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XIII

Wenn der Roggen geschnitten ist, wird Erdmuthe ein Kind von Michael haben«, sagte Jakob zu seiner Frau.

Sie stand am Herd, und ihr Arm, der die kochende Milch rührte, hörte in seiner Bewegung nicht auf. Aber ihr Gesicht war weiß geworden, und sie lehnte sich mit ihrem ganzen Leib schwer gegen den Rand des Herdes. »Wer ist Erdmuthe?« fragte sie.

Er erwiderte leise, daß das wohl jeder im Dorf wissen könne, wer Erdmuthe sei. Sie sei das Kind aus der »Armen Sünde«, und wenn Michael im Herbst von den Soldaten komme, werde er sie heiraten.

»Knecht und Magd liegen gern zusammen«, sagte sie hart, »aber nicht unter diesem Dach, solange ich lebe.«

Es sei besser, nicht auf diese Art zu prophezeien, erwiderte er. Er denke, sie seien schon ein paarmal gewarnt worden, und zwar von einer Hand, die nicht zum Spaß anklopfe. Auch wisse sie wohl, wie schwer das Kind es jetzt habe, ganz allein und in seinem Zustand, und er habe der Mutter vor ihrem Tode versprochen, zu helfen, bis Michael da sei.

Zustände dieser Art, erwiderte sie kalt, seien nur eine angemessene Bezahlung für vorausgegangene Lust, und wenn er Hilfe versprochen habe, so sei in der Meilerhütte vielleicht noch Platz. Nicht aber unter diesem Dach. Sie hätte schon einmal eine Hure hinausgewiesen, und das zweite Mal werde sie dafür sorgen, daß niemand ihr in den Arm falle.

Er war schon lange aufgestanden, die Axt über der Schulter, und blickte gramvoll in das Feuer des Herdes. »Auch der stolzesten Frau ist noch anbefohlen, ihres Mannes Wort zu achten«, sagte er. »Anders ist hier nie gelebt worden.«

Sie goß die Milch in die Schale und sah ihn an. »Ist hier gelebt worden?« fragte sie.

»Du hast sieben Kinder geboren«, erwiderte er im Hinausgehen. »Wer sieben Leben unter seiner Hand gehabt hat, sollte anders fragen. Der Tod hat gute Ohren.«

Es ging nicht gut in der »Armen Sünde«. Es war nicht so, daß es für Erdmuthe nicht zu Speise und Trank gereicht hätte. Auch konnte sie immer noch am Webstuhl sitzen, und wenige Häuser vergaßen, daß ihre Mutter an den kleinen Totenbetten gesessen hatte. Aber ihr war angst, und die Angst zog die Wolken an. Ihr war angst um das, was die Mutter von Michael gesagt hatte, und angst vor Frau Marthe. Sie war ihr zweimal auf der Dorfstraße begegnet und zweimal ohne Dank für ihren Gruß geblieben. Und nicht nur ohne Dank, sondern die grauen Augen hatten so voller Erstaunen durch sie hindurchgeblickt, als habe hinter ihr der Ziehbrunnen gesprochen und nicht sie.

Am meisten angst aber war ihr vor dem Sohn des Krugwirtes. Sie wußten nun alle, daß die alte Frau die Richterin seines Bruders gewesen war. Daß sie das dunkle Los still unter dem Tuch gehalten hatte, bis ihr eigener Tod sie gemahnt hatte, es über den Schuldigen zu werfen. Sie hatten ihn fortgeführt, und er würde, soweit man voraussehen konnte, die Dorfstraße nicht mehr wiedersehen. Aber der andere war noch da, und sie wußte nicht, welche Gedanken er hinter seiner gefurchten Stirne trug. Sie kaufte nun nicht mehr im Dorfe ein. Sie ging lieber ein paar Meilen, als daß sie die kleine Ladenglocke noch einmal über sich hören wollte. Sie war nun schreckhaft in ihrem Zustand und war zusammengefahren, als der blecherne Klang unvermutet über sie herfiel. »Er ruft«, hatte der Krugwirt gesagt und ihr entgegengeblickt, die Hände auf den Ladentisch gestützt. »Wer ruft?« hatte sie schüchtern gefragt. »Er«, hatte er erwidert, und während der ganzen Zeit hatten seine kalten, schiefen Augen mit dem Glanz des Hasses auf ihr gelegen.

Es war ihr nichts geschehen in allen folgenden Monaten. Kein Stein war im Walde an ihrem Kopf vorübergeflogen, kein Feuer an ihr Dach gelegt worden, kein Zauber hatte auf ihrer Schwelle gelegen. Aber es war oft vorgekommen, daß sie auf der Heimkehr von einem der nächsten Dörfer am Rande des Waldes den Bruder des Gerichteten erblickt hatte, wie er regungslos an einer Kiefer lehnte und auf sie wartete. Er stand da, die Hände auf dem Rücken, als verberge er eine Axt, und folgte ihr mit den Augen. Er sagte nichts, und auch sein Gesicht enthielt nichts als eine prüfende Aufmerksamkeit, die jeden ihrer Schritte begleitete. Sein Kopf drehte sich langsam mit ihrer Gestalt mit, wie sie herankam, in seiner Höhe war und an ihm vorüberging. Sie wartete auf die kühle Schneide des Todes in ihrem Nacken, aber es geschah nichts, keine Bewegung, kein Laut. Und das Stumme dieses Vorgangs, das Gespenstische der Drohung erfüllte sie langsam mit Todesangst.

Sie verließ das Haus nicht, und Maria brachte ihr, was sie brauchte. Aber auch dann war es nicht vorüber. Blickte sie aus ihrem Kammerfenster in den Wald, so sah sie ihn unter einem der Bäume stehen, die Hände auf dem Rücken, die Augen auf das Haus gerichtet. Manchmal blieb er ein paar Tage fort, und sie betete vor ihrem Bett, während Tränen des Dankes und der Erlösung über ihre verhärmten Wangen liefen. Aber stand sie am nächsten Tage am Fenster, war er wieder da, unverändert, immer in der gleichen Kleidung, immer mit denselben schläfrigen, fast geschlossenen Augen, in denen doch eine gefährliche Wachheit stand.

Sie begriff es bald, daß es schlimmer war als der Tod. Hätte er sie geschlagen oder ihr Gewalt angetan, so hätte er über ihr stehen und auf sie niederblicken können, aber es wäre zu Ende gewesen. Die Flamme wäre erloschen, der Wind hätte die Asche verweht. Dies aber war jeden Tag neu, eine Rache, die so langsam fraß wie die Glut im Meiler, und die nicht nur sie umfing, sondern das Kind und Michael, und in Michael das ganze verhaßte Geschlecht.

Sie setzte sich hin, um an Michael zu schreiben, zweimal, dreimal. Aber sie zerriß das Blatt. Sie sah das dunkle Zeichen über seinem Scheitel, das ihre Mutter gesehen hatte, und sie wußte, daß er ihn töten würde. Neues Blut und neue Schuld. Ineinandergeflochten wie das Gewebe, das unter ihren Händen lag, und die roten Fäden gingen wie schwere Menschenbahnen durch den blauen Stoff.

Dann machte sie sich in ihrem achten Monat auf und ging in das Haus der Jeromins. Jons war schon zu den großen Ferien gekommen und sah sie am Hoftor stehen. Er hatte einiges gewußt, aber lange nicht alles, und vor allem nicht das, was er von ihrer Gestalt ablas. Er lief ans Tor und nahm sie bei der Hand, verstört von der großen Traurigkeit ihrer Augen. ›Michaels Leben ist es‹, dachte er verwirrt, ›und Michael hat mir den Buchfink geschenkt ...‹

Ja, die Mutter sei zu Hause, aber ... Er hielt plötzlich ihre Hand fest, noch auf der Schwelle. »Kehr um!« sagte er flehend. »Geh nicht hinein!«

Aber da öffnete die Mutter schon die Tür. Ihre Augen gingen an Erdmuthe vorbei und richteten sich auf Jons. »Geh hinein!« sagte sie und trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen. »Nimm die Hand fort!«

Er hielt noch immer Erdmuthes Hand, und er ließ sie nicht los. Er schüttelte nur den Kopf, und ein harter, nie gesehener Ausdruck trat in sein junges Gesicht.

»Nimm die Hand fort!« wiederholte sie leise, aber er sah ihr furchtlos in die Augen. Sein Gesicht war weiß geworden, und zwischen seinen Augen erschienen die beiden tiefen Falten, die sie kannte.

Sie schlug zu, rasch und genau wie immer, aber es war, als habe sie auf einen Stein geschlagen. Die roten Abbilder ihrer Finger wuchsen langsam aus seiner weißen Haut heraus, und sie starrte auf sie nieder wie auf ein Mal.

Erdmuthe weinte. »Frau Mutter«, schluchzte sie, »haben Sie Erbarmen ... nur so lange, bis es geboren ist ...«

Jetzt erst sah Frau Marthe sie an, vom Kopf bis zu den Füßen, und dann blieben ihre Augen auf ihrem Leibe liegen. »Ich habe sieben Kinder geboren und nicht acht«, sagte sie langsam. »Ich habe sie in Ehren geboren und nicht im Graben. Auch bin ich gelehrt worden, daß jede Hündin in ihrer Hütte wirft.«

Jons riß die Hand des Mädchens so herum, daß es schwankte. Dann drehte er sich um und führte sie langsam durch das Tor. Sie gingen die Dorfstraße hinunter, wo Männer, Frauen und Kinder still vor ihren Türen standen, Erdmuthe weinend, Jons gerade, mit starren Schultern, während er das Feuermal auf seiner Wange brennen fühlte.

Er führte sie nicht zur »Armen Sünde«, sondern aus dem Dorf hinaus, wo der Waldsteig zum Meiler lief. »Zum Vater«, sagte er, »du mußt zum Vater kommen und bei ihm bleiben, bis Michael kommt.«

Sie gehorchte still. Die hohen Fichten sahen ihr anders aus als hinter der »Armen Sünde«. Niemand stand halb verborgen an ihrem Stamm, und ihr dunkles Grün und das leise Sausen der Wipfel war voller Trost und ohne Gefahr. Sie waren Jakobs Reich, und Jakob war so voller Milde und Güte wie ein stiller Herbst. Er würde nicht schlagen. Er würde kaum sprechen, aber seine traurigen Augen waren ein gutes Bett für allen Gram. Wenige Männer waren wie er, und doch hatte er kein Glück an seinem Herde behalten. Er lebte im Walde, und niemand im Dorf war so allein wie er, nicht einmal der Großvater und nicht einmal sie.

Ja, Jakob richtete ihr sofort sein Lager. Er würde eine neue Hütte bauen, ganz klein, und Jons würde ihm helfen. Er blickte eine Weile auf das Mal, das immer noch auf Jons' Wange brannte, aber er fragte nicht. Er fragte auch nicht, wovor sie sich fürchte in der »Armen Sünde«. Er blieb noch eine Weile stehen und starrte auf den Meiler, als seien sie nicht da. Sie waren in das Tor gegangen in seinem schweren Traum, lautlos, gehorsam, still. Männer und Frauen, aber er hatte ihre Gesichter nicht gesehen. Er hatte nicht einmal gewußt, ob sie seines Blutes waren. Auch war es schwer zu wissen, wieviel von seinem Blut in seinen Kindern floß. Die Frau hatte es überströmt mit ihrem eigenen Leben, dieselbe Frau, die seinen Sohn gezeichnet hatte. Aber es war gut, daß sie zu ihm kamen, wenn der Hagel »den Wald hinab« ging, Maria, Erdmuthe und auch hin und wieder das Kind, das die Flöte zuletzt gehört hatte. In der Stadt würden sie spotten oder Böses denken, aber im Dorf spotteten sie nicht. Nicht über ihn. Zu etwas war ihr Leben doch nütze gewesen, das des Großvaters und das seinige.

Ja, Michael hatte recht getan. Ein sanftes Blut zu seinem wilden. Er wollte nichts fragen, auch nicht nach ihrer Angst. Nur zu dem, der nicht fragte, kamen alle Geheimnisse. Bald würde Michael wiederkommen, dann würde er den kleinen Hof verschreiben und ganz zum Meiler ziehen. Auch Frauen mußten sich einmal beugen.

Er stand, auf seine Stange gelehnt, und blickte in den Wald. Wenn die Träume kamen, war es Zeit, die Rechnung abzuschließen. Es war nicht viel, was er vor sich gebracht hatte, aber es waren sieben Kinder da, und wenn nur eines das Senfkorn war, dann würde der Baum wachsen. Jons war geschlagen worden, aber manchmal kam es vor, daß ein Kind von einem einzigen Schlage reif wurde, über Nacht. Gott lenkte nicht nur mit Psaltern und Verheißungen.

Später rief Erdmuthe ihn an ihr Lager und erzählte alles, was auf ihrem Herzen lag. Vom Stiefvater, von der Flöte im »Paradies« und von dem Czwallinnasohn, der seine Rache nahm. Und daß Michael es niemals wissen dürfe.

Er hörte ihr zu, und es war viel für sein stilles Leben. »So junge Schultern«, sagte er nur und streichelte sie. »Sei still ... sei ganz still ...«

Aber als sie eingeschlafen war und Maria gekommen war, machte er sich leise davon, in den tiefen Wald, zu dem hohlen Baum, vor dem er einmal unter dem hellen Mond jemanden hatte stehen sehen. Er zog die Büchsflinte aus dem trocknen Laub hervor, ließ sie in ihrer Umhüllung und vergrub sie dicht am Meiler.

Am Abend schon legte er dem Taternsohn die Hand von hinten auf die Schulter. »Ich bin es nur«, sagte er still. »Wenn Michael es wäre, würde es schlecht um dich stehen, und zwei Söhne hat dein Vater ja nur. Aber du kannst nun an deinen Baum gehen und die Büchsflinte suchen. Ich sehe viel im Wald, weil ich hier lebe, und ich werde gern Zeugnis ablegen, wenn ich dich hier noch einmal stehen sehe, hörst du?«

»Was du bezeugen wirst, bringt mir ein paar Monate ein«, sagte der andere, »dies aber« – und er wies mit der Hand auf die Hütte – »dauert lange ... so lange, wie der Bruder im Zuchthaus sitzt.« Seine Mundwinkel verzogen sich, bevor er langsam im Gebüsch verschwand.

›Er geht wie ein Wolf‹, dachte Jakob und blickte noch lange auf die Stelle, wo die Fichtenäste sich leise bewegten.

Zur selben Zeit setzte Glumsda den Stempel auf den Brief, den Jons an den Unteroffizier Michael Jeromin geschrieben hatte. Er ließ ihn noch eine Weile auf dem Tisch liegen, ehe er ihn zu den andern schob, und sah den runden, sauberen Stempel und die klaren, geraden Schriftzüge an. Er wußte nach vierzig Dienstjahren, ob es mit einem Brief eine besondere Bewandtnis hatte. Jons hatte ihn hinter dem Dorf erwartet, und schon von seinem Gesicht war abzulesen gewesen, daß es kein gewöhnlicher Brief war. »Wird besorgt, Herr Student«, hatte er gesagt, aber seine große, schwere Hand zögerte einen Augenblick, ehe er den nächsten unter den Stempel legte.

Jons wußte noch nichts von Briefen und von der gefährlichen, weit hinausreichenden Macht, die in ihnen liegen kann. Er wußte nicht, daß ein Wort aus dem Besitz des Urhebers sich loslöste, sobald seine Züge ein Papier bedeckt hatten und auf die Reise gegangen waren. Alle Möglichkeiten der Änderung waren ihm nun versagt, der Abwandlung durch Ton und Melodie, der Wechsel zwischen Güte und Bitterkeit. Es stand da als ein Unveränderliches, und dem Lesenden war anheimgegeben, ihm seinen Sinn unterzulegen. Es konnte nicht zurückgenommen werden, es war wie ein Pfeil, der die Sehne verlassen hatte, die lebende Spitze in ein anderes Herz gerichtet.

Es stand nichts in dem Brief, als daß Michael kommen möge. Erdmuthe sei beim Vater am Meiler und sie habe angst. Aber niemand wisse, wovor, und die Mutter habe sie nicht über die Schwelle gelassen.

Es war alles, wie es sich verhielt und wie es sich ihm darstellte. Aber für Michael war es mehr als der Inhalt dieser Worte. Für ihn stieg eine ganze Welt der Bedrohung und Gefahr aus diesen wenigen Worten. Sie schoß wie eine Gewitterwand über den flammenden Horizont und lag mit böse glänzenden Rändern über seinem Bewußtsein. Niemals würde Erdmuthe ohne Not die »Arme Sünde« verlassen, niemals Einlaß in das väterliche Haus begehrt haben, wenn nicht etwas wie der Tod sie dazu getrieben hätte. Er wußte nicht, was es war, aber er wußte, daß zur Zeit der Roggenernte sein Kind geboren werden sollte.

Michaels Leben war nicht in die Breite gegangen, es war das engste aller Jerominkinder. Aber in dieser Enge hing es mit Leidenschaft an dem wenigen, was es erkannt hatte: an seinem Acker und an diesem Mädchen, das der Tod schon gestreift hatte und das ihm süß und sanft war wie ein schutzloses Kind. Die Mutter hatte ihn geschlagen, als er jung und ungebärdig gewesen war, und alle Liebe war ihm in Bitterkeit und Haß verwandelt worden. Alle Schwere ihres Blutes lag wie ein dunkler Bodensatz auf dem Grunde seines Herzens, und es machte sein Leben nicht froher, daß die tiefe Güte seines Vaters in ihn eingeschlossen war, aber wie ein schamvolles Geheimnis, das man erst mit dem Tode enthüllen konnte. Er hatte niemals anders gelebt als in einer Rüstung, das Eisen selbst vor die Augen niedergeschlagen. Niemand wußte, was er dachte, was ihn freute oder ängstigte. Pferde waren ihm lieb und Menschen eine Last. Der Gang hinter dem Pfluge war ihm wie ein Feiertag und jede Straße einer Stadt eine schreckliche Verzerrung des Lebendigen.

Er hatte von früh auf an seinen Tod gedacht, schon als Herr Stilling ihn dazu ausersehen hatte, wieder ein Licht über das arme Dorf zu erheben. Es hatte ihn verwundert, daß es den Bruder zuerst getroffen hatte, und er war der Meinung, daß auch der Tod sich also irren könne. Erst als Erdmuthe ihm ihr Leben geschenkt hatte, war er stiller geworden, und das Finstere seines Wesens hatte sich zu einem schweren Ernst gemildert. Er begehrte nicht mehr als ein Stück Land und ein Kind, für das er pflügen und säen könnte.

Es war ihm nicht leicht geworden, die Uniform zu tragen und zu sein wie hundert andere. Er war ein Mensch, der für sich war, und drei Jahre mußte er nun aufhören, für sich zu sein. Er hatte sich niemals Gedanken über das Land oder den Kaiser oder den Krieg gemacht. Wer für den Pflug geboren war, dachte an die Saat, die Sonne, den Regen oder den Hagelschlag. Er sah auf die Erde nieder, und die Erde wußte nichts von Macht oder Neid. Sie wollte bestellt sein, sie wollte Liebe haben, die man an sie wendete, und Fleiß, der keinem Stein aus dem Wege ging. Um den Acker standen die Grenzsteine, und es kam nicht vor, daß jemand sie versetzte, um einen größeren Acker zu haben. Die Gesetze des Ackers waren schwerer zu brechen als die der Staaten, und man brauchte kein Heer aufzustellen, um Nachbar vor Nachbar zu schützen.

Aber der Großvater war Soldat gewesen und der Vater auch. Er wußte nicht, was sie dabei gedacht haben mochten. Sie hatten ihre Pflicht getan und sprachen nicht darüber. Viele Jeromins lagen in fremder Erde, ein verfallenes Kreuz über ihrem Hügel, und manchmal war die Rede von ihnen, still und voller Achtung, aber ohne Freude oder Bedauern, daß sie nicht gefischt oder gepflügt hatten, sondern daß ein fremder Acker ihr Blut getrunken hatte. Auch sie mochten manche Nacht »an der Mauer« gestanden haben, wie Jakob zu Jons gesagt hatte, aber sie waren nicht hinübergestiegen. Sie hatten einen Eid geschworen, und Gott hatte ihnen zugehört.

Auch Michael hatte an der Mauer gestanden, am meisten im Frühjahr, wenn ein leiser Regen fiel und aus der Erde rings um die Kaserne der starke, bittere Geruch emporstieg. Es rief ihn mit tausend Stimmen, aber er gehorchte nicht. Er preßte die Hand um den Griff seines Säbels, wenn er auf Wache stand, als sei es der Griff eines Pfluges, und wenn er an der Mauer auf und ab ging, die vorgeschriebene Bahn, versuchte er so zu gehen, wie man es hinter dem Pfluge tat. Es war dann leichter und ging vorüber.

Die Menschen machten ihm keine Freude, aber die Pferde trösteten ihn. Er war ein guter Soldat, ernst, wachsam, von einer fast strengen Würde, und bald der beste Reiter der Schwadron. Aber er lächelte niemals, und kein Scherz wagte sich an ihn heran. Es ging nicht sanft zu bei der Kavallerie, und einmal hatte der Berittführer im Zorn die Hand gegen ihn gehoben wie gegen soviel andere. Aber er hatte nicht zugeschlagen. Er hatte eine kalte, gefährliche Flamme in Michaels Augen gesehen und war einen Schritt zurückgetreten. »Sieh mal an«, hatte er langsam gesagt, »hast du Mörderaugen, was?« Aber Michael hatte über ihn hinweg geantwortet, daß ihm nichts davon bekannt sei.

Auch hatte er sich geweigert, Bursche bei dem jungen Oberleutnant zu werden. Er blieb für sich, ohne Kameraden, ohne Mädchen, und sobald er Urlaub hatte, ging er auf die Felder hinaus und blickte über die Äcker hinweg nach Süden, wo das Dorf inmitten der Wälder liegen mochte.

Es wurde nicht anders mit ihm, als er Erdmuthe gefunden hatte, auch nicht, als er sie erkannt hatte. Er begehrte sie, aber er begehrte noch tiefer das Kind, das sie trug. Um des Kindes willen hätte er jede Mauer überstiegen, nicht aber um ihretwillen. Es war, als fühlte er, daß der Tod ihn nur besiegen würde, wenn das Kind nicht da wäre. Wenn das Kind geboren war, hatte es keine Wichtigkeit, ob er lebte oder nicht. Das bäuerliche Blut in ihm verlangte nicht nach Glück oder Genuß, sondern nur nach der Gewähr der Zukunft. Es mußte etwas übrigbleiben, was das Kommende an ihn band und ihm verbürgte. Der Acker durfte nicht brach bleiben. Und diese Bürgschaft gab nur ein Kind, ein Sohn, der in derselben Furche gehen würde wie er. Um ein Mädchen konnte man sich sorgen, aber man brauchte nicht Angst zu haben. Sobald es gesegnet war, stand es unter dem Schutz der Erde, auf kein anderes Ziel gerichtet als auf das kommende Kind. Aber um dieses mußte man Angst haben, bis der erste Schrei an das Licht gekommen war. Die große Angst des Geschlechtes, das nicht untergehen wollte, solange noch ein Stück Land unter seinen Händen war.

Was wußte Jons davon, als er seinen Brief schrieb? Er wußte von Briefen so wenig wie von Kindern, und auch von seinem großen Bruder wußte er nicht mehr, als daß er ein schweres Leben hatte, das schwerste von ihnen allen. Er kannte es nicht anders, als daß jemand kam, wenn er zu einer Not gerufen wurde, und für ihn war es selbstverständlich, daß ein Soldat Urlaub bekam, wenn seine junge Frau sich fürchtete.

Aber Michael bekam keinen Urlaub. Die Manöver standen vor der Tür, und sein Schwadronschef war abkommandiert. Ein Oberleutnant vertrat ihn, und es war derselbe, bei dem er nicht hatte Bursche werden wollen. »Urlaub? Wohl Sonnenstich bekommen, was? Ausgeschlossen! Abmarsch!«

Es gehe nicht um ihn, sagte Michael mühsam. Sein Kind sei in Gefahr.

»Kind? Kind? Dragoner sind keine Kindermädchen, sondern Soldaten. Verstanden? Was fehlt dem Kind?«

Das Kind sei noch nicht geboren, erwiderte Michael leise.

Der Oberleutnant starrte ihn an. »Hören Sie mal«, sagte er endlich, »mir scheint, Sie haben einen Vogel, Unteroffizier, was? Embryonenurlaub gibts nicht mal im Kriege. Kehrt marsch!«

Michael ging mit weißem Gesicht aus der Tür. Er bekam außer der Reihe die Stallwache, zog sich in der Futterkammer um und stieg bei beginnender Nacht über die Mauer. Er erreichte den letzten Zug und war nach Mitternacht schon unterwegs auf der stillen Waldstraße, den halben Mond über sich und seinen Schatten vor den Füßen. Wenn er gesehen hatte, wie alles stand, konnte er vor dem nächsten Abend schon wieder zurück sein und sich zur Bestrafung melden. Strafe war bitter, aber ohne Kind sein war mehr als Bitterkeit.

Er dachte nicht zurück, sondern nur an das Kommende. Er hatte niemals viel gedacht. Sein Blut wies ihm seinen Weg, und er gehorchte. Der Weg führte zur Erde und zu dem in der Ferne erscheinenden Ziel, daß er mehr Erde haben müsse als der Vater oder viele andere, weil er die Erde lieber hatte und sie seine Mühe besser vergalt. Und wer mehr Erde hatte, mußte Kinder haben. Alles andere würde von selber kommen, aber dies beides mußte man festhalten, damit es nicht entglitt. Und wenn man ihn hinderte, es zu halten, mußte er die Faust brauchen, gleichviel gegen wen. Hier war das Recht, das mit ihm geboren war, das oberste und letzte Recht, und alles andere war Menschensatzung und Papier. Wer gegen Menschensatzung verstieß, konnte bestraft werden und mußte es wohl auch, aber wer gegen das letzte Recht verstieß, sündigte gegen das Geschlecht und gegen die Erde. Er würde nicht bestraft, sondern ausgestoßen, ein ungetreuer Knecht, der nicht wert war, daß der Acker ihn trug.

Er wartete bis zur Morgendämmerung und bis er den Vater am Meiler stehen sah. Jakob war erschrocken, aber auch jetzt fragte er nicht. Nein, er wisse nichts. Angst sei da, viel Angst, aber so seien junge Frauen, und er werde die Augen schon offenhalten. Auch Erdmuthe sagte nichts. Sie war viel zu beseligt, um sprechen zu können, und sie hatte auch Schmerzen.

Aber Jons ahnte etwas. Er hatte den Vater etwas vergraben sehen, und Erdmuthe hatte ihn hin und wieder hinausgeschickt, um zu sehen, ob einer unter den Bäumen stehe. Niemand stand da, aber er glaube, daß dies ihre Angst sei.

Auch Michael fragte nicht. Er saß lange auf der Schwelle und dachte nach, und erst um die Mittagszeit, als er an den Rückweg denken mußte, grub er mit Jons das Gewehr aus. Er nahm es aus seiner Hülle, aber er kannte es nicht. Beide Läufe waren geladen. Er stellte es neben die Schwelle hinter einen Fichtenast und wartete, bis Jakob aus dem Walde kam. Dann erfuhr er alles.

Der jähe Zorn der Mutter schoß in ihm auf, aber er hatte sich besser in der Gewalt. Er war nicht umsonst drei Jahre Soldat gewesen. Er stand auf der Schwelle, die finsteren Augen in den Wald gerichtet, und bedachte, wieviel Zeit ihm noch blieb, und auf welche Weise er abrechnen sollte. Und dabei sah er, wie der Wacholderstrauch sich bewegte und dahinter einen Schimmer wie von einem Helm, auf den die Sonne scheint.

Er erblaßte, aber er stand noch immer, ohne sich zu rühren, ›Es wird Korsanke sein‹, dachte er. ›Sie haben ihn ausgeschickt nach mir, der Oberleutnant. Aber mit ihm ist zu reden, und er wird mich gehen lassen. Ich will ja meine Strafe antreten.‹ Doch war ihm, als scheine die Sonne plötzlich fahler vom Himmel herab. Es fröstelte ihn zwischen den Schultern, und er drehte sich schnell nach Erdmuthe um. Aber sie schlief ruhig und lächelte im Schlaf. Ein Schmetterling saß innen an der kleinen Fensterscheibe und bewegte seine Flügel auf und ab. Er erkannte, daß es ein Pfauenauge war und meinte, noch niemals so genau die schimmernden Farben der großen Flecken gesehen zu haben, ihren Glanz, ihre Form und die schön geschwungene Linie der Flügelränder.

Dann kam Jons langsam vorbei, ein Stück Holz in den Händen, an dem er schnitzte. »Drei sind da«, flüsterte er. »Sie haben die Hütte umstellt ...«

›So‹, dachte Michael. ›Was für ein Aufhebens sie machen ... aber es ist schlecht, daß es nicht Korsanke allein ist ...‹ »Kommt schon heran!« rief er laut. »Ich laufe euch nicht weg.«

Der Beamte trat hinter dem Wacholder hervor, den Karabiner in den Händen. Es war ein junger Mann, und Michael hatte ihn noch nie gesehen. ›Wie gegen einen Wolf‹, dachte er erbittert.

Auch Korsanke kam nun rechts aus den Fichten heraus. Aber er hatte keinen Karabiner, und sein rundes Gesicht war bekümmert. »Es ist alles Unsinn, Michael«, sagte er. »Ich weiß, daß du nichts Schlimmes vorhast, aber wir sollen dich holen. Es ist eine Depesche gekommen, und der Landrat hat getan, als ob ein ganzes Regiment meutert. Komm nur ruhig mit, wir wollen versuchen, es unauffällig abzumachen.«

Michael nickte, aber seine Augen waren noch immer bei dem Fremden, der den Karabiner hielt. Es war noch eine Warnung in dem dunkelgrünen Licht, das zwischen den Bäumen hing, etwas, was er nicht verstand, aber was ihn immer noch auf der Schwelle hielt.

Und dann erblickte er plötzlich das andere Gesicht, das unweit von dem jungen Beamten wie eine fahle Scheibe zwischen den Buchenblättern hing. Es war unbeweglich wie eine Maske, und nur der Mund war höhnisch verzogen unter dem hängenden Schnurrbart, aber er war in dieser Gebärde erstarrt, und das Ganze sah aus wie ein grinsender Zauber, den eine abergläubische Hand in die Äste gehängt hatte, über den Wechsel eines Tieres oder den Steig eines Menschen etwa, um ihren Fuß zu bannen und den Tod in ihre Spur zu legen.

Der Ast, der sich über der Maske bewegt hatte, war noch nicht zur Ruhe gekommen, als Michael schon alles begriffen hatte: Erdmuthens Angst, das vergrabene Gewehr und daß Jons hinausgehen sollte, um zu sehen, ob dort »einer« stehe. Auch des toten Bruders Gesicht sah er deutlich in dem dunkelgrünen Licht. Er dachte nicht nach, er sah, was geschehen war und nach seiner Verhaftung geschehen würde, wie ein Bild mit scharfen Linien vor sich, so deutlich, wie er den Schmetterling gesehen hatte, und ohne einen Augenblick zu zögern, ja, ohne zu wissen, wieviel Augenblicke schon vergangen waren, seit er das Taterngesicht gesehen hatte, griff seine rechte Hand nach dem Gewehr hinter dem Fichtenast. Jemand schrie, wahrscheinlich war es Korsanke oder auch der Mann mit dem Karabiner. Jemand hob die Arme, und das war wahrscheinlich der Vater. Aber das geschah alles flüchtig und verschwommen, außerhalb seines Lebens. Was deutlich war und inmitten seines Lebens, war die Visierschiene über dem Gewehr, das mattsilberne Korn, das zwischen den Augen der Maske schimmerte, der Feuerstrahl, der in den Wald hineinschoß, und die hochgeworfenen Arme, die plötzlich zu beiden Seiten der Maske erschienen.

Er hörte nicht den Donner seines Schusses und nicht den eines zweiten. Er sah nicht das Feuer vor der Mündung des Karabiners, den der fremde Mann trug, und fühlte nicht den Schlag gegen seine Brust. Er sah nur zu, vorgebeugt, wie die bleiche Maske aus dem Buchenlaub herauskam, wie eine Scheibe, die dort aufgehängt gewesen war und deren Band man durchschnitten hatte, und die nun in das Moos stürzte, ein entzauberter Zauber, machtlos über Mutter und Kind.

Dann erst, beim ersten tiefen Aufatmen, fühlte er das Blut in seinem Munde und ließ sich langsam auf die Schwelle zurückgleiten. Der Vater kam, Korsanke, Jons, so viele Menschen mit verstörten Augen und Lippen, die sich bewegten. Aber er hörte nicht, was sie sprachen. Er sah durch einen sanften, farbigen Nebel, wie Korsanke drohend die Faust gegen den Mann mit dem Karabiner hob und wie dieser mit der Hand beschwörend auf seine eigene Brust deutete.

Michael schüttelte den Kopf, langsam, weil er so schwer war, aber doch sichtbar, und mit den Fingern der linken Hand deutete er mühsam in das Buchenlaub. Jons beugte sich nahe über seine Lippen, und ihm flüsterte er mühsam zu: »Der Täter ... nicht der Mann dort ... der Täter ...«

Einen Augenblick starrte Jons ratlos in den Wald, aber dann begriff er alles. Er riß Korsanke mit sich, und sie fanden den Erschossenen, wo er vornübergestürzt war. Zwischen seinen schiefen Augen war die kleine dunkle Stelle, wo der Tod eingetreten war.

Sie standen nun in völliger Verstörung, am meisten der Mann mit dem Karabiner. Keiner von ihnen hatte gemerkt, daß noch ein anderes Gesicht neben ihnen gewesen war.

Michael starb langsam, und während der ganzen Zeit sprach er kein Wort. Er lag mit dem Kopf auf der Schwelle, und so wollte er bleiben. Er hatte nichts mehr zu sagen, seit man den Toten gefunden hatte, aber ab und zu machte er Jons ein Zeichen mit den Augenlidern, und Jons verstand ihn. Dann ging er über die Schwelle in die Hütte und kam gleich wieder zurück. »Der Vater und Korsanke sind bei ihr«, flüsterte er. »Alles ist gut.«

Dann kam die Frau von Michael Gogun durch den Wald gelaufen, und eine Weile später hörte Michael den ersten Schrei seines Kindes. Er lächelte und streckte sich langsam aus. »Ein Knabe, Michael«, sagte Jakob und kniete neben ihm nieder.

Die Augen des Sterbenden sahen ihn ruhig an, ohne Angst, ja, ohne einen Wunsch. So stille, ruhige Augen, wie Michael sie niemals im Leben gehabt hatte.

Sie veränderten sich auch nicht, als die Mutter neben seinen Füßen stand, aber sie wendeten sich langsam ab, Jons zu, und bei diesem blieben sie nun, bis er starb.

»Bruder ... geliebter Bruder ... flüsterte Jons, aber er hörte ihn nicht mehr. Das helle Blut in seinen Mundwinkeln wurde schon hart, und die strengen Falten zwischen seinen Augen erloschen eine nach der andern.

Der Arzt kam, der Großvater, der Pfarrer, der Lehrer, das Dorf. Sie hoben den Toten auf und bekümmerten sich um die junge Mutter, die so still war wie ein Stein. Und während der ganzen Zeit stand Jakob vor dem Meiler und blickte auf das dunkle Tor, in das er sie hatte hineingehen sehen.

Als Agricola ihn leise an der Schulter berührte, drehte er sich um, sah die vielen Menschen vor der Hütte ihm entgegensehen, sah auch die Frau neben dem Pfarrer, das weiße Tuch um die Schulter, nahm mit vorsichtigen Fingern ihre kalte Hand, wie man die Hand eines Kindes nimmt, dem man den richtigen Weg weist, und sagte leise: »Du gehst wohl besser nach Hause.«

Er sah ihr nach, wie sie zwischen den hohen Fichten verschwand, im dunklen Kleid und so gerade, wie sie damals vor Jahren dort verschwunden war, als sie vom Markt gekommen war. Dann kehrte er sich um und ging nach der andern Seite in den Wald, und es war allen so, als werde er niemals mehr zurückkommen.

Es war seltsam, daß dieser Tod das Dorf viel schwerer traf als der des sanften, flötenspielenden Bruders. Michael war nie geliebt worden. Er hatte wie einer gelebt, der am Rande ihrer Gemeinschaft fremde Wege gegangen war, ein Zugezogener aus einer ganz unbekannten Welt. Aber nun, als die Schleier um seinen Tod sich langsam hoben, erkannten sie, wie sehr er ihresgleichen gewesen war, ja, daß niemand das dunkle und dumpfe Schicksal ihres ganzen Dorfes so getragen und vollendet hatte wie er. Friedrich war geliebt worden, aber er war ein Träumer gewesen, ein Rattenfänger, der die Flöte spielte, aber der niemals einen Pflug gehalten oder ein Kind begehrt hatte. Er war wie ein Stern über den Himmel des Dorfes gezogen, und eines Nachts war er in einer glühenden, schnurgeraden Bahn in das ewige Dunkel hinabgeschossen.

Michael aber hatte niemals etwas anderes begehrt als ein Stück Land und ein Kind zum Ernten dieses Landes. Was sie alle begehrten, ohne es immer zu wissen. Er hatte seinen Dienst nicht verlassen, um eine Flöte spielen zu hören oder bei einem Mädchen zu liegen, sondern weil er Angst um sein Kind gehabt hatte. Und um dieses Kindes willen hatte er getötet, mit Recht getötet, wie jedermann im Dorfe glaubte. Der Staat aber hatte – und auch dieses sagte jedermann – geglaubt, daß sein Recht größer sei als das eines armen Mannes. Daß er, auch um ein Kind zu retten, keinen Urlaub geben müsse und daß eher ein Kind mit seiner Mutter verderben könne, als daß ein Satz seines Rechtes verderben dürfe. Und so hatte er Depeschen und Gendarmen ausgeschickt, und einer von ihnen, in der Meinung, daß sein Leben in Gefahr sei und mit ihm das Leben des Staates, hatte geschossen. Er würde nicht so schnell geschossen haben, wenn dort auf der Schwelle ein Oberleutnant oder ein Landrat gestanden hätte. Er würde gezögert und an dem Singen der Kugel gehört haben, daß sie nicht nach seinem Leben zielte. Wer ein Jäger ist, kann schnell und ohne Bedenken auf ein wildes Kaninchen schießen, aber nicht auf einen Edelhirsch. Und die armen Leute aus den Walddörfern sind keine Edelhirsche. Sie sind scheu und wild wie die grauen Kaninchen, und sie haben auch ebenso viele Kinder. Es ist kein sehr großes, kein unheilbares Unglück, wenn eines von ihnen getroffen wird, und nachher stellt sich heraus, daß es im Übereifer gewesen ist. Auch die Übereifrigen sind Diener des Staates.

So sprach das Dorf, und der Herr von Balk, der zugegen war, als man den Toten abholte, fragte den Gendarmen mit dem Karabiner, ob es überall so billige Jagd gebe wie hier um den Meiler herum. Es müsse schön sein, wenn auf dem staatlichen Jagdschein in der ersten Spalte »Hochwild« stehe und dazu »ohne Schonzeit«. Er saß in seinem Sattel, vornüber geneigt, und seine Worte fielen so auf den Angesprochenen herab, als speie er sie ihm ins Gesicht.

Wieder wie zu den Zeiten, als Jons das Gleichnis vom Schalksknecht ausgelegt hatte, ging der Name des Dorfes Sowirog weithin durch die Provinz, weiter auch noch als durch den Kirchbau. Und nicht einmal der Tod war es, der den düstersten Hintergrund für Gespräche und Zeitungskämpfe abgab, sondern daß ein paar Schritte hinter dem Sterbenden ein junges Menschenkind, schon früh vom furchtbaren Schicksal gezeichnet, lautlos und wie vergessen das Große getan hatte, um das die ganze Tragödie gekreist hatte. Daß sie es vollendet hatte, ohne daß ein Blick oder Wort des Sterbenden zu ihr gegangen war, ganz allein, nur zwei fremde, verstörte Männer neben sich, und daß der erste Schrei des Kindes den Sterbenden noch eingeholt habe, als seine Schuhriemen schon gelöst gewesen seien.

Es half ihnen allen nicht viel, nicht den Toten und nicht den Lebenden. Der Ruhm holt nicht die Toten ein, sondern nur ihre Namen und ihr Grab. Noch einmal kam Jakob mit Gogun aus der Kreisstadt gefahren, einen Sarg im Stroh des Wagens und gestempelte Papiere in den Händen. Er saß, wie er damals gesessen hatte, mit entblößtem Haupt und den Blick über die Köpfe der Pferde hinaus auf die stille Straße gerichtet, indes hinter ihnen der Staub aufstand und verging.

Diesmal war er zum Landrat geführt worden, und der Landrat hatte gesagt, er bedauere, daß hier eine die Pflicht wollende Hand zu schnell gewesen sei. Daß er es schmerzlich bedauere. Jakob hatte genickt und erwidert, die Hand sei das Geringste, wenn man einen Menschen erschlage. Die Hand gehorche nur, aber der Mörder stehe hinter der Hand. Und die Tasse, hatte er nach einer Weile hinzugesetzt, die Tasse, die der Kaiser geschenkt habe, sei nun wohl abgegolten. Eine Tasse und ein Menschenleben höben einander wohl auf, zumal wenn es nur das Leben eines Knechtes gewesen sei. Er hatte keine Antwort abgewartet und war hinausgegangen.

Hinten, im Stroh des Wagens, saß Jons wie damals und sah zu, wie der Staub über den Rädern aufstieg. Sein Gesicht hatte Augenblicke, in denen es aussah wie das eines alten Mannes, wie das eines Bruders von Jakob. Er fühlte, daß eine Tür hinter ihm zugefallen war und daß die Tür ohne einen Drücker war. Niemals mehr gab es durch sie einen Weg zurück. Hinter ihr lag, was der Konsistorialrat die Vorsehung nannte. Andere nannten es anders. Es gab tausend Namen für die gerechte Weltordnung. Vor ihm lag etwas, was er noch nicht benennen konnte. Es war wie der Staub unter seinen Füßen, und ab und zu sah man ein Stück des Geleises. Das war alles. Und Pferdehufe stampften darüber hin.

Herr Stilling sprach den Segen über den Toten. Er erzählte, was niemand wußte. Wie er einmal vor langen Jahren mit dem Toten am Rande des Moores gesessen habe, um ihm einen Weg in das Leben anzubieten, und wie der Tote es abgeschlagen habe. Daß er sich einen frühen Tod erwarte und daß er ihn auf der Heimaterde bestehen möchte. So sei es gekommen, so habe es sich erfüllt. Und nur um eines möchte er alle bitten, die um dieses Grab ständen: daß sie es an diesem frühen Sterben genug sein lassen und sich nicht bücken möchten, um Steine aufzuheben. Es sei kein Mangel an Steinen in dieser armen Landschaft, aber vielleicht gebe es ab und zu einen Mangel an Barmherzigkeit. Wenn der Tod zuschlage, treffe er nicht nur den Toten, sondern viele. Den einen erschlage er, aber die anderen zeichne er. Es sei nicht nötig, nachzuzeichnen, was er vorgezeichnet habe. Und endlich: wo ein Kind übriggeblieben sei, habe der Tod nicht gesiegt. Er habe gewonnen, aber nicht gesiegt.

Der Schulze nahm Erdmuthe und das Kind in sein Haus. Noch immer neideten sie ihm seine Taler, aber sie blieben doch hinter den Fliederbüschen des Gartenzaunes stehen und sahen zu, wie er über der Wiege stand, wenn sie sie in die Sonne getragen hatten, ein Mann mit einem steinernen Gesicht, über das die Schatten des Grames liefen, wie Wolkenschatten über ein abgeerntetes Feld.

Jons mähte den Roggen und fischte, wie er sich vorgenommen hatte, aber er brauchte es nicht mehr, um das Fieber aus dem Blute zu bringen, das er im Hause der Brockhusens empfangen hatte. Es gab kein Fieber in seinem Blut, nur eine eisige Kälte, die sein Herz zu umfangen strebte. Es begann ihm aufzugehen, was das Leben war, wenn es nicht von Kanzeln und Schulkathedern herab erklärt und verkündet wurde, und er erinnerte sich der Worte, die Agricola über dem Sarge Friedrichs gesprochen hatte: »Da lobte ich die Toten, die schon gestorben waren ...«

Er hatte Angst, zur Insel hinüberzurudern, von der man nur in der Nacht mitunter eine heisere, verlassene Stimme hören konnte, die traurige oder wilde Lieder sang. Wahrscheinlich saß der Sänger auf einem umgedrehten Boot, eine Flasche zu seinen Füßen, und sang zu den Sternen hinauf.

Aber zu seinem alten Lehrer ging er nun oft am Abend. Das Elternhaus war ihm wie ein Sarg, dessen Deckel aufgestellt war, um über ihm zuzuschlagen. Niemand wußte, ob die Mutter lebte. Sie ging umher, sie kochte, sie webte, aber es konnte ebensogut eine Tote sein, der man Kleider angezogen hatte und die von einer verborgenen Maschine lautlos angetrieben wurde.

Einmal, als Jons leise die Treppe zur Kammer hinauf schlich, um einen neuen Angelhaken zu holen, fand er die Tür nur angelehnt, und er sah die Mutter an der Wand sitzen, so gerade, als sei ihr Rücken an die Bretter angewachsen, und auf etwas niederblicken, das sie in den Händen hielt. Es war ein hölzernes Pferd, das Christean für Michael geschnitzt hatte, als sie noch klein gewesen waren, ein plumpes Wesen mit dünnen, steifen Beinen, glatt und glänzend geworden von den Händen, in denen der Tote es jahrelang getragen hatte. Sie blickte darauf nieder, und was Jons wie ein Schwert durchfuhr, war nicht der Anblick des Spielzeugs, sondern das Gesicht der Mutter. Eine erloschene Form, unter der einmal Leben geatmet haben mochte, einmal vor sehr langer Zeit, aber nun war das Leben fortgegangen und nur die Hülle war übriggeblieben, eine Samenkapsel, aufgesprungen und leer, und der Wind konnte sie tragen, wohin er wollte. Und Jons, wie ein Hellsichtiger, sah sich und die anderen Geschwister hinter dieser Hülle keimen und aufwachsen, sich regen und fortgehen, einer nach dem andern, und dieses zurücklassen: eine dünne Haut, über einen leeren Raum gespannt, mit eingesunkenen Augen und einem zusammengepreßten Mund, der den Schrei eines verlassenen Schmerzes in sich begrub.

»Manchmal denke ich, Herr Stilling«, sagte er am Abend, »ich sollte zurückkommen und beim Vater bleiben. Das andere läßt sich vielleicht einholen, was ich dort versäume, später einmal. Aber hier, der Vater, die Jahre, die ihm noch bleiben, das läßt sich nicht mehr einholen, wenn es vorbei ist.«

Aber Stilling schüttelte den Kopf. »Hast du jemals gemerkt, Jons, daß der Vater an sich denkt? Vielleicht denkt er nicht einmal an dich, sondern nur an das Dorf und die Armen. Vielleicht bist du nur ein Werkzeug für ihn, aber eines, in dem sein ganzes Leben beschlossen ist. Die anderen durften vielleicht sterben, aber das eine Werkzeug mußte bleiben. Solange steht er noch auf festem Grund, trotz allem. Erst wenn das Werkzeug zerbricht, ist für ihn alles umsonst gewesen. Noch denkt er, daß trotzdem Gott dahinterstehen könnte – und wir selbst wissen es ja auch nicht –, aber wenn das Werkzeug zerbricht, ist alles ein Unsinn für ihn gewesen. Möchtest du einem Mann wie deinem Vater das letzte Stück Brot nehmen, Jons?«

»Hoffart und Eitelkeit«, sagte Schwester Elise, und die Schatten ihrer Stricknadeln glitten wie große Spinnenfüße über die Wand. »Nimm einen Pflug und eine Axt in die Hand, Jons, damit du dein Brot selbst backen und dein Bett selbst zimmern kannst. Sieh ihn an, diesen hier, was er in seinem Leben vor sich gebracht hat. Drei Wandtafeln und ein Faß rote Tinte hat er verbraucht. Motten und Rost, und ich weiß nicht genau, was Gott der Herr zu ihm sagen wird, wenn er einmal anklopfen sollte.«

»Aber ich weiß es, Tante Elise«, sagte Jons.

Aber sie zuckte nur mit ihren verwachsenen Schultern. »Ihr armen Heiden ...«, sagte sie nachsichtig.

Einmal, am Ende der Ferien, fuhr Jons zur Insel hinüber, um sich vom Pfarrer zu verabschieden. Er hatte sich gefürchtet davor, daß Agricola viel sprechen würde und auch das letzte noch mit seinem Zorn auflösen, was er sich mühsam im Innern bewahrt hatte. Er hatte das dunkle Gefühl, daß er noch zu jung sei, um alles hinter sich zu werfen. Wenigstens ein paar Splitter seiner Jugendsterne wollte er noch aufheben, so wie die Mutter Michaels kleines Pferd aufgehoben hatte.

Aber der Pfarrer sprach nicht viel. Er saß auf der Schwelle, den grauen Kopf in die Hände gestützt, und blickte in den fallenden Abend. »Sei nur ruhig, Jons«, sagte er müde, »ich werde mich um den Vater schon kümmern und um einige, die es noch nötiger haben. Ganz erstorben bin ich ja noch nicht, und der Mensch ist immer noch lebendig geblieben für mich. Sei nur ruhig, sie haben breite Schultern hier. Sie haben tausend Jahre an Gottes Hand getragen, und sie haben sich langsam an seine Liebe gewöhnt.«

Erst als Jons wieder abfahren wollte und sie beide an den Booten standen, legte er seine Hand um Jons' Arm und beugte sich zu ihm. »Ich will dir etwas sagen, Jons«, sagte er leise, »was mir heute eingefallen ist. Sie haben ein falsches Lied gesungen an seinem Sarg, verstehst du? ›Wie wird's sein, wie wird's sein?‹, das paßt nicht für Michael. Er hat sehr gut gewußt, wie es sein wird. Aber ein anderes hätten sie singen müssen: ›Dann gehet leise, auf seine Weise, der liebe Herrgott durch den Wald.‹ Das hätten sie singen müssen, Jons. Denn er ist wieder einmal durch unsern Wald gegangen, unser lieber Herrgott, am Meiler damals, weißt du, und dabei ist ihm Michael unter die Füße gekommen, so wie uns eine Ameise unter die Füße kommt. Wir merken es nicht, und er hat es wahrscheinlich auch nicht gemerkt. ›Auf seine Weise ...‹, verstehst du, Jons? Wir begreifen es nur zu langsam, das ist es. Wir sind zu schwerfällig hier in seinem Herrgottswald, wir gehen ihm nicht schnell genug aus dem Wege, wenn er auf seine Weise ankommt, der liebe Herrgott ...«

Er lächelte ein verzerrtes Lächeln und schob das Boot mit Jons langsam in das tiefere Wasser.

Jons sah die Sterne unter seinem Boot und wie sie bei jedem Ruderschlag in goldene Splitter zerbrachen. Und es schien ihm, als bestehe auch das Leben des Pfarrers nun in nichts anderem als darin, zuzusehen, wie das goldene Bild seines Herrgottes unter seinen Händen in Splitter zerbrach.


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