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IX

Nach der Ernte kam Herr von Balk in die Stadt, stand am späten Nachmittag auf dem engen Schulhof des Gymnasiums, in seinem langen, gelben Mantel, und betrachtete durch sein Einglas die Schüler, die sich lärmend die Treppe hinunterdrängten, als befinde er sich auf einer Zuchtviehauktion oder auf einem Remontenmarkt. Aber es gefiel ihm nicht sehr, was er sah, und er bemerkte mißbilligend, daß zu viele der Jungen Brillen trugen und daß ihre Haltung nicht so war, daß er sie sich in seiner Schwadron gewünscht haben würde.

Er hatte erfragt, daß Jons Nachmittagsunterricht hatte, was er für eine barbarische Rückständigkeit hielt, und erwartete ihn hier. Die Pension war ihm zu abgelegen gewesen, und außerdem entsann er sich, daß alle Pensionen nach kaltem Kohl rochen, was er für sein Leben nicht ausstehen konnte.

Er sah Jons herunterkommen, langsam, allein und in Gedanken. Stirn und Augen schienen ihm immer noch von bemerkenswerter Schönheit, aber er fand, daß er verarbeitet aussah und daß es ihm guttun würde, vier Wochen im Sattel zuzubringen. Ab und zu mußte man sich für einige Zeit über die Umwelt erheben, und der Rücken eines Pferdes war das beste dafür. »Hallo, Jons«, sagte er, »die Erde steht noch.«

Es war zu sehen, daß Jons sich freute. Seit Gina und Gotthold hatte er keinen Besuch gehabt. In die Pension wolle Herr von Balk wohl nicht kommen? Nein, das wollte der Rittmeister nicht. »Von wegen dem Kohl, mein Lieber.«

Aber Jumbo sei da.

Jumbo? Was für ein Jumbo? Ein Schwarzer?

Nein, ein Student, und er sei der einzige Freund, den er habe.

»Reicht aus, Jons«, sagte Balk. »Mehr als ich habe. Aber bringe ihn mit, wenn er ordentlich ist. Wollen zusammen im Hotel essen.«

Es wurde ein großer Abend, selbst für den skeptischen Jumbo. Nicht weil sie unerhörte Sachen aßen und tranken, in ein Varieté gingen, wo sich die Leute platt auf der Erde oder in der Luft bewegten und nachher in großartigen Sesseln in der Halle saßen. Sondern weil Herr von Balk da war, und er ein Mann war, der Jumbo ausnehmend gefiel. »Siehst du«, sagte er, als sie eine Weile allein waren, »dafür bin ich nun eines Gastwirts Sohn. Kellnerbehandlung ist ein ganzes Kapitel der Psychologie, aufschlußreicher als Kaffeesatz, Handlinien und Sterne. Da ist nun ein Stand, von dem die meisten Menschen denken, er sei schon am Tage der Austreibung aus dem Paradiese begründet worden und allein zu dem Zweck, daß ein Mensch, der zwanzig Mark auszugeben hat, sich als ein Gott vor dem fühlt, der sie einzunehmen hat. Für sie ist ein Kellner gar kein Mensch. Er ist ein mit einem Frack bekleideter Automat, der sofort und ohne eine Sekunde des Zögerns Speisen und Getränke auszuliefern hat, sobald man ein Geldstück in seinen Schlitz wirft. Es gibt so Leute aus der Provinz, weißt du, die vor einem Kellner Großstadt spielen, und er hört geduldig zu. Nirgends gibt es soviel Geduld wie bei ihm. Für die Talmigroßstädter, für die Großschlächterswitwen mit Brillantringen, für Liebespärchen, für Leute, die zum erstenmal in einem Hotel sitzen und aus Angst vertraulich werden. Und eines merke dir für alle Fakultäten, Mönchlein: wer an den Speisen und Getränken dieser Erde am lautesten herumnörgelt, stammt todsicher von kleinen Leuten aus der Provinz.«

»Und Herr von Balk nun?« fragte Jons lächelnd.

»Herr von Balk ist ein Herr. Er kann mit dem Oberkellner über den Kaiser sprechen oder über seine Frau auf dem Mistwagen oder über diesen wunderbaren Rotwein: der Oberkellner wird immer wissen, daß ein Herr zu ihm spricht. Und das werden wir beide niemals lernen, Mönchlein.«

Auch Herr von Balk war mit Jumbos Weltbetrachtung und seiner Art, guten Wein zu trinken, einverstanden. »Einen ordentlichen Freund hast du, Jons«, sagte er. »Wünschte, ich hätte jemanden, mit dem ich ab und zu ein Männerwort reden könnte. Aber ich habe nur den Papagei. ›Otto, sei doch nicht komisch.‹ Aber das kenne ich nun schon, und ich werde trotzdem immer komischer. So wie dein Bruder im Herrn, unser Pfarrer.«

Was denn mit dem Pfarrer sei?

»Ja, siehst du, Jons, ich denke, daß die sogenannte Vorsehung ihn zu uns geschickt hat, damit du rechtzeitig ein Beispiel vorgesetzt bekommst. Er fängt nämlich leise an, zu trinken, verstehst du? Noch hat es niemand gemerkt, aber ich habe es gemerkt. Ich kenne mich nämlich aus in solchen Dingen, wenn die Leute nicht mit Genuß, sondern mit Erbitterung trinken. Beim Regiment gab es so was. Leute, die sich übergangen fühlten und so weiter.

Auch er fühlt sich übergangen, vom lieben Gott. Er hat angeklopft, und es wird ihm nicht aufgetan. Manchmal will der liebe Gott nicht. Er empfängt nicht. Nun, das ist nicht so schlimm, denn die meisten kommen immer wieder. Pfarrer sind sehr geduldig. Aber manche kommen eben nicht wieder, es wird ihnen zu dumm, und so einer ist Agricola. ›Wollen mal sehen, alter Mann‹, sagte er. ›Ich kann auch anders.‹ Und dann fängt er an zu trinken. Kann sein, daß er noch andre Sachen machen wird. Und ich habe in meinem Leben bemerkt, daß die ganz ernsten Leute immer Krach bekommen. Mit der Polizei, oder dem Landrat, oder dem lieben Gott. Sie fassen nämlich alles wörtlich auf, was von dorther verkündet wird, und das ist ein Irrtum. Es sind nämlich nur Redensarten, so für den einfachen Mann, weißt du. Und die meisten Leute sind eben nicht einfach. ›Du sollst nicht töten‹, zum Beispiel. Das ist ein klarer Satz, der in der Bibel wie im Strafgesetzbuch steht. Aber laß uns mal wieder Krieg bekommen, was spätestens nächstens der Fall sein wird, und dann werden wir mit Wonne töten. Wehe dem, der dann nicht tötet, dem ernsten Mann zum Beispiel! Er will nicht töten, weil es verboten ist. Das hat er gelernt, darüber hat er nachgedacht, das ist sein Glaube geworden. Er kann nicht so schnell umschalten, weißt du. Und so ist auch unser Pfarrer. Herr Jumbo hat es bald erkannt, und für dich wäre es gut, wenn du es vor dem ersten Semester auch erkennen wolltest. Ihr Wohl, Herr Jumbo!«

Ja, sonst ging es im Dorf so, halb traurig und halb lustig. Sie hätten ja nun ihren Kirchenbau und tränken etwas weniger als sonst. Mit Ausnahme ihres besagten Pfarrers. Und er sei felsenfest überzeugt, daß alles Holz zur Kirche gestohlen worden sei. Eine Komödie, die beinahe großartig sei. Und das Ganze nicht etwa aus Spaß oder Bosheit, sondern aus Frömmigkeit. In der Weltgeschichte gebe es eine ganze Menge solcher ›Kirchenbauten‹, nur höre man auf der Schule nichts davon.

Übrigens seien sie eine Weile alle behext gewesen, weil der Rattenfänger von Hameln – »Friedrich Jeromin, leiblicher Bruder dieses anwesenden Jons, Herr Jumbo« – eine Nacht lang auf seiner Flöte gespielt habe. Auf der Insel im See, bei abnehmendem Mond. Kiewitt habe ein Gesicht gehabt, und ein Bienenschwarm sei aus Herrn Stillings Stöcken auf und davon.

»Es ist nicht zum Spotten, Herr von Balk«, sagte Jons leise.

»O nein, Jons, ich spotte auch nicht, am wenigsten über die Flöte. Habe sie einmal gehört und werde sie mein Lebtag nicht vergessen. Eine merkwürdige Familie ist das, Herr Jumbo. Ein Musiker, ein Bildhauer und einer, der ... wie heißt es doch? ... der die Gerechtigkeit auf den Acker bringen will. Ein schwerer Weg, kleiner Jons, ein sehr schwerer Weg. Ist noch keiner damit fertig geworden, nicht einmal der liebe Gott, und es wäre doch eine Kleinigkeit für ihn gewesen. Nie begriffen, weshalb eine ungerechte Welt heilsamer sein soll als eine gerechte. Sie, Herr Jumbo?«

»Nein, Herr von Balk.«

»Nie begriffen, wenn Eltern zu ihren Kindern sagen: ›Später, liebe Kinder, später. Das versteht ihr noch nicht. Aber später werdet ihr einsehen, daß es gut für euch war, Prügel zu bekommen.‹ Weshalb Prügel? Eine Kleinigkeit für den lieben Gott, Kinder zu schaffen, die keine Prügel brauchen. Kein schöner Anblick, diese Prügelei. Besonders wenn es die Großen sind, die sie am ehesten verdienen. Nie begriffen. Sie, Herr Jumbo?«

»Nein, Herr von Balk.«

»Ja, das meiste unbegreiflich auf dieser Welt ... gab einen Vers beim Regiment, der voller Weisheit war: ›Wer nie Ulan gewesen und weiß, was der sich denkt, der kann sich gar nicht denken, was so 'n Ulan sich denkt.‹ Kann mir auch nicht denken, was der liebe Gott sich gedacht hat. Sie, Herr Jumbo?«

»Nein, Herr von Balk.«

Es war schon spät, als sie aufstanden und sich verabschiedeten. Herr von Balk hatte viel getrunken, aber seine Augen waren nicht fröhlicher geworden. »Laß es sein, Jons, mit der großen Gerechtigkeit«, sagte er. »Habe immer gedacht, daß ein Bauer mit dreißig Morgen, der seinen Mist ordentlich ausfährt, mehr Gerechtigkeit auf den Acker bringt als der Prophet Jesaias. Immer so gewesen. Die Hand ist mehr als der Mund. Wünschte, du kämest zu mir und wärest mein Sohn. Deine Mutter sagt, wäre wenig Ehre dabei, aber ist eine harte Frau, deine Mutter. Aus dem Alten Testament, weißt du. Makkabäerin und so. Nun lebt wohl, bin etwas betrunken, aber anders als euer Pfarrer. Ohne Groll, versteht ihr? Ohne Groll muß man leben, das ist die Sache.«

Sie sahen ihn langsam die Treppe hinaufsteigen, eine hohe, leise gebeugte Gestalt mit etwas gekrümmten Reiterbeinen, während der kleine, verschlafene Page mit dem Ausdruck kindlicher Verehrung in seinem übernächtigen Gesicht ihm eine Stufe tiefer folgte, bereit, ihn zu unterstützen, wenn er dessen bedürfen sollte.

Aber der Herr von Balk bedurfte keiner Unterstützung.

Jons war nun Sekundaner und wurde mit »Sie« angesprochen. Er hatte an seinem Leben nicht viel geändert, außer daß er nun, nach dem Abend mit Herrn von Balk, in seiner freien Zeit mehr als bisher durch die Stadt zu streifen begann. Es waren nun nicht mehr Museen oder Ausstellungen, durch die er langsam ging, sondern eben die Stadt, und zwar nicht die Stadt als solche, sondern ihre Menschen. Die Zeit war gekommen, in der ein Buch ihn mit Mißtrauen erfüllen konnte, und manchmal waren es alle Bücher, die ihn mit Mißtrauen erfüllten. Was Herr von Balk von dem Bauern gesagt hatte, der den Mist auf seine dreißig Morgen führte, beschäftigte ihn lange Zeit.

In den Vierteln, in denen die Wohlhabenden lebten, war nichts für ihn zu sehen, aber in den Vorstädten, wo die Armen wohnten, am Ufer des Stromes, an den Ladeplätzen des Hafens, vor den Kneipen, über deren Tür ein Anker hing oder eine plumpe, glänzende Gallionsfigur, entrollte sich vor seinen Augen eine andere Welt. In ihr wurde eine andere Sprache gesprochen als in den Büchern mit den schönen Einbänden, andre Dinge wurden begehrt, gehaßt und geliebt, als er sie aus der Schule kannte, auf andere Weise auch noch als in Sowirog, und manchmal schien es ihm, als schwanke die Erde leise, auf der er stand, wenn er die Gesichter der Frauen und Kinder sah, die vor den Türen der Destillen wartend standen, Stunde auf Stunde, bis eine schwankende und fluchende Gestalt aus der Tür kam.

Hatte er gewußt, daß es solche Gesichter gab? Und wußte er, weshalb es sie gab? Waren sie diejenigen, für die die Verheißungen des Paradieses geschrieben waren? Aber weshalb mußte gerade über ihnen die Zuchtrute am härtesten geschwungen werden? Wer von den Menschen geschlagen wurde, mußte der auch noch von Gott geschlagen werden? ›Kein schöner Anblick, diese Prügelei‹, hatte Herr von Balk gesagt.

Es geschah ihm nichts auf diesen Wanderungen. Er war aus dem selbstgewebten Anzug herausgewachsen, er trug noch immer Eisen unter den Absätzen, und seine Augen blickten viel zu ernst und tief aus den Schatten der Stirn heraus. »Ist deiner auch drin?« fragte ihn einmal eine der Frauen. Er schüttelte den Kopf, und sie hüllte sich fester in ihr Umschlagtuch. »Ersäufen sollte man sie«, sagte sie, »wie die jungen Katzen. Aber im Abwaschwasser und nicht im Schnaps.«

Nein, »seiner« war nicht darin. Er saß am Meiler und brannte die Kohle, und dazwischen las er in dem großen Buch von dem Hagel, der den Wald hinabging. Auch er war geschlagen, das wußte Jons nun, aber er war ohne Groll. Jons wußte nicht, ob er zweifelte oder voll des blinden Glaubens war. Aber voller Hoffnung war er, das wußte er. Daß aus ihren dumpfen Reihen der Messias kommen würde und daß Jons vielleicht ausersehen war, ihm den Weg zu bereiten.

Der Vater wußte es, aber Jons wußte es nicht. Er begann nun in jene bittersüßen Jahre einzutreten, in denen der Mensch das erste, noch primitive Rüstzeug des Geistes in den Händen hält und, noch nicht weise genug, es an die eigene Person zu setzen, es an die Sockel der Götter legt, die man vor ihm aufgerichtet hat. Und selbst die stillsten Augen begreifen, daß diese Sockel bröckeln. Die meisten erschrecken, legen das Rüstzeug beiseite und werden wieder geduldige Beter zu den Füßen ihrer Propheten und Meister. Über einige fällt der Rausch der jungen Kraft und der Zerstörung, und sie hören erst auf, wenn sie inmitten eines Trümmerfeldes stehen und die Augen der zerschlagenen Götter blind und traurig zu ihnen emporblicken. Sie beginnen dann, zu trinken oder eine Sekte zu gründen.

Einige aber halten inmitten ihrer Arbeit an und sehen sich um. Nachdem sie den Hebel an drei oder vier der Götterbilder gelegt haben, erkennen sie, daß es verlorene Mühe ist, es mit allen zu versuchen. Alle werden schwanken, und nur Kinder brechen tausend Blumen, um zu erfahren, was eine Blume ist. Und nachdem sie erkannt haben, daß man eine schwankende Welt vor ihnen aufgerichtet hat, beginnen sie damit, ihre eigene so fest zu machen, daß sie nicht vor jedem Sturm der Zeiten erbebt. Sie beginnen es auf verschiedene Weise, aber sie enden alle damit, daß sie nicht mehr in das Unsichtbare hinausblicken. Sie wissen wohl, daß es da ist, aber sie wissen auch, daß es dem Menschen nicht gegeben ist, es zu wissen. Sie setzen ihre Grenzsteine zurück, und innerhalb dieser neuen Grenzen beginnen sie nun zu arbeiten. Sie erkennen, daß die Hand soviel wert ist wie der Geist und oft mehr als der Geist. Daß ein ordentlicher Acker mehr ist als eine unordentliche Philosophie und daß der Mensch dazu da ist, die Dämonen zu besiegen, die jahrtausendelang um seine Wiege gestanden haben. Noch ist die Luft erfüllt mit ihnen, mit denen des Hasses, der Gewalt, der Lüge, der Opferung, der Angst, der Rache. Und nicht nur mit denen der Hölle, sondern auch mit denen des Himmels.

Der Kampf gegen sie bringt keine Belohnung, weder im Diesseits noch in einem erträumten Jenseits. Er bringt Einsamkeit und Feindschaft, Leid und Verzicht. Aber er ist alles, was der Mensch aus seinem Leben machen kann. Er ist der Anfang zu einem Tor in eine bessere Zeit. Wer ihn auskämpft, ist wie Moses, nur daß er nicht auf einem Berge steht, sondern am Fuße eines der tausend Hügel, die sich vor dem Berge erstrecken. Wer ihn auskämpft, ist kein Soldat Gottes, sondern ein Soldat der Menschheit, des Kreises also, in den er hineingeboren ist. Es wird nicht danach gefragt, ob er sie haßt oder liebt oder verachtet. Er hat sie so wenig gewählt wie seine Eltern, aber er spricht ihre Sprache, er sitzt an ihrem Herd, er hat zu ihnen zu stehen. Wenn er bitter wird dabei, ist er nicht der rechte Soldat, und auch nicht, wenn er glaubt, daß seine Taten nun in einem Buche verzeichnet werden, über das der Erzengel einen goldenen Griffel hält. Nichts wird verzeichnet, nichts wird aufgeschrieben. Am Abend des Lebens nimmt er den Spaten auf die Schulter und geht davon, ein kleiner Handlanger, namenlos und unbekannt, indes hinter ihm die Mauern aufzuragen beginnen, an denen ihm vergönnt war, seine kleine Pflicht zu tun.

Nicht, daß Jons dies alles erkannt hätte. Aber eine Ahnung davon ging ihm in diesen Jahren auf, und es war ihm gut, daß er am Abend bei Jumbo saß. Am Abend kam die Macht der Rede über Jumbo, der Glanz einer frühen Weisheit, ohne Hochmut und ohne Groll. Er wußte nichts von dem frühen Tode, der ihm beschieden war, und daß in den Arsenalen von Smolensk oder Samara dieser Tod schon auf ihn wartete. Wartete, daß sie beide sich auf den Weg machten, um einander zu begegnen. Aber es war möglich, daß er eine Ahnung davon in seinem Blute trug, die Ahnung eines kurzen Frühlings, der schnell gelebt werden mußte und in dem aller Same auszustreuen war, mit dem die lange Reihe seiner Ahnen ihn bedacht hatte. Viele lebten damals so, an der Wende der Zeiten, Soldaten lange vor dem großen Kriege, und ohne zu ahnen, daß sie auch nach ihm noch lange als Soldat würden leben müssen.

»Ohne Hoffnung, Mönchlein?« sagte Jumbo. »Ach nein, kleiner Mann, nicht ohne Hoffnung. Ein Mann, der etwas Rechtes tut, ist niemals ohne Hoffnung. Wer den Mist auf seine dreißig Morgen fährt, wie der Herr von Balk sagt, ist auch nach zehn Hagelschlägen und Mißernten nicht ohne Hoffnung. Weil er der Erde vertrauen kann, verstehst du? Seine Vorfahren haben ihr tausend oder zehntausend Jahre vertraut und haben gesehen, daß sie recht daran getan haben. Sie hoffen nicht nur, sie wissen, daß die Ernte einmal kommen wird. Nur die, die auf die große Gerechtigkeit vertraut haben oder darauf, daß einmal einer ihre Tränen abwischen wird, die wissen nichts. Sie waren nicht bescheiden genug, sie waren nicht Kinder der Erde. Sie wollten nicht ein Stückchen Acker mit Ordnung und Schweiß und Brot, sondern sie wollten das Paradies. Strebe nicht nach dem Paradies, Mönchlein, sondern tue etwas Rechtes mit deinen Händen und deinem Herzen. Treibe alle Chucholleks aus von dieser Welt, denen du begegnest! Es werden nicht alle sein, aber andere tun dasselbe auf ihren Wegen. Nur mache nicht den Teufel aus ihnen, oder das ›böse Prinzip‹ oder sonst einen Popanz, sondern nimm sie, als was sie sind: arme Schächer, die zu unsrer großen Familie gehören, zu der des Menschen.«

Es war ein schöner Herbst für Jons, gefüllt mit junger Ernte, und er behielt ihn lange im Gedächtnis.

Auch für das Dorf war es ein schöner Herbst. Die Tage waren mild und voller Sonne, und während die welken Blätter leise fielen, nagelten sie die Schindeln auf das Kirchendach. Weit konnte man von dort hinaussehen über das Land. Die Wälder waren dahingesunken, aber die Schonungen wuchsen auf, und weit hinter dem See sahen sie ein breites goldenes Band. Das war der Weißbuchenwald, der seit undenklichen Zeiten »Das Paradies« genannt wurde. Die Straße nach den nächsten Dörfern lief zwischen seinen grünen, bemoosten Stämmen dahin, und hier sammelte die alte Frau aus der »Armen Sünde« noch die letzten Steinpilze, wenn im dunklen Fichtenwald schon Schnecken und Würmer die Ernte zerstört hatten. Es war nicht leicht, in der braungoldenen Blätterdecke die dunklen Häupter der Pilze zu entdecken, aber ihre hellen Augen waren noch scharf, und sie erkannte von weitem, was der Erde angehörte und was nur ein Trugbild war für ihre fleißigen Hände, ein Stück Rinde etwa, dunkel und gewölbt, das aus der Ferne wie ein Steinpilz erschien und doch nur ein Stück Rinde war.

Sie erkannte auch von weitem, daß der braungelbe Blätterhügel zwischen zwei vom Winde gestürzten Buchen nicht von demselben Wind zusammengetrieben war und daß der dunkle Ast, der neben dem Hügel lag, anders aussah als die meisten Buchenäste. Sie blieb eine Weile stehen und blickte hinüber. Die Sonne schien still und warm, aber ein kühler Hauch wehte sie plötzlich aus der Tiefe des Waldes an, und sie sah sich schnell um, als stehe jemand hinter ihr. Ein Eichelhäher begann zu lärmen, und aus dem leeren Wald kam das Echo zurück.

Als sie dann das Laub mit den Händen zur Seite gescharrt hatte, langsam und zuletzt nur Blatt für Blatt, blieb sie zu Häupten des Toten sitzen und sah in seine aufgeschlagenen Augen. Sie waren von dem gleichen weißlichen Blau wie der Septemberhimmel, und wer den Toten nicht kannte, mochte meinen, es sei nur der Widerschein der hohen, wolkenlosen Kuppel. Aber sie kannte Michaels Bruder wohl. Sie wischte mit einem Tuch das getrocknete Blut aus seinen Mundwinkeln und saß dann wieder still, die Hände über dem Tuch gefaltet. Sie war nicht neugierig und sie war nicht traurig. Sie hatte viele Tote gesehen, auch Erschlagene, nur den Gerichteten hatte sie nicht gesehen. Aber danach hatte der Tod seine Schrecken verloren. Er war Menschenwerk geworden für sie. Nicht mehr das dunkle Los, das ein zürnender oder richtender Gott über die Erde warf, sondern eine der vielen dunklen Kräfte, deren die Menschenhand sich bemächtigt hatte. Böse, wie das meiste, was aus ihr kam, und hinzunehmen wie Hagel oder Wassernot. Nicht viel Gutes war von ihr zu erwarten, so wenig wie von Gott etwas Gutes zu erwarten war. Auch hier hatte sie zugeschlagen, und vielleicht würde auch der Henker wieder zuschlagen, aber damit weckte man die Toten nicht auf und nahm die Sünde nicht aus der Welt.

Sie hatte nicht gedacht, daß Friedrich der erste sein würde. Ihr Leben war erfüllt von Zeichen, ihre Augen sahen den Schatten über eines Menschen Scheitel. Aber dies hatte sie nicht gewußt. Er war nun der erste, aber er würde nicht der letzte sein. Sie sah noch keinen Grund in ihrem Becher, sie schmeckte nur seine Bitterkeit auf den Lippen.

Die Sonne wärmte ihren schmerzenden Rücken und schien in die Augen des Toten. Da beugte sie sich, um seine Lider zuzudrücken, aber sie mußte ihre Hände lange Zeit auf der Kühle des Todes halten, ehe die Augen sich nicht mehr öffneten. Und auch dann blieb noch ein schmaler Spalt, in den die Sonne sich stahl, und es schien, als blicke der Tote angestrengt und aufmerksam in eine weite Ferne, in der sich etwas bewegte, was er erkennen wollte. Sonst war sein Gesicht ruhig und voller Frieden, ein schönes, reines Gesicht, und nur um seine Lippen lag der Hauch einer kindlichen, erstaunten Trauer.

Die Sonne wanderte in ihren Rücken, die Blätter fielen leise auf sie und den Toten. Sie saß ganz still. Sie zählte keine Stunden, sie dachte nicht an die Mörder. Ab und zu tauchte das Bild ihres Kindes vor ihr auf, aber es glitt wieder fort, und nichts blieb als der goldfarbene Wald und das stille Gesicht zu ihren Füßen. Gut würde es sein, wenn alles zu Ende wäre, die Liebe und der Haß, die Wege durch die Wälder, Hunger und Durst, alles, alles. Aber was bis dahin noch kommen würde, mußte man auf den Rücken laden und tragen, wie man das andere getragen hatte.

Einmal würde doch jemand kommen, wenigstens der Briefträger, und so lange mußte sie schon warten. Wenn seine Mutter nicht bei ihm saß, so mußte sie es sein, und sie glaubte nicht, daß es seine Mutter vom Herde auftreiben und durch die Wälder jagen würde. Nein, alle andern, aber seine Mutter nicht.

Glumsda nahm seine Mütze vor dem Toten ab, aber er fragte nicht viel. Ja, er würde Bescheid sagen und den Gemeindevorsteher schicken. Er war so viel allein gewesen in seinen vierzig Dienstjahren, daß er das Sprechen verlernt hatte, und er hatte so viel gesehen in diesen Wäldern und sich so viele Gedanken dazu gemacht, daß er nichts zu fragen brauchte. Das Fragen war nicht seines Amtes.

Das Dorf empfing die Nachricht wie das Anklopfen von Gottes Faust an seinen Türen. Wie lange war es her, daß jene Nacht gewesen war mit dem Flötenlied über dem See, das Gesicht Kiewitts und der Bienenschwarm über dem Schulhaus? Gott war in den Wäldern und sah zu, wie sie seine Kirche bauten. Er hatte gemahnt, aber sie hatten nicht gehört. Balk wies sie an, keinen Unsinn zu reden, aber sie blieben verstört, und Gogun kniete in seiner Kammer und betete.

Das Gericht hatte festgestellt, daß Friedrich in dem Dorf hinter dem »Paradies« gewesen war, bis kurz nach Mitternacht. Das Mädchen, das ihn eingelassen hatte, war freiwillig gekommen, um auszusagen. Nein, er sei heiter gewesen wie sonst und dazu ein bißchen traurig wie sonst. Er habe oft von seinem Tode gesprochen und daß man ihm nachstelle, aber niemals jemanden genannt. Einen Verdacht habe sie nicht. Nur als er fortgegangen sei, habe er in den Mond gesehen und gesagt, er müsse nun gehen, sie warteten auf ihn. Sie habe gedacht, daß er seine Eltern meine.

Sie weinte nicht. Ihr Gesicht war ganz erstarrt, und sie sah an den Beamten vorbei in den Wald, als winke ihr jemand hinter den Buchenstämmen zu.

Friedrich war erschossen worden. Es war ein kleines Geschoß. Es hatte den Körper durchschlagen und konnte nicht gefunden werden.

»Ganz niedlich, diese kleine Julia«, sagte der Referendar, der aus der Hauptstadt stammte, aber der Amtsrichter ersuchte ihn, gefälligst seinen Mund zu halten.

Als die Leiche freigegeben wurde, holte Jakob sie aus der Kreisstadt ab. Gogun fuhr den Wagen mit den beiden kleinen Pferden, ohne Lieder, mit schwermütigem Gesicht. Neben ihm saß Jakob, sehr gerade, mit bloßem Haupt, die Papiere noch immer in den Händen, die man ihm gegeben hatte.

Hinten, am Fußende des Sarges, saß Jons im Stroh, die Holzkiste neben sich, so wie er eben zu den Ferien aus der Stadt gekommen war. Wenn der Wagen in den ausgefahrenen Geleisen stieß, dröhnte es leise, als sei der Sarg leer und das Ganze nur ein böser Traum. »Strebe nicht nach dem Paradies, Mönchlein!« hatte Jumbo gesagt. Nein, er war nun weit davon entfernt, nach dem Paradies zu streben.

Zum erstenmal in seinem Leben meinte Jons, daß er heimatlos sei. Der Tote nahm die Heimat ein, und es war kein Platz für die Lebenden. Die Mutter stand am Herd wie ein Stein und sah ihn an, ohne ihm zuzunicken. Der Großvater war auf der Insel, der Vater ging zum Meiler, sobald sie den Toten aufgebahrt hatten. Nur Christean saß oben in der Kammer und sprach zu ihm, aber er sprach ohne Trost. Nein, sie wußten nichts. Friedrich habe immer allein gelebt, und auch sein Lachen sei allein gewesen. Doch von der Nacht mit der Flöte erzählte er lange. Damals habe der Bruder Abschied genommen, und sie hätten es alle wissen sollen.

Jons ging über die Felder, bis er Michael beim Pflügen fand. Jons ging neben dem Pfluge her, über die Stoppel, die voller Spinnennetze hing. Sie sprachen nicht, aber Jons legte die Hand auf Michaels Hand, die die Pflugschar hielt, und Michael ließ sie dort liegen.

Erst als er den Pflug wendete, hielt er einen Augenblick an und sah über den Acker. »Kein Segen ruht auf uns, kleiner Jons«, sagte er. »Mach ein Feuer auf dem Herd, wenn wir fort sind, und sprenge die Stuben mit reinem Wasser aus, hörst du?« Dann schob er die Hand des Bruders sanft von der seinigen und setzte die Spitze des Pfluges wieder in das Feld.

Es war ein langer Tag für Jons. Eine Weile saß er auf dem Kirchenhügel und blickte über den See nach dem Paradies, das wie ein goldener Acker zwischen den grauen und grünen Wäldern lag. Er hatte noch nicht gewußt, wie es war, wenn der Tod zuschlug, so dicht, daß man die Luft sausen hörte. Niemals hatte der Tote Böses getan, aber er war anders gewesen als die andern. Nur anders, nichts weiter, und es hatte ausgereicht, daß Gott zugeschlagen hatte.

Er war ganz allein auf dem Hügel, und hinter ihm stieg das hohe Dach der Kirche in die blaue Luft. Nein, er glaubte nicht, daß er hier auf der Kanzel stehen würde. Wenn er nun schon den Talar trüge, was würde er an diesem Sarge sagen und welches Gebet würde er sprechen können? Er fühlte, daß nicht Demut ihn erfüllte, sondern eine bittere Verstörtheit, und auf ihrem Grunde lag ein kalter Zorn, der mit Gott zu rechten begann. Wenn er sie strafen wollte, die Kinder des Hauses, gut, so mochte er es tun, obwohl er nicht wußte, wofür. Aber es war nichts Edles dabei, den Vater zu strafen. Er sah ihn auf dem Wagen sitzen, mit seinem hellen Haar, das wieder grauer geworden war, und über die Pferdeköpfe hinweg auf den Weg blicken. So müde waren seine Schultern gewesen, so müde seine Augen, als er ihn am Bahnhof erwartet hatte. Es war nichts Edles dabei, einen Müden zu schlagen, der so verlassen war wie der Vater.

Wenn ihnen aufgetragen wurde, Gerechtigkeit auf den Acker zu bringen, so mußte Gott ihnen vorangehen, aber er sah keine Gerechtigkeit in diesem Tode. Es war nichts Großes dabei für einen allmächtigen Gott, unter dem hellen Mond einen Menschen zu überfallen und ihn in das Moos zu werfen, und auch Jumbo würde nichts Großes darin sehen. ›Eine falsche Rechnung, Mönchlein‹, würde er sagen wie am letzten Abend und sein dickes Buch schließen. ›Sie geht nicht auf, schon seit hunderttausend Jahren nicht, und es ist nicht einzusehen, wie sie überhaupt aufgehen soll.‹

Er blieb sitzen, bis er Maria mit einem Bündel die Straße vom Kirchdorf herankommen sah. Er rief ihr zu, und sie saß bei ihm, heiß und bestaubt von ihrem Wege, und jetzt erst, als er ihr erzählte, was er wußte, kamen ihm die ersten Tränen.

Ihre Stimme war noch immer so tief und ruhig wie früher, und als sie ihren Arm um seine Schulter legte, war er zum erstenmal geborgen.

»Ließen sie dich nicht früher fort?« fragte er dann. Sie war immer noch bei den Küstersleuten im Dienst.

»Wenn von den Armen einer stirbt, Jons, machen sie nicht viel Aufhebens davon. Sie denken wohl, wir merken nicht viel vom Tode. Erst müssen die Pflaumen eingekocht werden, hat die Frau gesagt, und das Begräbnis sei doch erst morgen. Es sei nicht gut, einen Toten so lange anzusehen. Und da bin ich dann geblieben.«

Jons sah, daß ihr Gesicht schmaler geworden war, und plötzlich überfiel ihn eine brennende Scham, daß er dort in der Stadt saß, in der kleinen Kammer über seinen Büchern, während sie hier den Rücken beugten und arbeiteten. Er wolle nicht mehr zurückgehen, sagte er, aber sie lächelte schon wieder, zog seine Wange an ihre Schulter und redete ihm zu. »Kleiner Jons«, sagte sie, »Arbeit ist Arbeit, und weißt du nicht, daß wir stolz auf dich sind? Der Vater und Christean und Michael und ich? Und vielleicht ... auch die Mutter?«

Die Mutter? Ach nein. Seine Mutter war diese Schwester, die so sanft war, daß schon ihr Atem die Tränen trocknete. Und wenn er einmal groß wäre, würde sie immer um ihn sein und am Herde stehen und Geschichten erzählen. Und alles, was mit dem Vater einmal dahingehen würde, das würde weiterleben in ihr, das Beste, was sie alle zusammen an Erbe besäßen.

Ob von Gina und Gotthold Nachricht da wäre, fragte sie leise.

Ja, von Gina sei ein Kranz gekommen und von Gotthold ein Telegramm. Sie nickte vor sich hin und zog langsam ihre Schuhe und Strümpfe an. Es sei nun wohl Zeit zu gehen, meinte sie.

In der Nacht schlich Jons sich leise die Treppe von der Kammer hinunter und schlüpfte in die große Stube, wo der Sarg stand. Zwei Kerzen brannten zu seinen Häupten, und am Fußende saß der Vater, ganz allein in dem großen Gemach. »Komm, Jons«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Ich weiß, daß du es bist.«

Jons trat an seinen Stuhl, und Jakob legte den Arm um ihn. »Du mußt nicht fragen, Jons«, sagte er. »Ich weiß nichts, gar nichts weiß ich. Wir müssen ihn nur ordentlich ansehen, weil er für lange Zeit fortgehen wird. Und dann müssen wir still sein und horchen, ob Gott sprechen wird. Noch hat er nicht gesprochen, aber er hat mehr Zeit als wir.«

»Und wenn er gar nicht spricht, Vater?«

»Auch dann muß es gut sein, Jons. Die Armen haben nicht zu fragen: ›Warum?‹«

Jons wußte nicht, was der Vater dachte, aber er stand ganz still in seinem Arm und blickte in das tote Gesicht. Frieden ging von dem Toten wie von dem Lebenden aus, und das schien Jons wunderbar, daß der Vater vor dem Toten bestand. Daß er nicht geringer war wie alle die andern, wie er selbst, und daß man vor seinem stillen Gesicht so schweigen mußte wie vor dem des toten Bruders.

Dann führte der Vater ihn zur Tür und ließ ihn hinaus.

Den Großvater sah er erst bei der Beerdigung. Sein Gesicht war noch immer dasselbe, seine Gestalt die geradeste von allen. Er stand hinter dem Sarg und sah über die Menschen hinweg, die den Raum erfüllten, auf seinen Stock gestützt. Keine Trauer war in seinen Augen, nur das helle, weißblaue Licht, das Jons immer in ihnen gesehen hatte.

Als der Pfarrer eintrat, sah Jons, daß alle Gesichter sich veränderten, als ob zwei große, unsichtbare Schwingen sie gestreift und die Angst auf ihnen zurückgelassen hätten. Er wußte wohl, daß sie fürchteten, er könnte getrunken haben. Aber Agricola hatte nicht getrunken. Sein Gesicht war grau und von Schmerzen gezeichnet, und er sah nicht aus, als trüge er einen Becher mit Trost in seinen Händen.

Während er betete, öffnete sich lautlos die Tür, und das Mädchen, das das Letzte von Friedrich gesehen hatte, trat herein. Hinter ihr leuchtete, solange die Tür geöffnet war, das Land draußen noch einmal blau und golden auf und versank dann wieder.

Männer und Frauen traten still vor dem Mädchen zur Seite, als habe es hier ein größeres Recht, und es kam bis an den Fuß des Sarges, wo es mit gefalteten Händen stehenblieb, ohne Tränen, aber mit einem Gesicht, dem anzusehen war, daß der Tod es gestreift hatte.

Jons war der erste, der das Kommende merkte. Es half nichts, daß er die Hand hob, um den Arm der Mutter zu ergreifen. Frau Marthe hob den Arm über den Sarg und sprach. Es war kein Haß in ihrer Stimme, aber ihre eisige Kälte ging wie ein Schauer über den Raum. »Geh hinaus« sagte sie. »Hier ist kein Platz für Huren und Mörder.«

Jons sah, wie das Mädchen erbebte. Die niedergeschlagenen Augen hoben sich nicht auf, sondern blieben auf dem Fußende des Sarges, und nur die schmalen Schultern zuckten einmal wie unter einem Schlage. Dann ging es langsam hinaus. Es drehte sich nicht um. Es blieb so, wie es gestanden hatte, es setzte nur einen Fuß hinter den anderen, als drängte das harte Wort es langsam von dem Toten hinweg.

Einmal ging es wie ein leises Stöhnen durch den ganzen Raum, aber dann ging Jakob vom Sarge fort und erreichte sie noch vor der Tür. Er legte den Arm um ihre Schultern, wendete sie um und blieb bei ihr stehen. »Du hast ihm die letzte Freude gegeben«, sagte er laut, »du kannst ihm auch die letzte Ehre geben.«

Da begann Jons laut zu weinen, und der Pfarrer verlas das Wort der Schrift, das er ausgewählt hatte. »Ich wandte mich um und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne; und siehe, da waren Tränen derer, so Unrecht litten, und hatten keinen Tröster; und die ihnen Unrecht taten, waren zu mächtig, daß sie keinen Tröster haben konnten.

Da lobte ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr denn die Lebendigen, die noch das Leben hatten.

Und besser denn alle beide ist, der noch nicht ist, und des Bösen nicht inne wird, das unter der Sonne geschieht.«

Er las das ganze Kapitel. Seine Stimme war ohne Bitterkeit oder Verzagtheit. Sie ging dahin wie ein Bericht, ruhig, eben, ohne Leidenschaft. Und nur einmal hob sie sich etwas, als fordere sie eine besondere Aufmerksamkeit, und das war die Stelle, an der geschrieben steht: »Weh dem, der allein ist! Wenn er fällt, so ist kein andrer da, der ihm aufhelfe. Auch wenn zwei beieinanderliegen, wärmen sie sich; wie kann ein einzelner warm werden?«

Wieder fühlte Jakob, wie der junge Körper erbebte, um den er den Arm gelegt hatte, und seine Hand glitt leise und tröstend über die Schulter unter dem schwarzen Kleid.

Jons weinte nicht mehr. Er sah geradeaus in die grauen Augen des Herrn von Balk, und er versuchte, die Knöpfe an seiner Ulanka zu zählen. Doch wurde er nicht fertig damit. Es war die seltsamste Predigt, die er gehört hatte. Sie lobte nicht den Toten, sondern den Tod. Sie pries nicht Gott, sondern das Grab. Sie sagte, daß dieses Leben und dieses Sterben schön gewesen seien, das Leben eines Künstlers, der Lieder und Liebe empfangen habe, und Schöneres sei auf dieser Erde kaum zu denken. Es klang so, als beneidete er den Toten, der sich um das Jenseits nicht bekümmert habe und der doch im Paradiese gefallen sei. Nicht alle von ihnen würden es so haben, aber daß sie dies hätten sehen dürfen, das sollten sie nicht vergessen.

Und auch dies sollten sie nicht vergessen, setzte er am Schluß hinzu, daß sie gesehen hätten, wie ein armer Mann seinen Arm um eine Weinende gelegt habe, und keiner von ihnen könnte wissen, wie sehr er einmal der gleichen Gebärde bedürftig sein könnte.

Darauf begruben sie den Toten und zerstreuten sich in die Häuser des Dorfes. Ein Leichenessen fand nicht statt. Jakob hatte es nicht gewollt.

Herr von Balk sprach noch ein paar Worte mit Jakob und nahm dann Jons zu sich auf den Wagen. Jons blieb den größten Teil der Ferien im Schloß, wo er Reitstunden bekam und am Abend vor dem Kaminfeuer in der großen Bibliothek saß. Sie sprachen wenig miteinander, aber sie lasen viel und waren viel auf den Feldern. Und jeden Tag, vor der Dämmerung, lief Jons einmal zum Meiler und saß eine Weile beim Vater.

»Du mußt nicht traurig sein, Jons«, sagte Jakob, »daß es diesmal so ist. Wenn du größer bist, wirst du erfahren, daß man manchmal allein sein muß, ganz allein. Gott spricht nicht gern, wenn man zu zweien ist, und ich will doch hören, was er sagt. Ich weiß noch nicht, wie er das alles gemeint hat, und auch der Pfarrer hat es noch nicht gewußt.«

Einmal fragte Jons leise, ob er an den Mörder denke, aber Jakob schüttelte den Kopf. »An den Mörder haben die Gerichte zu denken, Jons, nicht ich.«

»Du wußtest wohl nicht, Jons«, fragte Balk am letzten Tage, »daß dein Vater ein Edelmann ist? Es ist nun Zeit, daß du das weißt, bevor du zurückfährst. Söhne müssen wissen, wer ihre Väter sind.«

Regen fiel, als der Vater ihn zur Bahn fuhr, Jons sah ihn immerzu an, wie er auf dem Bahnsteig stand, die Schirmmütze in die Stirn gezogen, den hohen Kragen des Mantels aufgeschlagen, ein stiller Mann, von dem der Regen abfiel wie von einem Baum. Und er wußte, daß ihm nun nichts mehr schwer sein würde in der großen Stadt, weil er die große, brennende Liebe zu seinem Vater im Herzen trug.


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