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XX

Im Februar bestand Jons seine Reifeprüfung. Der Schulrat blickte eine Weile auf das Blatt, das vor ihm auf dem Tisch lag und das vermutlich Lebenslauf und Zensuren dieses jungen Menschen enthielt, einen unwahrscheinlichen Lebenslauf und noch unwahrscheinlichere Zensuren, und sah ihn dann an. Er hatte zwei Söhne im Kriege verloren, und er mochte an sie denken, als er seine traurigen Augen auf Jons richtete.

»Was wollen Sie werden, Jeromin?« fragte er.

»Zuerst Soldat und dann Armenarzt, Herr Schulrat.«

»Soso ... Armenarzt ... und weshalb Armenarzt, Jeromin?«

»Ich denke, daß ich dort hingehöre, Herr Schulrat.«

»Jaja ... aber vergessen Sie nicht, Jeromin, daß es nicht viel helfen würde, die sogenannten Reichen alle totzuschlagen, nicht wahr? Auch sie sind nicht immer glücklich ...«

Er ließ seine Augen noch eine Weile auf dem jungen Gesicht, aber es war zu sehen, daß seine Gedanken schon weit fort waren. Erst als der Direktor sich leise räusperte, nickte er Jons zu und nahm ein anderes Blatt in die Hand.

Jons schickte zum erstenmal in seinem Leben ein Telegramm ab, und er hatte einige Mühe, damit zustande zu kommen. Aber da das junge Mädchen auf der Post ihm behilflich war, so bekam Herr Stilling sein Telegramm, und ehe er damit zu der Kammer der jungen Witwe hinaufstieg und dann zu dem Jerominschen Hause ging, stand er noch eine kleine Weile vor der kleinen Weltkugel in seinem Zimmer und drehte sie langsam soweit, bis der kleine rote Punkt erschien, mit dem er das Dorf Sowirog bezeichnet hatte. Er dachte zurück, einen langen Weg, Jahr auf Jahr, und er sah ein Kind mit hellem Haar und ernsten Augen in seiner kleinen Bank stehen und hörte eine ernste, klare Stimme sprechen: »Darum ist das Himmelreich gleich einem Könige, der mit seinen Knechten rechnen wollte ...« Er nickte in Gedanken vor sich hin, und als er endlich die schmale Treppe hinaufstieg, dachte er, daß es nun eigentlich für einen alten Mann Zeit sei, sich still in seinen Sarg zu legen, und daß er das mit einem guten Gewissen tun könne, soweit Menschen in ihrem Hochmut das von sich sagen könnten.

Indessen packte Jons seine letzten Sachen in Jumbos Zimmer zusammen und wartete auf den Mann, der ihm helfen sollte, sie auf den Boden zu bringen. Fräulein Holstein, die älteste, hatte ihm das erlaubt, und sie stand nun wie ein abgeschiedener Schatten vor dem kleinen Ofen und blickte über die leeren Wände. Sie hielt das Bauer mit dem Buchfinken in der Hand, den Jons ihr geschenkt hatte, und sie sah nun aus, als hätte die große Schere den Faden zerschnitten und sie warte auf den Kahn, der die Toten übersetzte, voller Sorge, ob der Fährmann ihr erlauben werde, den kleinen Begleiter mit der hellen, sorglosen Stimme mitzunehmen.

»Nun wird es ganz dunkel, Jons«, sagte sie.

Aber Jons tröstete sie. Es sei richtiger für ihn, nicht hier Soldat zu sein, sondern in der kleinen Stadt, wo er seinem Dorfe näher sei. Ein neues Leben dürfe man nicht im alten Hause beginnen, und wenn der Krieg zu Ende sei, werde er wiederkommen und wieder hier wohnen, viele Jahre lang, bis zu seinem Examen.

»Aber wird er einmal zu Ende sein?« fragte sie. »Und werden Sie einmal wiederkommen?«

Das erste wisse er, und das zweite glaube er, sagte Jons.

»Sie waren der Beste, den wir jemals gehabt haben, Jons«, sagte sie. »Aber es trifft immer die Besten ...«

Dann kam der Mann, den der Schuster ihm geschickt hatte, und sie trugen die Bücherkisten auf den Boden.

Und dann war nur noch Margreta. Er brauchte sie nicht zu trösten. Sie war aus einem Geschlecht, in dem die Frauen immer nur gegeben hatten, Männer, Söhne, Jugend, Gesundheit, Glück. Sie kannten es nicht anders, und sie benannten es auch nicht mit dem großen Wort »Tapferkeit«. Sie liebten keine großen Worte. Und auch als sie ihm in der Morgendämmerung die dünne silberne Kette mit dem kleinen Medaillon umhing, die ihr einziger Schmuck war, geschah es ohne Anspruch auf eine besondere Bedeutung. Es sollte ihn nur beschützen, nichts weiter. Obwohl sie wußte, daß er wiederkommen werde. Gerade deshalb vielleicht.

Er ging allein zum Bahnhof. Es schneite, nur stiller als damals, als er neben Jumbo einhergegangen war. Die Straßen waren noch leer, die grauen Häuser sahen aus, als wohne niemand mehr in ihnen. Ein Schlepper brüllte auf dem vereisten Strom auf, und der dumpfe Ton ging schwer und drohend über die Dächer hinweg.

Als die Räder seines Zuges sich zu drehen begannen, sah er unter dem hohen, verrußten Glasdach eine kleine Gestalt stehen, im gewebten Mantel, den Griff einer Holzkiste in der Hand, und mit zornigen Augen auf einen großen Mann in einer blauen Bluse blicken, der seine Hand nach dieser Kiste ausstreckte. Daneben stand ein Herr mit einem Zylinder auf dem grauen Haar und einem seltsamen Mantel, mit Pelerinen behangen, und die Leute drehten sich nach ihm um, als sei er ein etwas heruntergekommener Theaterdirektor oder ein Zauberkünstler, der mit einem jungen Gehilfen und einem Vogelbauer von einer ländlichen Zauberreise zurückkomme.

Sie wurden kleiner und kleiner, je weiter der Zug aus der Halle hinausfuhr, aber Jons beugte sich immer noch hinaus, um ihnen zuzusehen, diesen Märchengestalten aus längst versunkener Zeit, mit einer tiefen Schwermut in seinen Augen und einer bitteren Verwunderung um seinen Mund, ob sie denn nicht wüßten, daß inzwischen der Krieg durch diese Halle und über diese Geleise gerollt sei? Ob sie denn nicht zurückkehren wollten in ihre arglosen Wälder, diese beiden Verirrten mit ihren seltsamen Mänteln und dem bunten Vogel in ihrer Hand?

Und erst als eine graue Häusermauer sie seinen Blicken entzog, schloß er das Fenster und blickte von seinem Sitz auf das verschneite Land hinaus. Aber wieder war ihm, als sehe er sie nun dort wandern, den verwehten Weg an den kahlen, gekappten Weiden entlang, zwei ungleiche Gestalten, um deren größere der Wind den Mantel wie eine zerfetzte Fahne trieb, zwei Pilger nach einem unbekannten Ziel, verlacht und verspottet, aber unangefochten in ihrem brennenden Glauben an ihr unsichtbares Schicksal und ihren unsichtbaren Stern.

Er ging den gleichen Weg zur gleichen Kaserne hinunter, den sein Vater damals unter dem hellen Mond gegangen war, und er wußte nun, daß er recht daran getan hatte, nicht in der großen Stadt geblieben zu sein. Zum Kriege, wie er ihn sich dachte, gehörte ein ganzes, ungeteiltes Herz.

Ob er ihn sich richtig gedacht hatte, wußte er am selben Abend noch nicht. Er war vorläufig mit einem jungen Theologen, den sie Tobias nannten, der einzige Freiwillige auf seiner Stube, und die anderen waren ältere Leute, die ihm in der Ausbildung um vierzehn Tage voraus waren. Es war wohl alles so, wie Jumbo es ihm erzählt hatte, nur daß sein Unteroffizier ihn nicht im Hemd das Gewehr übernehmen ließ. Unteroffizier Schneider war von solcher Auffassung der Macht weit entfernt. Er war groß und hager, und sein lang ausgezogener Schnurrbart bedeckte einen sorgenvollen Mund. Ein ungeheurer Sprachschatz der Reichshauptstadt stand ihm zur Verfügung, von dem er einen großzügigen und durch keine falsche Empfindlichkeit gehinderten Gebrauch machte, aber es geschah nur so, wie ein Musiker sein Instrument probt, ein Fagottspieler etwa, ob auch alle Klappen seines geheimnisvoll schimmernden Wesens leicht und gehorsam dem Fingerdruck gehorchten.

»Also det jibts nu nich, junger Mann«, sagte er bei der ersten Begrüßung zu Jons, »von wejen Künstlermähne, nach hinten jejossen. Hier jibts nur Scheitel mit preußischem Linksdrall, lakonische Frisur gewissermaßen. Wat sind Se denn eijentlich, junger Mann?«

Er sei Abiturient, erwiderte Jons, und wolle später Arzt werden.

»Nu kieke mal einer an! So'n Professor für ausjejlittene Frauenseelen, wat? So Nerven streicheln quasi frei aus'n Orjanismus, hm?«

Nein, erwiderte Jons, er wolle Armenarzt werden, hier in den Wäldern, in seinem Heimatdorf.

Der Unteroffizier sah ihn noch länger an als vor ein paar Tagen der Schulrat bei der gleichen Antwort, aber er sagte nichts von den Reichen, die man nicht totschlagen solle. »Name?« fragte er nur.

»Jons Ehrenreich Jeromin, Herr Unteroffizier.«

»Jons Ehrenreich ... na, junger Mann ... Vater?«

»Köhler und Fischer. Gefallen, Herr Unteroffizier.«

»Köhler und Fischer ...«, wiederholte Schneider langsam. »Jons Ehrenreich ... Armenarzt ... junger Mann«, fuhr er nach einer Weile fort, »wenn Sie Ihren Dienst nich machen, dann kippen Se aus'n Jlied bei mir, verstanden? Aber wenn Se'n juter Soldat sind, dann mach' ick Ihnen 'ne Oase hier, mit meinem Herzen als artesischer Springbrunnen. Klar? Jons Ehrenreich ... Armenarzt ... wat det für 'ne komische Welt is ...«

Es schien Jons nicht der schlechteste Anfang, und er war es auch nicht. Jumbo hatte schlechter anfangen müssen. In der Stube fiel es ihm schwer. Er war zu lange allein gewesen. Aber das gab es ja nun nicht mehr, daß einer allein auszog, um Krieg zu führen. Auch Jung Rolands Zeiten gingen einmal vorüber. Doch war er am Anfang so müde, daß er am Abend nur ihre Gesichter sah, ohne selbst einen Namen mit ihnen zu verbinden, und daß er von ihren Gesprächen nur Bruchstücke wie aus einem Traum vernahm.

Langsam erst floß sein Leben mit den anderen zusammen, und auch dann war es nicht eigentlich sein Leben, sondern nur das, was der Dienst an Körper und Geist von ihm verlangte. Dahinter aber blieb er selbst, das Unberührte und Unberührbare, das, was ihm allein zu eigen war, sein Urteil, sein Gefühl, seine Erinnerungen, seine Hoffnungen. Es war nicht so, wie er gedacht und gewollt hatte, daß er sein ganzes, ungeteiltes Herz in diesen Abschnitt seines Lebens hineintragen würde. Er konnte sich nicht verwandeln. Der Köhlersohn Jons Ehrenreich hörte nicht auf, dem Soldaten Jeromin zuzusehen, meistens verwundert, manchmal lächelnd, manchmal beschämt. Er war kein Soldat. Er fiel auf, durch gutes Schießen und durch eine ungewöhnliche Beherrschtheit und Sammlung seines Körpers und seines Geistes. Sehr angenehm auf, aber er war trotzdem kein Soldat. Er brannte nicht von dem, was er tat. Er sah nur zu, wie etwas brannte, in dem er seinen Namen, seinen Körper, seinen Gehorsam, seine Pflichterfüllung erkannte. Aber das war nicht er. Auch sein Vater hatte wahrscheinlich nicht gebrannt. Sicherlich nicht. Sein Vater war am Meiler geblieben, bei der Kohle und dem großen alten Buch, in dem sein Denken beschlossen war, und nur das Andere war hinausgegangen, das schweigend Gehorsame. So wie jemand aufstehen muß, um Holz für seinen Herd zu hacken, und solange sein Buch beiseitelegt. Aber er ist kein Holzhacker. Er ist ein Bücherleser, und seine Gedanken bleiben bei dem Buch, indes die Axt auf und nieder geht.

Zuerst verwirrte es ihn, und manchmal betrübte es ihn auch. Er hatte kein geteiltes Dasein bis dahin gekannt. Aber als er dann sah, daß dieser flüchtige Teil seines Wesens, den man in eine Uniform entlassen und für sich selbst leben lassen konnte, ausreichte, um jenes Leben zu führen, es sogar ohne Tadel zu führen, gab er sich damit zufrieden. Wahrscheinlich konnte ein Mensch nicht zu zwei Ämtern berufen sein, nicht zu dem eines Arztes und gleichzeitig zu dem eines Soldaten. Der eine hatte zu heilen und der andere zu töten, und es war ja auch nicht so, daß man diejenigen gleich zu Beginn erschoß, die in ihrem Soldatenhandwerk nicht brannten. Weder der Kaiser noch die Kriegsartikel verlangten das von ihnen. Sie hatten ihre Pflicht zu tun, und Jons wollte das so gut wie jeder andere. Wahrscheinlich wollte er es sogar besser und ernsthafter als viele andere.

Am leichtesten war es mit seinem Unteroffizier. »Kommen Se mal hier lang, Jons Ehrenreich«, sagte er bei einer der Pausen auf den Übungsmärschen. »Hier is 'ne stille Jejend, hier können se uns nich so bekieken. Hier woll'n wir mal eens roochen. Alles Ihr Wald, junger Mann?«

Es gehöre ihm kein Baum, erwiderte Jons, aber es sei trotzdem alles sein Wald.

Und da wolle er nun die Waldleute verarzten? Später, wenn sie aus diesem großen Weltkrieg zurückgekommen seien?

Ja, das wolle er.

Wieder schüttelte Schneider den Kopf. »Komisch«, sagte er. »Ha'm Se denn so 'ne besonders jeneijte Seelenhaltung for de sojenannten Armen?«

Er sei doch selbst einer von ihnen, erwiderte Jons. Und er wisse doch auch am besten, was ihnen fehle.

Das imponiere ihm mächtig, sagte Schneider. Habe ihm gleich damals imponiert. Er sei nämlich der erste, den er in seinem Leben getroffen habe, der »auf die Armen pikant« sei. Sein Pastor sei das zwar auch, aber eigentlich mehr »mit'n Zungenschlag.« Und wer eine Frau habe, die von Poliklinik zu Poliklinik wandere, der wisse, wie das so mit der Liebe für die Armen sei. Und ein guter Soldat sei er auch noch. »Na, dann woll'n wir wieder mal 'ne Ecke tippeln, junger Mann.«

Aber Schneider war nicht immer da, und wenn er da war, war er meistens im Dienst. Es wäre besser gewesen, auch die anderen wären immer im Dienst gewesen, die Leute von seiner Stube etwa. Aber am Abend waren sie nicht im Dienst. Der Dienst fiel von ihnen ab wie eine gleichmachende Rüstung, und das andere kam hervor, das Ungleiche, das Friedensgesicht, und nicht immer sah Jons gerne hinein.

Da war der kleine Kaufmann Philipp, und da er dachte, Jons müsse schon jetzt ein großer Arzt sein, so wurde er nicht müde, ihn zu fragen, welche Schüsse am tödlichsten seien. Sein Kaninchengesicht verzog sich zu lauter Sorgenfalten, und er schien zu meinen, daß der Krieg nur ausgebrochen sei, um eine Sache zwischen dem Tod und ihm zu entscheiden. »Ja, aber Herzschüsse?« fragte er sorgenvoll. »Das kann doch nicht sein, daß man mit einer Kugel im Herzen leben kann?« Doch, das sei schon vorgekommen. »Komisch, sehr komisch ... aber Bauchschüsse, Jeromin?« Er sah ihn flehend an, als werde er nun endlich die Bestätigung bekommen, daß wenigstens ein Bauchschuß das Ende bedeute. Wieder nichts. Auch mit einem Bauchschuß könne man leben. Er schüttelte den Kopf und blickte grübelnd auf seine Hände, die müde und leer zwischen seinen Knien hingen.

»Es gibt nur einen Fall«, sagte Jons endlich, »das ist ein Nabelschuß. Dann verlierst du alles, was du hier drin hast. Es läuft aus wie Wasser aus einem Topf, der ein Loch hat. Und dann ist es zu Ende.«

»Du lieber Gott«, stöhnte Philipp, »aber daß es nun gerade der Nabel sein muß ... kann man ihn nicht schützen, Jeromin?«

Natürlich, man könne eine kleine Stahlplatte tragen, und da diese Stelle des Körpers winzig sei im Vergleich zu der übrigen Körperfläche, so könne er nach der Wahrscheinlichkeitsberechnung seine Aussichten feststellen.

Und da war der große Bollmann, Bierkutscher von Beruf, der nur aus Versehen zur Infanterie gekommen war und von dem niemand wußte, ob außer Essen, Trinken und Schlafen Dinge auf dieser Welt waren, die er begehrte, ja, ob er sie überhaupt sah. Er stand wie ein schweigender Stier im Glied, ein Flügelmann, an den man eine ganze Division anhängen konnte, und wie ein Stier tat er alles, was befohlen war: schießen, essen, schlafen, marschieren. Er würde auch wie ein Stier töten. Wenn sie am Abend auf der Stube sprachen, sah er mit kleinen Augen von einem zum andern wie ein Taubstummer, ohne seinen Körper zu rühren. Nur seine Augen bewegten sich. Und wenn jemand fragte: »Was denkst du davon, Bollmann?«, so verzog er den linken Mundwinkel und sagte langsam und deutlich: »Scheißegal.« Manchmal glaubte Jons, sein Sprachzentrum in der Großhirnrinde sei gelähmt, und er könne nur dies eine Wort aussprechen.

Und da war Paleikat, der »Gelegenheitsarbeiter«, ein Windhund, der in den Nächten über die Mauer verschwand. Ein »fixer« Soldat, aber niemand wußte von ihm, ob er Holz gehackt oder Menschen erschlagen hatte. Ein lächelnder Stubengefährte mit vielen Künsten, Taschenspieler und Komödiant, Flötenbläser und Akrobat, aber sie sahen ihm alle nach, wenn er fortging, und beim Gefechtsschießen waren sie nicht ganz sicher, ob er das Gewehr nicht heimlich auf den Hauptmann richten würde.

Und da waren die anderen. Ein Arbeiter, der voller Sorgen war, sie könnten in die Wüste Sahara kommen, wenn es einmal mit ihnen losginge, und er hatte Anlaß zu Sorgen, weil er am Wasserwerk der Hauptstadt gearbeitet hatte. Ein kleiner Theologiestudent, der in jeder freien Minute in seinem Testament las und so schweigsam war wie Bollmann. Ein Waldarbeiterssohn, der mit seinem Dienst viel Mühe hatte und nicht wußte, wie sie ohne ihn das Bauholz aus den Schlägen rücken würden. Ein Uhrmacher, der aus winzigen Rädern und Schrauben kleine Maschinen baute, in deren Anblick er lange versank. »Gehen sie nun auch?« fragte Paleikat. Nein, sie gingen nicht, sie seien nur so da, weil sie so hübsch und schwierig aussähen.

Eine bunte Kameradschaft, und Jons saß manchmal auf seinem Schemel in der Ecke und sah sie nachdenklich an. Ein ausgebranntes Feuer, ein kalter Rauch. Noch nicht zwei Jahre vergangen, und das Vaterland war ihnen schon eine leere Hülse, ohne Samen oder Frucht. Es war nicht allein ihre Schuld, es mußte auch Schuld des Vaterlandes sein. Sie hatten versäumt, einen Begriff mit Leben zu erfüllen. Sie hatten ihn mit Worten und Gesetzen erfüllt, und im Feuer des Krieges und der Not waren Worte und Begriffe ausgetrocknet und verbrannt. Nur das eigene kleine Leben war geblieben, und nun war es in Gefahr. Was sie lernten, Schießen, Fechten, Marschieren, lernten sie eigentlich nur um dieses Lebens willen. Ein Soldat vergaß sein Leben, wenn er an den Feind dachte, aber vor diesen stand es riesengroß auf als das von allen Seiten und mit allen Mitteln Verwundbare, und sie suchten nach einer Stahlplatte für ihre sterbliche Stelle.

Die anderen hatte der Krieg schon verzehrt, die Glühenden, Begeisterten, Todgeweihten. Er hatte sie viel rascher verzehrt, als man erwartet hatte, und sie hatten sich ihm achtlos und berauscht hingegeben. Die Soldaten waren dahin, und nun standen die Bürger auf. Noch waren sie durchsetzt von Trägern des Glaubens und des Mutes, oder wenigstens von denen der Pflicht, aber einmal würden sie unter sich sein, eine müde, kleinmütige, waffenbehängte Masse, in die der Tod wie in eine Schafherde fahren würde.

Etwas war falsch gewesen, dachte Jons. Das meiste sogar. Etwas war versäumt worden, und es ließ sich nicht mehr einholen. Schulen und Kanzeln hatten nicht ausgereicht, das Volk zu glühen, wie man Kohlen im Meiler glüht. Das Wort war zu mächtig geworden, ein klingendes Erz und eine tönende Schelle. Nun ließ man sie marschieren, schießen und gehorchen, und für den Exerzierplatz reichte es aus. Aber für den Tod würde es nicht ausreichen. Der Tod schlug nicht mit Worten zu. Die großen, schweren Mächte des Daseins waren stumm, aber es brauchte mehr, vor ihren ehernen Augen zu bestehen als die flüchtige Übung einiger Wochen. Es bedurfte eines Lebens, wie Jakob es gelebt hatte, oder einer schweigsamen, spöttischen, adligen Seele, wie Jumbo sie gehabt hatte. Der Krieg war mehr als ein kleiner Daseinskampf um Miete, Wasser und Brot.

Er dachte, wie es sein würde, wenn er so daliegen müßte wie Jumbo, und ob einer von diesen ihn forttragen würde. Er glaubte es nicht. Es würde ein einsamer Krieg für ihn sein, wie es ein einsames Leben gewesen war. Nur Schneider würde bei ihm bleiben, wenn er mit ihnen hinausginge. Er hatte keine hohe Schule besucht und wußte nichts von Leonidas oder sogenannten Idealen. Er war nichts als ein Metalldreher mit einer kranken Frau und zwei blassen Kindern, die zu wenig Sonne in ihrem Hinterhof bekamen. Aber er wußte eine ganze Menge von dem, was man Pflicht und Anständigkeit nannte. Das Vaterland hatte sich nicht viel um ihn bekümmert, aber das hatte ihn nicht verdrossen. Er dachte ziemlich gering von Pfarrern, Abgeordneten, jungen Leutnants und »Unabkömmlichen«, und er drückte diese geringe Meinung in einer starken und blühenden Sprache aus. Aber Jons meinte, daß man mit ihm gut am Meiler würde sitzen können, oder fischen, oder ein abgebranntes Dorf aufbauen. Kein Mann, um mit dem Direktor über die Ideen des Perikles zu debattieren, aber ein Mann zum Helfen und Heilen, einer von den stillen Tagelöhnern am großen Bau der Zeiten.

Nein, es waren keine leichten Wochen für Jons. Manchmal stand er beim Gewehrreinigen, das Schloß in der Hand, und starrte auf das bläulich schimmernde Metall, in dessen nüchternen und sauber ineinandergefügten Teilen die Präzision des Tötens mit einer klaren Handschrift geschrieben stand. Aber er sah weder das Schloß noch den Tod. Er sah die kleine Kammer mit dem erloschenen Ofen und dem blaugewürfelten Bett, auf das die hochmütigen, mißbilligenden Blicke der schönen Wachsbüsten gerichtet waren. Er sah Margreta mit den beiden schweren Handtaschen von den Kohlenlagern kommen und vor dem kleinen Feuer sitzen, die Hände im Schoß, die großen, schwermütigen Augen in die Flamme gerichtet. Vorbei die Sommerzeit, Glück und Verborgenheit. Eine drohende Zukunft hinter den Fensterscheiben, oder eine leere Zukunft, und das Leere war noch bedrückender als das Drohende. Nur die Erinnerung war, der Besitz der Besitzlosen.

»Ha'm Se 'ne Erscheinung, junger Mann?« fragte Schneider gutmütig und nickte ihm verstohlen zu, wenn der leere, abwesende Blick ihn traf. Ach, er selbst hatte mehr als nur eine Erscheinung.

Schwere Stunden auch, wenn er zu kurzem Urlaub ins Dorf kam. Die Mutter vor dem Herd, ungebeugt noch immer, den erloschenen Blick mitunter auf seine Uniform gerichtet, als sei er es gar nicht, der in ihr umhergehe, sondern ein anderer, ein Toter. Der Vater wahrscheinlich oder, wenn nicht er, dann alle die anderen Toten des Dorfes, aller Dörfer. Keine bestimmten Gesichtszüge, sondern eben der allgemeine Tod, der Räuber der Dörfer, der Schlächter der Jugend wie des Alters, der Erbfeind aller Mütter dieser Erde.

Und Maria immer noch auf ihrem Weg zum Walde hinter der »Armen Sünde«, das Kind auf dem Schlitten, die verschneite Straße entlang. Kein Zweifel, keine Angst, aber in dem schönen jungen Gesicht nun die ersten, kaum sichtbaren Zeichen langer, einsamer Nächte, schwerer Gedanken, quälender Bilder, und auch hier die Zukunft wie Nebel über dem Moor.

Not im Dorf, Krankheit, manchmal Hunger. Und eine bittere Verachtung derer, die ein Beispiel geben sollten und das Beispiel lieber den Dörfern überlassen. Der liebe Gott verhüllt und verborgen, in unendliche Sternwelten entrückt, aber die Kanzeln noch immer tönend, als sei er noch da, unverändert wie immer, Brot und Gerechtigkeit in der ausgestreckten Hand. Die Gendarmen stiller und wachsamer als sonst, in den Ställen, in den Scheunen, an den Mieten, auf den Äckern. Korsanke grau und ohne Freude, widerwillig, und manchmal auf ein Schwein oder einen Sack mit Roggen starrend, als sehe er nichts, gar nichts, nur eine leere Stallwand oder eine von Rissen durchzogene Tenne.

Stilling alt und müde, in tiefen Gedanken vor der Weltkugel, die sich so ruhig dreht, als lohten nicht überall die tödlichen Feuer aus den blauen Kontinenten, und nur hin und wieder mit einem Blick der Sorge seinen früheren Schüler streifend.

»Keine Angst, Herr Stilling!« sagte Jons zuversichtlich. »Nicht alle Fische gehen ins Netz.«

»Ja, ja, Jons«, erwiderte er still. »Ich möchte nur nicht, daß alles zerrinnt, was ich gehofft habe. Du weißt doch, daß ich nur noch von dir lebe, nicht wahr? Ein richtiger Vampyr. Sie sollten mit den Alten Krieg führen, weißt du. Mit den Sechzigjährigen und darüber, und die Kaiser und Staatsmänner sollten sie anführen. Um sie alle wäre es nicht so sehr schade, denn sie haben das Ihrige getan. Aber um die Jugend ist es schade, denn niemand kann sie ersetzen. Die Alten würden zuerst Reden halten, große Reden und mit ihren langen Pfeifen drohen, und dann würden sie aufeinander losgehen. Es wäre so viel schneller zu Ende, eine menschlichere Sache. Und die Testamentsvollstrecker würden so viel Arbeit bekommen. Aber nun nehmen sie uns alles weg, die jungen Ärzte, die jungen Dichter und Lehrer wie Gollimbeck. Überall, auch bei denen da drüben. So leer wird die Welt, Jons, so schrecklich leer. Und wenn sie sich zehn Jahre ausgeruht haben, fangen sie von vorne an.«

»Ja, Herr Stilling, wir würden sie etwas besser gemacht haben, diese gute Mutter Erde.«

»Ach, Jons, ich weiß nicht, ob besser. Alte Leute sollten ja nicht mehr zweifeln, aber manchmal denke ich doch, er hätte sie anders machen können. Ein bißchen anders. Wenn ich jetzt wach liege, und ich brauche ja jetzt wenig Schlaf, dann versuche ich zusammenzurechnen, wie viele Tote eigentlich zusammenkommen seit vier- oder fünftausend Jahren. Nicht die natürlichen Toten, sondern die anderen. Krieg, Seuchen, Gewalttat und so weiter. Ich nenne sie die Prüflinge, weil die Pfarrer das Ganze so gerne die großen Prüfungen nennen. Das meiste bleibt ja im Dunklen und läßt sich nur schätzen. Aber weißt du, daß ich auf ein paar Milliarden gekommen bin, Jons? Und weißt du, daß eine Milliarde gleich tausend Millionen ist?«

Er schrieb die Zahl mit seiner zitternden Hand in die Luft und sah ihr nach, als schwebe sie dort mit glühenden Zeichen im leeren Raum.

»Zwei- oder drei- oder viertausend Millionen, Jons, und manchmal denke ich mir aus, wievielmal man sie um die Erde legen könnte, um den Äquator zum Beispiel. Weißt du es, Jons?«

Nein, er wußte es nicht.

Stilling drehte die Weltkugel langsam einmal um ihre Achse und sah zu, wie die dunkle Linie des Äquators sich abrollte. »Ich will es dir sagen, Jons«, sagte er leise. »Wenn du auf jeden Meter zwei Tote nebeneinanderlegst, und soviel Platz brauchen sie schon, um einigermaßen ordentlich zu liegen, dann mußt du sie fünfzigmal übereinanderlegen, verstehst du? Auf jeder Strecke von einem Meter mußt du hundert Tote unterbringen ... Manchmal, wenn die Nächte still sind und der Mond scheint, sehe ich sie ganz deutlich, so wie einen Kranz, den du um eine Kugel legst, und ich denke mir, daß Gott sie von ferne so wie den Ring des Saturn sieht, einen kalten, schweigsamen, erstarrten Ring. ›Was mag er sich denken dabei?‹ frage ich mich. Denkt er nur, daß es unsre Schuld ist? Aber Seuchen zum Beispiel sind ja gar nicht unsre Schuld. Oder denkt er, daß die Erde nun bald reif sein wird für seine Gnade?«

»Ich weiß es nicht, Herr Stilling«, sagte Jons leise.

»Ich auch nicht, Jons. Aber siehst du, mit fünfundsechzig Jahren willst du nicht gern glauben, daß du dein Leben lang ein Dummkopf gewesen bist, obwohl die Schwester es manchmal sagt. Siehst du, du ziehst einen Zaun um dein Grundstück, einen Eichenzaun, braun und wunderbar fest, und denkst, er hält nun für deine Kinder und Enkelkinder. Und wenn du an ihm entlanggehst und fährst mit einer dünnen Rute an den Sprossen und Pfählen entlang, wie die Kinder es gern machen, so fällt er um. Still und gehorsam, Pfähle und Riegel und Staket. Und dann siehst du, daß alles aus braunem Papier war. Du hast ordentlich bezahlt, viel Geld sogar, und sie haben dich betrogen, auf eine plumpe Weise betrogen, weil sie gemeint haben, du seist blind oder dümmer, als die Kinder sind.«

»Es ist einfacher, Herr Stilling, wenn wir den lieben Gott aus dem Spiel lassen und es allein auf unsre Schultern nehmen. Schöner sieht es auch nicht aus, aber es ist einfacher. Und es bleibt uns auch mehr für die Zukunft zu tun.«

»Ja, ja, die Zukunft, Jons ... hast du nicht gesehen, daß die Kinder schon andre Augen bekommen haben, Jons? Dunkle und müde Augen, wie Kinder sie nicht haben sollen? Nun laß es noch zwei Jahre so gehen oder fünf Jahre. Weshalb müssen es immer die Kinder sein, die die schwerste Last zu tragen haben? Viel Arbeit wirst du haben, Jons, wenn du einmal hier leben wirst.«

»Überall sind sie auf der Erde, Herr Stilling, die auf diese Arbeit warten. Soviel ernste, gute Augen habe ich gesehen, in den Vorlesungen, in denen ich war. Und in der ganzen Welt ist es so. Wenn diese Heere ihre Arbeit getan haben, dann fangen die andern an. Die stilleren Heere. Und einmal wird ihnen doch die Welt gehören.«

»Glaubst du es, Jons?«

»Ja, ich glaube es ... auch der Vater hat es geglaubt.«

Aber wenn er sich dann am Abend auf den langen Heimweg machte und er vom Waldrand aus das Dorf noch einmal liegen sah, mit den grauen Dächern unter dem schneeverhangenen Himmel, mit den spärlichen Lichtern hinter den kleinen Fensterscheiben und dem toten Pfarrer, der von seinem Hügel schweigend über das alles hinsah, dann ermaß er doch, wie groß dieses stille Heer würde sein müssen, um in alle solche Dörfer das Wasser des Lebens zu bringen, wie groß, wie geduldig, wie entsagend, wie tapfer, und mit wieviel unendlicher Liebe begnadet.

Es machte ihm Freude, an einem der letzten Sonntage Schneider mitzunehmen. Sobald die großen Wälder sie aufnahmen, wurde der lange Korporal schweigsam, und er blieb es auch bis zum Schluß des Tages. »Ick rede so komisch«, sagte er zu Jons, »und det vablüfft de Leute.« Aber er stand lange am Ausgang des Waldes und blickte auf das kleine Dorf, das so still und verloren unter seinen weißen Dächern lag. »Wenn du nu denkst«, sagte er, »det se nu hier eene Lage nach de andere ringeschickt haben, in de kleenen Dächer ... is doch schade drum ...« Er schüttelte nachdenklich den Kopf und sah Jons von der Seite an. »Student und Armenarzt«, sagte er, »und alles aus so'n kleenen Kaff ...«

Er sah mit runden Augen auf Frau Marthe und saß vor ihrem Herd, ließ sich von Christean seine Engel und Tiere zeigen und erzählte ein bißchen von den Schlachten, die er mitgemacht hatte. Aber er saß auf seinem Schemel wie auf einer Kiste Dynamit, und als sie wieder auf dem Hofplatz standen, atmete er tief auf. »Det is 'ne komplizierte Familie, junger Mann ...« sagte er. »Mit dir ha'm se wat vor, de sojenannten Jötter.«

Sie waren bei Stilling, bei Maria und in der »Armen Sünde«, und über Mittag gingen sie über das Eis zur Insel hinüber. Der große weiße Hügel lag in unberührter Großartigkeit unter den kahlen Eichen. Schneider hörte zu, was Jons von ihm erzählte, und manchmal fuhr er sich mit den Handschuhen über die Augen, als träume er.

Abends, auf dem Heimweg, saßen sie noch eine Weile an der kalten Feuerstelle der Meilerhütte. Das große Buch lag aufgeschlagen auf der Tischplatte. Über der Zylinderöffnung der Lampe war ein Spinnennetz gesponnen. »Hier hat er gelebt«, sagte Jons leise.

Gegen Ende des Monats kamen die ersten Nachrichten von der großen Schlacht im Westen zu ihnen, wo um Wälder, Schluchten und Panzerwerke gerungen wurde und der Name der großen Festung mit Blut an den verstörten Himmel geschrieben stand. »Ahnste wat, junger Mann?« sagte Schneider zu Jons, als sie vor dem Heeresbericht standen. »Ick ahne wat.«

Zwei Wochen später wurden sie eingekleidet am späten Nachmittag, so schnell, daß der Kammerunteroffizier nur in den wildesten Flüchen sprach. Aber Schneider ging dreimal unerschütterlich mit Jons' Stiefeln zurück, bis er die richtigen gefunden hatte. »Zu 'ne Heldenpose, mein Lieber«, sagte er zu dem Tobenden, »muß det Jangwerk prima sein.«

Dann stand er voller Sorgen vor seiner Korporalschaft und betrachtete sie sich. »Wenn ick so denke«, sagte er langsam, »det ihr in acht Tagen nu feldjraue Helden sein sollt, dann kann ick mir nur wundern. So wundern, det ick mir über mir selbst wundere.« Mit dieser tiefsinnigen Äußerung verließ er kopfschüttelnd die Stube.

In der Nacht wurden sie verladen. Der erste Frühlingssturm kam von den Wäldern her, und unter dem halben Mond hörte Jons die Gänse nach Norden ziehen. Er stand vor seinem Abteil, den Mantelkragen hochgeschlagen, und sah auf die dunkle Linie, die im Süden den matten Horizont begrenzte. Nicht viel war es, was ein Soldat mitnahm, nur so viel, wie er auf seinen Schultern und an seinen Hüften tragen konnte. Aber mit seinen Augen konnte er viel mitnehmen, alles, die ganze Welt, und sie drängte sich in jener dunklen, schweigenden Linie zusammen, über der die Vogelscharen aufzogen, und in ein paar Gesichter, die dazwischen in einem farbigen Nebel standen. Er nickte ihnen schweigend zu und stieg ein. Auch sprach er unterwegs nicht mehr als die nötigsten Worte.

Drei Tage später, in einer ebenso stürmischen und halb erhellten Nacht, wurden sie ausgeladen, am Rande einer Ebene, hinter der sie einen Kranz bewaldeter Hügel erblickten. Die Hügel lagen schwarz und stumm, aber hinter ihnen loderte der ganze Himmel in einer weißrötlichen Glut, und farbige Sterne stiegen und sanken unaufhörlich empor und hinab. Durch das Brausen des Sturmes hörten sie ein fernes, dumpfes Brodeln, als koche Metall in einem winddurchzogenen Ofen, und da sie es noch nie gehört hatten, ordneten sie sich wohl schweigend, wie die leisen Flüche es ihnen befahlen, aber ihre Ohren hörten die Flüche gar nicht, sondern lauschten wortlos jener fernen Brandung, und über ihre jungen und alten Gesichter glitt der Schein jener weißrötlichen Glut wie über eine Reihe von Masken, von denen niemand wußte, was sie bedeckten.

Die Straße war zerklüftet und zerfahren, und als sie aufhörte, empfing sie ein aufgewühltes Feld, Wasserlöcher, in denen ein kalter Mond sich spiegelte, Mauerreste, zu Staub gemahlen, Schluchten, in die sie blind von Schweiß und Dunkelheit hineinstolperten, und zersplitterte Baumstümpfe, die ehemals ein Wald gewesen waren.

Von Zeit zu Zeit, mit der Regelmäßigkeit einer stählernen Maschine, zog eine dumpf heulende, unsichtbare Bahn über sie hinweg, und weit hinten, unwahrscheinlich weit, zerriß ein Feuerschein die Nacht, und der Wind trug ihnen das Dröhnen des Einschlags zu, dumpf, von hellen Obertönen begleitet, als stürze Stahl, Glas und Mauerwerk über einem ungeheuren Krater zusammen.

»Koffer, ooch Brocken jenannt«, sagte Schneider erklärend, aber niemand gab eine Antwort.

Der Führer drehte sich nicht ein einziges Mal um. Seine Augen gingen nur suchend und sorgenvoll über das Gewirr der Schluchten und Waldstücke, und manchmal blieb er stehen, wenn eine der näher gekommenen Leuchtkugeln einen matten Glanz über die Landschaft warf. Dann hob er wieder den Arm, und die dunkle gebeugte Linie folgte ihm weiter in die Nacht hinein.

»Jeht's noch, junger Mann?« fragte Schneider leise.

»Keine Sorge, Korporal«, erwiderte Jons.

Im Morgengrauen stolperten sie in einen verschütteten Graben, auf dessen Rändern Tote lagen, und ein unrasierter Leutnant mit grauem Gesicht nahm sie schweigend in Empfang. Sie fielen hin, wo sie standen, auf eine nasse Erde, die nach Gift und Verwesung roch, und niemand hatte etwas dagegen.

Jons schlief sofort ein, noch während seine offenen Augen der Spur einer Leuchtkugel folgten. Er fühlte noch mit schwindendem Bewußtsein, daß Schneider eine Zeltbahn über ihn breitete, und er hörte die vertraute, sorgenvolle Stimme wie hinter einer fernen Wand: »Wenn ick mir det nu ansehe ...«

Aber er wußte nicht mehr, was der Unteroffizier nun ansah.


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