit dem Segelboot, und nun standen sie alle auf Jeromins Hofplatz und sahen zu, wie Christean an einem Engel schnitzte, der ein Licht in beiden Händen tragen sollte. Die Hände waren erhoben, vorsichtig, wie Kinder eine Speise tragen, und das Gesicht ließ schon den halb besorgten und halb beseligten Ausdruck erkennen, mit dem der Tragende und langsam Schreitende auf seine unsichtbare Flamme blickte.

Jons hatte einen Tisch für Christean in die Sonne getragen, und da standen sie nun atemlos und sahen zu, wie das scharfe Messer vorsichtig über das weiße Holz glitt.

Es war kein guter Platz für sie. Haus und Stall lagen im rechten Winkel zueinander, und der freie Platz zwischen den Giebeln war mit geschnittenen Brettern gefüllt, aus denen Jakob den Anbau aufrichten wollte, an dem er so viele Jahre geplant hatte. Aber es war ein guter Platz für den Totschläger, und als er an den Gartenzäunen entlanggeschlichen kam und seine Widersacher plötzlich alle versammelt sah, ihm den Rücken wendend, ahnungslos wie Fische vor den beiden Flügeln eines Netzes, schrie er einmal auf. Ein heiserer Schrei, der ihm wider Willen entfuhr und den er gern begraben hätte, weil ein vielstimmiger Schrei der Todesangst ihm folgte, der bis in die fernsten Winkel des Dorfes drang.

Der Scherenschleifer war nicht ganz sicher auf den Beinen, aber sicherer als die, die ihn heranstürmen sahen, eine Eisenstange in der Hand, Schaum vor dem Munde. Er schrie nicht mehr, und auch die Kinder schwiegen. Wie ein lautloses Tier jagte er auf den Dorfplatz zu, ein Bär aus den Wäldern, mit kleinen, blutunterlaufenen Augen, die nicht wußten, welches Opfer er zuerst zerschmettern sollte.

Nun erst stoben sie auseinander, noch einmal mit gellenden Schreien. Ein paar der Schnellsten gewannen die Straße, ein paar die Stalltür, aber die meisten hingen verzweifelt an den Bretterstapeln, wo sie die nackten Füße in die schmalen Fugen setzten und von den unten Stehenden wieder zurückgerissen wurden. Der Tisch war umgestürzt, der Engel lag im Staube, und Christean, halb über den Tisch geworfen, suchte mit seiner Hand nach den Krücken, die er nicht erreichen konnte.

Und dann stand der Pfarrer zwischen Christean und dem Totschläger. Er war so schnell auf den Hof gekommen, »als hätten ihn Flügel getragen«, wie die Kinder nachher sagten. Er hatte keine Waffe, er hob nur die rechte Hand gegen die Eisenstange, während die linke mit geöffneten Fingern nach hinten tastete, als wollte sie Christeans Scheitel oder den der anderen Kinder finden. Sein Gesicht war nun ohne Gram oder Rausch, und Jons und der Totschläger waren die einzigen, die sahen, wie es lächelte.

In Jons' erhobenen Arm fiel das Lächeln wie ein Zauber, der alle Bewegungen ersterben ließ, aber in des Totschlägers Augen löschte es den letzten schmalen Rest von Besinnung aus. Er ließ das Eisen fallen. Es schlug mit einem dumpfen, häßlichen Laut in das graue Haar des Pfarrers, und der Getroffene sank langsam in die Knie und dann vornüber auf die Stirn, während seine Hände noch immer in der früheren Gebärde blieben, die rechte nach vorn ausgestreckt, als trage sie ein beschwörendes Zeichen, die linke nach hinten greifend, als suche sie eine Stirn, die es zu beschützen gelte. Blut rieselte über seine Schläfen und färbte langsam den Sand des Hofes.

Als Jons sich auf den Totschläger warf und mit ihm zusammen zu Boden fiel, kamen die Männer und Frauen schon aus allen Häusern gestürzt. Sie fanden den Scherenschleifer halb erwürgt und ihren Pfarrer regungslos auf seinem Gesicht liegend. Er lag wie auf einem roten Tuch, und zu seinen Füßen, von der Tischplatte heruntergeschleudert, lag Christeans Engel im Staub, die Hände erhoben und mit besorgtem und beseligtem Ausdruck in den weißblauen Himmel blickend.

Der Pfarrer erwachte nur noch einmal, und auch das war gegen die Voraussage des Arztes. Es war nach Mitternacht, und der Karfreitag hatte schon begonnen. Er lag in Jakobs Schlafkammer, und sein Gesicht unter dem schweren weißen Verband war schmal wie unter einem Helm. Die Tür zur Küche hatten sie ausgehoben, und als er die Augen öffnete, konnte er das rote Feuer im Herd sehen. Er konnte auch die vielen, schwarz gekleideten Menschen sehen, die an den Wänden standen und saßen, aber sie erschienen ihm nur wie Schatten, die auf einer Reise Rast gemacht hatten.

Jons kniete an seinem Bett, und bei ihm ließ er seine Augen endlich ruhen. Nach einer Weile erkannte er ihn, und auch ein Teil der Erinnerung mußte ihm wohl wiederkehren, denn seine Augen gingen plötzlich suchend durch die Kammer und die halbdunkle Küche.

»Keinem ist ein Haar gekrümmt, Herr Pfarrer«, sagte Jons.

Der Sterbende lächelte, aber dann machte er mit seiner rechten Hand Jons ein Zeichen, und Jons legte sein Ohr an den Mund des Pfarrers. »Er hat ... das letzte ... Wort ... behalten«, sagte die kaum hörbare Stimme, und sein linker Mundwinkel verzog sich leise in demselben stillen Spott, den er bei seinen großen Streitgesprächen gezeigt hatte.

Darauf sagte er nichts mehr. Seine Augen gingen noch ein paarmal suchend über die niedrige Decke der Kammer und durch die Schatten der beiden Räume, als suchten sie seinen großen Widersacher, aber dann verdunkelten sie sich wieder, und das Bewußtsein verließ ihn. Als er zum letztenmal geatmet hatte, war nur das leise Lächeln um seinen linken Mundwinkel geblieben, eine kaum merkbare Falte, die mit spöttischer Verwunderung über das erstarrende Antlitz lief.

Das letzte, was Jons sah, als er die Kammer verließ, war die Gestalt des Großvaters, der hinter dem Toten stand, auf seinen Stock gestützt, und in die Ferne blickte. Als habe der Tod sich wieder geirrt und er blickte dem Davongehenden nach, ob er nicht noch einmal umkehren werde.

Zum erstenmal glaubte Jons zu sehen, wie unendlich alt und verlassen der Großvater war.

Sie hatten ihren Pfarrer still begraben wollen, am Ende der kleinen Hügelreihe, die ihn aus seiner Bahn geschleudert hatte. Es war ihnen zumute, als habe Gott sie nun ganz und gar verlassen, und am liebsten hätten sie ihn bei Nacht begraben, nur um kein fremdes Gesicht zu sehen.

Aber es war nun doch anders gekommen, und ihre Dorfstraße reichte kaum aus, um alle Menschen aus den Dörfern weit in der Runde zu fassen. Es war wie bei der Einweihung ihrer Kirche, nur daß es keine großen Herren waren, die zum Geläut der beiden Glocken aufsahen. Sie hatten den Pfarrer auf dem Jerominschen Hofplatz aufgebahrt, nicht in der Kirche, und auch das hatte Jons entschieden. Der junge Pfarrer, den sie endlich bekommen hatten und der in zwei Oberstuben beim Schulzen wohnte, ging unruhig von einer Menschengruppe zur anderen und blickte von Zeit zu Zeit ratlos auf die dunkle Frau, die von der Insel herübergekommen war und nun neben dem Sarge stand, als fürchte sie, daß jemand ihn vor der Zeit forttragen könnte. Er hatte vom Konsistorialrat Verhaltungsmaßregeln erbitten wollen, aber dann hatte er es doch gelassen. Nur wußte er immer noch nicht, was er eigentlich sagen wollte und wie es ausgehen würde.

Doch wurde er seiner Sorgen zu einem Teil enthoben, als der Wagen mit den beiden Pferden, den sie kannten, die Dorfstraße entlang gefahren kam, am Fuß des Kirchenhügels hielt und der große Herr im schwarzen, hochgeschlossenen Rock ebenso langsam wie damals ausstieg. Er trug das graue Haar immer noch unbedeckt, aber über seinem Arm lag ein Talar, und der Wind spielte in seinen schwarzen Falten, als der Geistliche nun zum Jerominschen Hause gegangen kam.

So wie damals sah er erst von Gesicht zu Gesicht, mit ernsten und bekümmerten Augen, in denen doch eine große, ruhige Würde lag, ehe er zum Sarge trat und still betete, wie er damals vor dem unfertigen Altar gebeten hatte. Dann reichte er der dunklen Frau die Hand, die sie zögernd nahm, sprach ein paar leise Worte mit ihr und dann ebenso mit dem jungen Pfarrer, der ihn verwirrt an der Haustür erwartete.

Als er, mit dem Talar bekleidet, wieder heraustrat, stimmten die Kinder, um den jungen Lehrer Martin geschart, ihren Gesang an, die Glocken waren verstummt, und nur die Lerchen fuhren fort, hoch oben in der blauen Osterluft ihre Liebeslieder zu singen.

Dieser Tote, begann der Oberkonsistorialrat, den er damals zu suchen gekommen sei, weil er für eine Weile in die Stille gegangen sei, sei nun noch weiter von ihnen fortgegangen, in eine noch tiefere Stille, in die kein Menschenwort mehr hineinreiche. Aber er habe gemeint, wenn er überhaupt noch jemals an einem Sarge stehen wolle, dann sei es dieser Sarg, und so sei er gekommen, um noch einmal in Demut vor dem Sterblichen seines Bruders zu verweilen, ehe es sich in das Unsterbliche verwandle.

»Meines Bruders, sage ich«, fuhr er fort, »denn der damals auf jener Insel vor dem Feuer vor mir saß, war mir wie ein junger Bruder, vom gleichen Blut, vom gleichen Leid, von der gleichen Wahrhaftigkeit, aber der Glanz der Jugend war noch um seine Stirn, ein wilder, tödlicher Glanz, der ihn die Hand gegen den Vater erheben ließ, wie wir alle sie einmal erhoben haben.

Ich habe ihm nicht helfen können. Niemand konnte ihm helfen. Man konnte Feuer in seinem Herde machen, ihm Speise kochen und ihn wärmen. Man konnte ihm zeigen, daß unter den Menschen die Treue und Güte nicht erstorben waren, aber man konnte ihm nicht Gottes Treue und Güte mehr zeigen. Er hatte seine Augen blind geweint über den Särgen der Kinder, und in ihrem Sterben war ihm auch Gott gestorben. Er ging von uns fort. Er schüttelte unsren Staub von seinen Füßen. Er war ein Bruder der Schakale und ein Geselle der Strauße.

Aber er war nicht weit genug fortgegangen, als daß er dem Menschengericht hätte entgehen können. Niemand entgeht ihm, der nicht glaubt, was die Menschen glauben. Sie können verzeihen, daß jemand nimmt, was ihnen gehört. Sogar daß jemand tötet, was ihresgleichen ist. Aber niemals, daß jemand aufhört zu glauben, was sie glauben. Die Abtrünnigen sind ihnen schlimmer als die Mörder.

Aber das Gericht traf ihn nicht, denn er hatte eine Freistatt gefunden. Er hatte eine Frau gefunden, die sein versteintes Herz erwärmte, und er hatte eine Gemeinde gefunden, der sein Kleid nicht mehr als ein Kleid war. Er hatte es fallen lassen, und sie verdoppelte ihre Liebe, weil er nackend war und fror. Viele von denen, die ihn verdammten, hätten all ihre Kleider hingegeben, um solch eine Gemeinde zu haben.

Er aber fuhr fort, mit seinem Gott zu reden. Er hatte ihn abgesetzt als einen Gott, der seine Kinder erwürgt hatte, aber der Abgesetzte stand vor seiner Tür. Und er ahnte, daß er dort stand. Er hatte sein Bild zerschlagen und ihm geflucht, weil er sein ganzes Leben lang um seines Namens willen gelitten hatte. Sein Buch war ihm ein Trug und eine große Täuschung, aber er hörte nicht auf, in ihm zu lesen. Er goß seinen Wein über die Blätter mit den heiligen Worten und sprach ihnen Hohn. Er forderte den Toten heraus, daß er erscheine und sich rechtfertige. Er trat ihn in die Erde, tief in die Erde, und wälzte Steine über sein Grab, aber manchmal, in der Abenddämmerung, vor seiner Herdflamme, drehte er sich schnell um, weil ihm ahnte, daß der Tote vor der Tür stand. Meine Lieben, keiner von uns hat so mit seinem Gott gerungen wie er.

Und vielleicht hat keiner von uns so geglaubt wie er, der nicht glauben wollte. Denn er hat seinen Glauben mit dem Tode besiegelt. Es waren ja nicht die Kinder, für die er den Schlag aufhielt und empfing. Die Kinder waren nur ein Bild, das nicht in Scherben fallen sollte. Hinter dem Bilde aber stand Gott. Der Totgeglaubte war wieder da. Wer für ein Kind sein Leben gibt, gibt es für Gott. Er kann es leugnen und verlachen, aber er gibt es für Gott. Kein Ungläubiger hat auf dieser Erde vor einem Kinde haltgemacht, vor tausend Kindern, wenn sie zwischen ihm und seinen Zielen standen. Nur die Gläubigen machen halt vor einem Kinde. Sie können es die Barmherzigkeit nennen oder das Weltgewissen oder die Liebe, aber es ist Gott. Es sind nur andre Namen, aber es ist Gott.

Gott hat diese Stirn zerbrochen, aber er hat sie mit einer Krone zugedeckt, und vor ihr verblassen alle Kronen der Könige dieser Erde. Immer noch, selbst zu diesen Zeiten, ist Unrecht leiden edler als Unrecht tun. Vielleicht ist es nicht besser, und sicherlich ist es nicht klüger. Aber Adel hing nie an Vorteil oder Klugheit.

Niemand weiß, wie lange dieses Dorf stehen wird oder seine Kirche. Aber lange noch, wenn Steine und Balken verstreut oder verbrannt sein werden, wird das Gedächtnis an diesen Toten leuchten, der den Namen des Dorfes eingeschrieben hat in das Buch der Ewigkeit. Der seinem Vater geflucht hat und dessen letzter, nicht gewußter Gedanke doch der gewesen ist: ›Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen.‹

Er hat sich aufgemacht, und wir sehen ihm nach. Er war am Wort verzweifelt, zu dem sie die Lehre entstellt hatten, und Gott gab ihm, wonach er ein Leben lang sich verzehrt hatte: Segen in seine Hände. In die Hand, die sich dem Tode entgegenhob, und in die Hand, die sich nach rückwärts über das junge Leben breitete. Wer von uns wird jemals so gesegnet werden?«

Sie begruben ihn neben dem letzten der kleinen Hügel. Es war das Grab der kleinen Goguntochter, die der Tod zuletzt geholt hatte.

Als der Geistliche wieder abfahren wollte, machte der Großvater Michael das Zeichen des Kreuzes über ihn, und der Herr von Balk hielt ihm den Wagenschlag. Größere Ehre war ihm in seinem ganzen Leben nicht erwiesen worden.


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